Zarifa, Cyneric und Salia aus GorakDrei Meilen außerhalb der Hauptstadt des Fürstentums Gorak hatte Cyneric schlussendlich genug. Er konnte es nicht länger mitansehen.
“Zarifa,” sagte er zu der jungen Frau. “Bist du
wirklich schon einmal auf dem Rücken eines Pferdes gesessen?”
Zarifa, die vor ihm ritt, und verzweifelt versuchte, sich aufrecht im Sattel zu halten, gab ihm keine Antwort. Cyneric lenkte sein Reittier neben ihres und zwang sie so dazu, endlich Blickkontakt aufzubauen. Er versuchte, nicht allzu vorwurfsvoll auszusehen, doch ganz konnte er es sich nicht verkneifen. Denn Cyneric hatte es eilig, nach Gortharia zu kommen, wo ein weiterer, womöglich entscheidender Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner Tochter auf ihn wartete. Und Zarifa, die durch ihre fehlenden Reitkünste dafür sorgte, dass sie seit ihrem Aufbruch aus Gorak nur langsam vorangekommen waren, stand diesem Ziel nun im Wege.
Salia erlaubte sich ein untypisches Kichern. Das Mädchen war erneut aufgetaut und hatte ihre emotionslose Haltung aufgegeben, die sie in der Anwesenheit Rylthas oder Morrandirs stets innehatte. Doch Ryltha war vermutlich bereits in Gortharia angekommen und auch Morrandir war weit weg. Cyneric war froh darüber, denn die “echte” Salia gefiel ihm deutlich besser als die junge Frau namens Teréssa, die unter der Kontrolle der Schattenläufer stand.
Zarifa ließ die Schultern hängen, schien jedoch noch immer nicht bereit zu sein, die Scharade aufzugeben. “Ich weiß, wie man reitet,” gab sie trotzig zurück.
“Das sehe ich,” erwiderte Cyneric. “Dann hast du ja sicher nichts dagegen, wenn wir es ab sofort etwas schneller angehen lassen?” Er versetzte Zarifas Pferd einen Klaps auf das Hinterteil, und das Tier machte einen Satz vorwärts. Zarifa schrie auf und klammerte sich verzweifelt an den Hals des Pferdes, bis es eine halbe Meile weiter endlich anhielt und sich ein Büschel Gras vom Straßenrand genehmigte.
Cyneric und Salia schlossen grinsend zu ihr auf. Der Blick, den Zarifa den beiden zuwarf, war geradezu tödlich. “Ihr haltet euch wohl für die größten Witzbolde unter der Sonne,” giftete sie.
“Nun, hin und wieder macht Cyneric tatsächlich etwas, das mich zum Lachen bringt,” meinte Salia selbstzufrieden. “Gesteh’ es dir endlich ein, Zarifa. Du hast noch nie zuvor ein Pferd von oben gesehen.”
“Das macht nichts. Ich habe meiner Tochter das Reiten beigebracht, ich kann es auch dir beibringen,” bot Cyneric der jungen Frau an.
“Wie großzügig von dir,” antwortete Zarifa missmutig. “Ich bin aber nicht deine Tochter.”
“Komm. Steig aus dem Sattel und klettere auf Rynescéads Rücken. Er ist viel umgänglicher als dieser Ostling-Klepper, den Salia dir in Gorak ausgesucht hat,” meinte Cyneric. Rynescéad, sein rohirrischer Hengst, schnaubte bestätigend und warf Zarifa einen gutmütigen Blick zu.
“Ich weiß nicht recht. Er ist so... so groß.”
“Weil er ein Kriegsross ist,” erklärte Salia. “Er muss groß und kräftig sein, um bei einem Ansturm von Reitern maximalen Schaden anzurichten und einen schwer gerüsteten Reiter überhaupt tragen zu können.”
“Dein Gewicht wird er kaum spüren. Und er wird dich nicht fallen lassen, wenn ich ihn darum bitte. Solange du ihn nicht ärgerst, natürlich.” Cyneric lächelte.
Zarifa stieß einen entnervten Seufzer aus. Doch tatsächlich kletterte sie unbeholfen aus ihrem Sattel und ließ sich von Cyneric auf Rynescéads Rücken helfen. “Ich... schätze, wir beide könnten vorerst Freunde sein,” sagte sie unsicher zu dem Pferd. Rynescéad schlug mit dem Schweif und sagte nichts.
“Siehst du, er hat dich bereits ins Herz geschlossen,” meinte Cyneric. “Sonst lägst du bereits im Staub der Straße.”
“Sehr ermutigend, vielen Dank.”
