Mathan, Oronêl, Ardóneth, Mírwen, Celebithiel, Finelleth und Kerry vom Hohen PassEine unheimliche Stille lag über dem Tal des Anduin, wie Kerry fand. Bis auf einige Vögel begegneten der kleinen Gruppe keinerlei Lebewesen, während sie sich auf unwegsamen Pfaden durch die Wildnis zwischen Nebelgebirge und Düsterwald schlugen. Finelleth ging nach wie vor voraus und führte sie abseits der Straße, die am östlichen Ende des Hohen Passes begonnen hatte, mit jedem Schritt weiter auf ihre alte Heimat zu. Und je näher sie kamen, desto mehr fragte sich Kerry, was sie im Waldlandreich wohl vorfinden würden...
Mathan hatte Kerry viel zu früh am morgen geweckt (ihrer Meinung nach) und hatte darauf bestanden, einige Übungen mit ihr zu machen, was sie nach kurzem Protest schließlich auch eingesehen hatte. Denn die Wege von Vater und Tochter würden sich bald trennen.
"Bis vor die Tore von Thranduils Reich werde ich dich bringen," hatte Mathan gesagt, "doch dann wird mein Weg mich weiter nach Nordosten führen."
Kerry war froh, dass ihr Vater sie wenigstens noch bis an ihr Ziel begleiten würde, auch wenn er wohl die Hallen des Waldelbenkönigs selbst nicht betreten wollte. Doch immerhin würde er der Gruppe noch gegen die Gefahren des Düsterwalds beistehen.
Sie waren von den letzten Ausläufern des Nebelgebirges herunter gestiegen und ins flachere Gebiet gekommen, das zwischen Anduin und Hithaeglir lag. Die Bäume, zumeist robuste Kiefern und Tannen, waren stetig mehr und mehr geworden, bis sie schließlich von einem Wäldchen ins nächste gekommen waren. Die Luft roch anders als in der Wildnis von Eriador, fand Kerry. Sie besaß eine stärkere erdige Note, und war von etwas durchsetzt, das Kerry nicht sofort erkennen konnte, bis Oronêl stehen blieb und nach Süden blickte, wo zwischen den Bäumen eine Lücke war und freie Sicht in die Ferne bot.
"Rauch steigt im Süden auf," sagte der Waldelb leise.
Kerry kniff die Augen zusammen, doch sie konnte keine Rauchwolken erkennen.
Elbenaugen müsste man haben, dachte sie.
"Er wird dafür bezahlen," meinte Mathan grimmig und legte Oronêl eine Hand auf die Schulter. "Bald schon."
"Wovon sprecht ihr?" fragte Mírwen verwundert.
Als keiner der beiden Elben antwortete, sagte Celebithiel bedacht: "Der Rauch, der dort aufsteigt, kommt wahrscheinlich vom Goldenen Wald. Saruman fällt die Bäume, um seine Kriegsmaschinerie zu füttern."
Eine unangenehme Stille legte sich über die Gruppe. Kerry verstand ziemlich gut, wie Oronêl sich in jenem Moment fühlen musste. Denn so wie er hatte sie ebenfalls ihre Heimat durch plündernde Orks und durch die Flammen des Krieges verloren.
Nach einer langen Minute trat Finelleth zu Oronêl, und wisperte ihm leise, beruhigende Worte in der Sprache der Waldelben ins Ohr, die Kerry nicht verstand. Doch sie schienen Wirkung zu zeigen, denn Oronêls versteinerter Gesichtsausdruck schwand nach und nach, und er atmete lange und schwer aus, ehe er sich von dem Anblick im Süden losriss. Ohne ein weiteres Wort zu sagen setzte er sich mit Finelleth an die Spitze der Gruppe, und sie zogen rasch weiter.
