Oronêl verließ Amrûns Zimmer und zog sanft die Tür hinter sich zu. Er musste hinunter vor die Stadt, um Celebithiel zu berichten, dass Amrûn nicht verletzt, sondern nur erschöpft war. Es hatte ihn aufgewühlt zu sehen, dass auch andere unter der Last der Jahre litten. Manches Mal hatte er sich schon gedacht, wieso er Mittelerde nicht einfach den Rücken kehrte, und in Frieden abseits des Bösen im Westen, jenseits des Meeres lebte. Doch er war noch nicht bereit dazu. Er wollte Mittelerde nicht kampflos aufgeben und dem Bösen überlassen.
Und da gibt es noch etwas anderes... Etwas, das in Valinor und nicht in Mittelerde liegt.Er hatte das Tor erreicht und durchschritt den leeren Torbogen, unter dem er noch vor wenigen Tagen mit dem Nazgûl gekämpft hatte.
Ich habe einen Nazgûl besiegt...Draußen auf den Feldern standen die Menschen in kleinen Grüppchen bei den aufgebahrten Gefallenen, um ihnen persönlich die letzte Ehre zu erweisen. Die ganze Stadt musste dort versammelt sein. Er hätte niemals den Mut aufgebracht, vor dieser Menge zu sprechen und ihnen Trost zu spenden, wie Celebithiel es getan hatte.
Oronêl ließ seinen Blick über das Feld schweifen, bis er Celebithiel erblickte, die neben Imrahil stand und sich leise mit ihm unterhielt. Er ging zu ihnen und sagt:"Amrûn geht es besser. Er ist nicht verletzt, sondern nur vor Erschöpfung ohnmächtig geworden, aber er ist bereits wieder erwacht. Es gibt keinen Grund zur Sorge, er wird wieder auf die Beine kommen."
Celebithiel lächelte erleichtert, schwieg aber, und Imrahil antwortete:"Ich danke euch, Oronêl Waldsohn, für diese gute Nachricht. Es hätte den Tag wahrlich seiner Freude beraubt, ihn jetzt noch, nach der Schlacht zu verlieren."
"Ich bin froh, dass wir zu den vielen Gefallenen nicht auch noch Amrûn zählen müssen, obwohl ich ihn dann nicht kennen und schätzen gelernt hätte.", erwiderte Oronêl.
"Ach, da fällt mir ein, mein Sohn Amrothos hat mir von euch berichtet, Oronêl. Er sagte, ihr hättet in der Schlacht neben ihm gekämpft."
"Das ist richtig. Dann lebt er also? Ist er verletzt?" Oronêl atmete erleichtert aus. Imrahil und auch Celebithiel lachten. "Du scheinst dir ernsthaft Sorgen um ihn gemacht zu haben", sagte Celebithiel, "obwohl du ihn gerade erst kennengelernt hattest."
"Ja, ich habe mir tatsächlich Sorgen gemacht. Doch dies ist nicht der Zeitpunkt, um diese Geschichte zu erzählen. Wenn wir etwas Ruhe haben, vielleicht. Doch sagt mir, Fürst Imrahil, wo ist euer Sohn?"
"Er steht dort drüben, mal wieder völlig allein. Er wollte allein den Gefallenen gedenken, doch geht ruhig zu ihm, es wird ihm nicht schaden, mit jemandem zu sprechen.", antwortete Imrahil, und zeigte in Richtung Stadt.
"Ich danke euch." Oronêl verneigte sich und nickte Celebithiel zum Abschied zu.
Wir müssen uns noch über diesen Ring unterhalten, ich muss sie etwas fragen...Als er sich Amrothos näherte, wandte dieser sich um, erblickte ihn, und ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus. "Oronêl von Lórinand! Hat es dich also nicht erwischt, mein elbischer Kampfgefährte." Mit diesen Worten kam Amrothos Oronêl die letzten Schritte entgegen und umfasste seinen Unterarm. Oronêl erwiderte den Griff und sagte: "Obwohl es nah dran war, bin ich wieder wohlauf und froh, dich wiederzusehen, Amrothos."
Er zögerte, doch dann fuhr er fort. "In der Schlacht hast du mich an einen guten Freund erinnert, den ich einst in der großen Schlacht auf der Dagorlad verlor. Ich hatte geschworen, ihn zu beschützen, doch ich versagte. Nun wollte ich das wiedergutmachen, in dem ich dich beschützen wollte. Als ich aber mit dem Nazgûl kämpfte, flüsterte er mir seine Lügen ein und erzählte, du seist in Gefahr, und ich müsse dich retten, anstatt mit ihm zu kämpfen. Aber nun weiß ich, dass er gelogen hat."