Sie rasteten, nachdem sie bei Sonnenuntergang die Bergregion des Fürstentums Gorak hinter sich gelassen hatten und auf die Ebene zwischen Gortharia und dem Gebirge westlich des Meeres von Rhûn gekommen waren. Da sie damit rechneten, innerhalb zwei weiterer Tage in der Hauptstadt anzukommen, hatten sie nicht besonders viele Vorräte mitgenommen. Salia warf einen argwöhnischen Blick auf Zarifa, die beim Abendessen eine
sehr großzügige Portion verspeiste. Cyneric hielt die Schattenläuferin mit einem zur Vorsicht mahnenden Blick davon ab, etwas zu sagen. Zarifa sah noch immer einigermaßen abgemagert aus und hatte vermutlich lange keine vollwertigen Mahlzeiten bekommen. Cyneric und Salia hingegen waren wohlgenährt und würden es verkraften, bis zu ihrer Ankunft in Gortharia den Gürtel ein wenig enger zu schnallen.
Wie er Zarifa so beobachtet, fiel Cyneric auf, dass das Mädchen nun müde und geradezu abgelenkt zu sein schien. Sie beteiligte sich nicht an dem Gespräch, das er mit Salia über dies und das führte, und wirkte wie ausgewechselt. Am Mittag hatte sie noch mit den beiden gescherzt und sich angeregt unterhalten, doch offenbar waren ihre Gedanken nun zu den Dingen, die ihr zugestoßen waren geschweift. Cyneric war hin- und hergerissen, ob er mit ihr darüber sprechen sollte und rang sich schließlich dazu durch, eine Frage zu stellen.
“Alles in Ordnung mit dir, Zarifa?”
“Lass mich in Ruhe,” zischte sie aggressiv und wandte demonstrativ den Blick ab. Cyneric tat ihr den Gefallen.
In derselben Nacht fiel es ihm schwer, Schlaf zu finden. Während von Salia schon bald ein leises, regelmäßiges Schnarchen zu hören war, drangen von Zarifa, die etwas abseits lag, leise Geräusche zu ihm hinüber, die sich verdächtig nach Weinen anhörten.
Als er sich vorsichtig erhob, um nachzusehen, sagte Zarifa: “Nein, nein, ich will das nicht... fass mich nicht an, nein, verschwinde... lass mich in Ruhe...”
Sie musste im Schlaf gesprochen haben, denn ihre Stimme verlor sich in undeutlichen Geräuschen und Schniefen. Offenbar durchlebte sie im Schlaf eine ihrer traumatischen Erinnerungen. Cyneric war voller Mitleid für das Mädchen. Er wusste nicht, was er tun konnte, um Zarifas Leiden zu beenden.
Vermutlich kann nur die Zeit diese Wunden heilen, dachte er, während er trotz der Geräusche versuchte, einzuschlafen.
Am folgenden Tag kamen sie deutlich schneller voran. Die Schrecken der Nacht schienen für Zarifa vorerst vergessen zu sein und sie ließ sich von Rynescéad im raschen Trab entlang der breiten Straße tragen, die Gorak und Gortharia verband. Zu ihrer Linken war nun wieder das Meer von Rhûn aufgetaucht, das den Horizont mit seinem schier endlosen blauen Band verzierte. Es war kalt geworden, denn auch in Rhûn nahte nun der Winter. Über die flachen Ebenen zwischen Gortharia und den Braunen Landen strichen in dieser Jahreszeit oft tückische, kalte Winde, wie auch an jenem Tag. Unterhaltungen wurden beinahe unmöglich. So ritten sie schweigend hintereinander her, die Gesichter mit dicken Schals verhüllt, und hofften, dass der Wind ihren Ritt nicht allzu sehr verlangsamen würde. Die Windrichtung wechselte oft, sodass sie mal Gegen- und dann wieder Rückenwind hatten. Die Landschaft, die nur wenig Abwechslung bot, zog an Cyneric vorbei. Hier und da sah man vereinzelte Bäume oder kleine Erhebungen, doch bis auf diese Ausnahmen war das Land westlich von Gortharia erstaunlich flach und hauptsächlich von einem kurzen, bräunlichem Gras bewachsen.
Gegen Abend ließ der Wind endlich nach, und sie beschlossen, selbst nach Sonnenuntergang noch eine oder zwei Meilen weiterzureiten. Sie hatten bereits zwei Drittel des Weges hinter sich, doch Cyneric wollte gerne am Mittag des nächsten Tages in der Hauptstadt ankommen, um womöglich noch am selben Tag einen Blick in den geheimnisvollen Brunnen Anntírad zu werfen.
Salia durchschaute ihn beinahe sofort. Während der Mond als schmale Sichel hinter ihnen langsam aufging, lenkte sie ihr Pferd neben seines und sagte: “Dir ist hoffentlich bewusst, dass sich weder Ryltha noch Morrandir nach deinen Wünschen richten werden. Sie haben dir einen Blick in die Tiefen Anntírads versprochen, doch die Formulierung des Zeitraums “nach deiner Rückkehr aus Gorak” ist, nun, sehr dehnbar.”