Amrothos schwieg einen Moment, schien mit sich zu kämpfen. Dann sagte er: "Er hat nicht gelogen. In dem Moment, als du und der Nazgûl kämpften, hatte mich ein Feind zu Boden geschlagen und wollte mir mit seinem Speer ein Ende setzen. Doch in diesem Moment kam mir Amrûn, der Gefährte der Herrin Celebithiel zu Hilfe, als er sie verteidigte. Dabei rammte er meinem Feind das Schwert durch den Körper und rettete mir so, unbewusst das Leben, aber ich bin ihm nicht weniger dankbar, als wenn es aus Absicht geschehen wäre. Doch komm, setzen wir uns."
Amrothos führte Oronêl zu einer Bank, die an der Mauer stand. Als sie sich gesetzt hatten, sagte er: "Ich bitte dich, Oronêl, erzähl mir ein wenig von dir. Ich möchte wissen, wer du bist."
Oronêl zögerte einen Moment, doch irgendetwas hatte dieser junge Mensch an sich, dass es ihm unmöglich machte, zu schweigen.
"Meine Mutter war Nellas von Doriath und mein Vater Ardir von den Falas, der von Lenwe abstammte. Sie beide wurden in Beleriand geboren und gehörten zum Volk der Sindar. Nach der Zerstörung Doriaths flohen sie nach Osten über die Blauen Berge und blieben schließlich in Lórinand, dass heute Lothlórien genannt wird. Dort wurde ich zu Anfang des Zweiten Zeitalters geboren, und wuchs in Frieden auf. Als die Zeit reif war, lehrten mich meine Eltern und die Waldelben Lórinands den Umgang mit Bogen und Axt sowie die Geschichte Mittelerdes. Nur wenig später segelten meine Eltern in den Westen. Es folgte eine einsame Zeit für mich, doch bald schloss ich eine enge Freundschaft mit Amdír, dem Führer der Waldelben, der wie ich ein Abkömmling Lenwes war."
Oronêl räusperte sich. So tief war er lange nicht mehr in die Vergangenheit eingetaucht, doch es tat gut, davon zu erzählen. Er sah Amrothos an, und sah in seinen Augen Erstaunen. "Du wunderst dich über mein Alter, nicht war, Menschenkind? Man sieht es den Elben nicht an, höchstens in ihren Augen. Denn auch wenn die Jahre keine körperlichen Spuren hinterlassen mögen, so hinterlassen sie doch tiefe Spuren in der Seele."
Oronêl dachte an das Gespräch mit Amrûn früher an diesem Tag zurück. Auch Amrûn hatte ihm sein Alter nicht angesehen, aber er hatte auch Amrûns wahres Alter nicht erwartet.
In gewisser Weise ist es doch ein Fluch, nicht zu altern..."In den Jahren, die wir friedlich in Wäldern Lóriens lebten, lernte ich Amdírs Cousine kennen, Calenwen. In meinen Augen war sie das schönste Wesen in Mittelerde, und ich bezweifelte, dass es auch jenseits der See etwas Schöneres geben sollte. Ich liebte sie so sehr, dass ich mich ihr nicht offenbaren konnte, ich fürchtete mich zurückgewiesen zu werden, und wollte meine Liebe in mir bewahren. Das einer der größten Fehler, die ich je gemacht habe, doch nach einigen Jahren, in denen ich ihr immer wieder auswich, wenn sie mit mir reden wollte, offenbarte sie mir ihre Liebe zu mir. Es war eine der glücklichsten Momente in meinem Leben, und mein Leben währt bereits unglaublich lange."
Eigentlich schon zu lange..."Bist du schon verheiratet, Amrothos?", fragte er. Amrothos wurde rot und schüttelte den Kopf, schwieg aber.
"Ah, ja. Ich verstehe.", fuhr Oronêl fort. "Nur wenig später heirateten wir, und nach Jahren der Ehe wurde unsere Tochter Mithrellas geboren."
Bei diesen Worten blickte Amrothos erstaunt auf, doch als Oronêl ihn fragend ansah, schüttelte er erneut den Kopf.
"Inzwischen hatte auch Amdír geheiratet, und im selben Jahr wie Mithrellas kam Amroth, sein Sohn zur Welt. Die beiden wurden Freunde, ebenso gute wie Amdír und ich. Doch bald darauf war die Zeit des Friedens vorbei, denn Sauron griff die freien Völker an, und Amdír und ich zogen aus, um Lórinand zu verteidigen. Von dieser Zeit werde ich dir jetzt nicht erzählen, denn in Zeiten des Krieges möchte ich lieber an Friedenszeiten zurückdenken.
Dieser Krieg endete erst über tausend Jahre später im Krieg des Letzten Bundes. Dort fiel Amdír, in der Schlacht auf der Dagorlad. Ich brachte ihn und unsere überlebenden Krieger nach Hause, und dort erwartete mich erst das schlimmste Übel dieses Krieges. Denn Calenwen und Amdírs Frau hatte versucht uns vom Fortgehen abzuhalten, und nun brachte ich Amdír tot nach Hause! Seine Frau gab mir die Schuld, und es kam zu einem Streit zwischen mir und ihr und Calenwen. In meiner Trauer und meinem Zorn lief ich davon, verließ Lórinand für ein paar Wochen, und als ich wiederkam, waren sie beide nach Westen gesegelt. So hatte ich nicht nur meinen Freund, sondern auch meine geliebte Frau verloren."
Oronêl stockte und verstummte, von Gefühlen, die er längst vergessen geglaubt hatte überwältigt. Amrothos stand auf und sagte: "Vielleicht lasse ich dich besser allein.", doch Oronêl zog ihn zurück auf die Bank.
"Nun wurde Amroth, Amdírs Sohn, Herr von Lórinand. Er hatte in kürzester Zeit Vater und Mutter verloren, und war nun auch noch der Herr des Landes. Ich wurde sein Berater, doch ich konnte ihm seine Familie schlecht ersetzen. Insgeheim hoffte ich, er würde bei Mithrellas Trost suchen, da sie gute Freunde waren, und ich glaube sie hoffte es auch. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass sie eines Tages heiraten würden, und hatte oft mit Amdír darüber gesprochen.
Doch statt Mithrellas trat Nimrodel in Amroths Leben und ersetzte ihm die Familie. Sie war eine Waldelbin die an der Nordgrenze lebte, und Amroth verliebte sich auf den ersten Blick in sie. Als die Zwerge ein uraltes Übel in Moria weckten und Orks umherzustreifen begannen, wollte er Nimrodel in den Westen bringen, damit sie sicher wäre, denn erst dann wollte sie ihn heiraten.
Ich begleitete ihn als sein Leibwächter, und Mithrellas wollte Nimrodel begleiten. Am Abend vor unserem Aufbruch hatte ich einen Streit mit ihr, denn ich wollte ihr verbieten, mitzugehen, da ich es als zu gefährlich erachtete. Doch am nächsten Morgen kam sie mit uns. Ich habe seitdem kein Wort mehr mit ihr gesprochen.
Als wir das weiße Gebirge erreichte, verirrten sich Nimrodel und Mithrellas in den Tälern und Schluchten, und ich machte mich auf die Suche nach ihnen, und schickte Amroth zum Hafen, um dort auf uns zu warten. Doch meine suche war vergeblich, und nach zwei Jahren kam ich zum Hafen, um Amroth zu berichten. Doch dort erfuhr ich, dass sein Schiff sich in einem Sturm losgerissen hatte, und er entweder in den Westen gefahren oder im Sturm ertrunken war. Daraufhin zog ich mich in die Grünen Berge zurück, denn ich war die Welt leid und hatte alles verloren, was mir teuer war.
Das war meine Geschichte, Amrothos von Dol Amroth, und nun erzähle du mir deine.", schloss Oronêl.
"Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich bin Amrothos aus dem Geschlecht Galadors, des Sohnes von Imrâzor und der Elbenfrau Mithrellas.", begann Amrothos.
Als Mithrellas' Name fiel, fuhr Oronêl zusammen. "Das ist ein wahrlich seltsamer Zufall, das deine elbische Ahnherrin ausgerechnet den Namen meiner Tochter trägt.", sagte er.
"Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist. Deine Tochter hat Amroth und Nimrodel nach Süden begleitet. Nun, das erzählen wir uns hier auch. Und deine Erzählung stimmt mit der Geschichte unseres Hauses überein. Es besteht kein Zweifel für mich: Deine Tochter und meine Ahnherrin sind ein und dieselbe Person. Damit bist du mein Vorfahr!" Amrothos umarmte ihn.
Vor Oronêls Augen verschwamm alles.
Wie konnte sie sich mit einem Menschen einlassen?In seinem Kopf hörte er Amdírs Stimme: "Von deinen Nachfahren wird man noch hören, wenn sich niemand mehr an mich erinnert, wenn du also heute sterben solltest, wird dein Blut noch lange fortbestehen!"
Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen, er fiel von der Bank und fühlte nur noch, wie Amrothos ihn auffing und sanft zu Boden gleiten ließ.
Oronêl zu Amrûn ins Lazarett