Damit sprach sie nur Cynerics eigene Befürchtungen aus. Er traute den Schattenläufern nicht so sehr, wie er es sich wünschte, und eine leise Stimme in seinem Inneren sagte ihm schon länger, dass sie ihn nur für ihre selbstsüchtigen Zwecke gebrauchen und ihm die Belohnung verweigern würden. Aber... was würde sie davon abhalten, ihm einen so harmlosen Wunsch wie die Kenntnis über den Aufenthaltsort seiner Tochter zu verweigern? Fürchteten sie etwa, dass er sofort alles stehen und liegen lassen würde, und...
Ihm ging ein Licht auf.
Natürlich, dachte er und ärgerte sich über sich selbst.
Sie wissen, dass ich Rhûn verlassen werde, wenn ich weiß, wo mein kleines Mädchen ist. Und das wollen sie nicht, weil ich... nun, weil ich offenbar zu nützlich für sie geworden bin. Er warf Salia einen fragenden Blick zu, und fand seine Befürchtungen bestätigt.
“Ich glaube nicht, dass sie dir freiwillig zeigen werden, wo Déorwyn sich befindet,” sagte sie niedergeschlagen.
“Was habe ich nur an mir, das die Schattenläufer so dringend brauchen? Weshalb können sie mich nicht gehen lassen?”
“Ich wünschte, ich wüsste es, Cyneric,” erwiderte Salia. “Ich wünschte wirklich, ich würde alle Antworten kennen. Aber das tut niemand.”
“Nein, vermutlich nicht. Du hast recht,” gab er zu. “Als ich zum ersten Mal in den Brunnen blickte, zeigte er mir nur Eindrücke und Bilder meiner Tochter, und bestätigte mir somit, dass sie am Leben war. Sie sah älter aus, als an dem Tag, als ich den Fehler meines Lebens beging und meine Familie verließ. Doch ich glaube, dass Morrandir und Ryltha schon längst wussten, wo Déorwyn sich in jenem Moment aufhielt.”
“Wie sonst hätten sie dir garantieren können, dass sie nicht inzwischen gestorben ist?”
“Also war das, was ich im Brunnen sah, im Vornherein von den beiden festgelegt worden.”
Salia legte den Kopf schief. “Nein, so funktioniert es nicht. Ich glaube nicht, dass sie so große Kontrolle über das Wasser haben. Du hast gesehen, wo Déorwyn war, als du hineingeblickt hast, aber es war nur einer von vielen Eindrücken. Du wusstest nicht, welcher der neuste war. Ryltha und insbesondere Morrandir können so etwas unterscheiden. Doch sie haben es nicht getan, als du hineinblicktest.”
“Und werden es wohl auch diesmal nicht tun.”
“Ich fürchte, sie werden dir irgendwann notgedrungen einen Blick in den Brunnen gewähren, und dann wirst du wieder eine Vielzahl von Eindrücken und Bildern sehen. Und noch immer nicht wissen, wo du nach deiner Tochter suchen sollst. Dann werden sie dich auf das nächste Mal vertrösten. Und so weiter, und so fort.”
“Ich... ich muss es dennoch versuchen,” sagte Cyneric, der ratlos war und nicht wusste, wie er auf diese Enthüllung reagieren sollte. “Vielleicht... vielleicht, wenn ich genauer hinsehe, und mich konzentriere...”
“Ich weiß es nicht, Cyneric. Ich schätze, wir werden es sehen, wenn es soweit ist...”
Als sie am folgenden Mittag nur noch eine Meile von Gortharia entfernt waren und die rötlichen Mauern und die Silhouette des Königspalastes in der Ferne aufragten, fiel ihnen auf, dass auf der Straße deutlich mehr los war, als normal zu sein schien. Mehr Menschen als üblich schienen die Stadt verlassen zu wollen. Und aus den Gesprächsfetzen, die sie aufschnappten, reimten sie sich rasch zusammen, was der Grund dafür war.
“Die Schwarze Rose ist zerschlagen worden!” klagten einige Leute. “Wer wird nun eintreten für die Rechte der Armen?”
“Der König greift mit neuer Härte gegen Unruhestifter durch! Einige der Gehenkten waren gewiss unschuldig. Es ist nicht mehr sicher in Gortharia für uns,” sagten andere, die zwielichtiger aussahen.
“Die Goldröcke haben Blut geleckt! Schon bald werden die Straßen sich rot färben,” befürchteten wieder andere.
Öffentliche Hinrichtungen waren etwas, was Cyneric bislang fremd gewesen war. Er war froh, dass er dieses grausame Schauspiel verpasst hatte. Zarifa, die wieder schweigsam geworden war, schien glücklicherweise die meisten Ostling-Dialekte nicht zu verstehen. Nun würde Cyneric dafür sorgen müssen, dass Gortharia nicht den Tod des Mädchens bedeutete.
Als das Westtor der Stadt immer näher kam, musste er sich schließlich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte...
Cyneric, Zarifa und Salia nach Gortharia