Gegen Mittag ließen sie die kleinen Wäldchen hinter sich und kamen in ein Gebiet voller Wiesen, auf denen allerlei hohe Gräser und wilde Blumen wuchsen. Kerry staunte, denn nur selten hatte sie solch ungebändigte Schönheit gesehen. Im grünen Gras blitzten rote, violette und orangene Blüten auf, und der Geruch der Luft nahm einen lieblichen und wohlriechenden Ton an. Noch immer fiel das Land sanft in Richtung Osten ab, und sie kamen nun deutlich schneller voran als zuvor.
Nach einer kurzen Rast im Schatten eines der wenigen Bäume, die hier noch wuchsen, legten sie den Rest der Strecke bis zu den Ufern des Großen Stromes zurück. Für das letzte Stück kehrten sie auf die Straße zurück, die sie so lange gemieden hatten; denn sie führte direkt zur einzigen Stelle in der näheren Umgebung, an der man den Anduin überqueren konnte.
"Dort liegt der Carrock," erklärte Finelleth, als am Horizont zunächst das blaue Band des Flusses und kurz darauf ein großer, hoch aufragender grauer Fels inmitten des Wassers aufgetaucht waren. "Er ist der stumme Wächter inmitten der Alten Furt, an der die Straße vom Hohen Pass den Anduin überquert und weiter durch den Düsterwald und zu den Ländern im Osten führt."
Je näher sie der Furt kamen, desto höher schien der Carrock vor ihnen in die Höhe zu wachsen. Und als sie kurze Zeit später am Westufer des Flusses standen, ragte der Carrock dutzende Meter über ihre Köpfe auf und warf seinen riesigen Schatten nach Norden über die tiefblauen Wasser des Anduins. Der Fluss war hier bereits sehr breit, aber an der Furt dennoch niedrig genug, um ihn zu Fuß zu durchqueren.
"Wir sollten den Anduin rasch überqueren, und dann die Straße wieder hinter uns lassen," meinte Mathan, und alle stimmten ihm zu.
Die Sonne stand an diesem Herbstag hoch inmitten eines wolkenlosen Himmels, und es war noch einmal beinahe so warm wie im Hochsommer. Gut gelaunt zog Kerry ihre Stiefel aus, und stapfte als Erste unerschrocken ins Wasser hinein. Es ging ihr knapp bis über den Knöchel, und war zwar kalt, aber dennoch erfrischend. Vergnügt sprang sie vorwärts durch die Furt, auf den großen Felsen zu, der sich in der Mitte des Flusses erhob und seinen Lauf in zwei kleinere Strömungen aufteilte. Dort angekommen wartete sie, bis Oronêl und Finelleth mit dem Rest der Gruppe näher gekommen waren, und dann spritzte sie ohne Vorwarnung einen großen Schwall Wasser in die Richtung der Elben. Doch obwohl ihr kleiner Überfall vollkommen überraschend gekommen war, war Kerry trotzdem zu langsam für die elbischen Reflexe ihrer Begleiter gewesen. Oronêl und Finelleth machten jeder einen raschen Schritt zur Seite, und das Wasser spritzte zwischen ihnen hindurch - geradewegs auf Mírwen, die direkt getroffen wurde.
Einen Augenblick war alles still. Kerry kannte Mírwen noch nicht gut genug, um sich bei ihr solch einen Streich zu erlauben, und errötete beschämt. Sie befürchtete, sich nun den Zorn der Elbin zugezogen zu haben.
Mírwen schien endlich die Sprache wieder zu finden. "Na warte," sagte sie bedrohlich. "Das wirst du bereuen." Und schon schwappte eine deutlich größere Welle Kerry entgegen, als jene, mit der sie Mírwen getroffen hatte.
Es blieb keine Zeit zum Ausweichen. Kerry kreischte und hob die Hände vors Gesicht, doch damit konnte sie nicht verhindern, dass sie von oben bis unten nass wurde. Was sie als nächstes hörte, war Mírwens glockenhelles Lachen. Doch Kerry nahm es ihr nicht übel. Sie würde in der warmen Sonne rasch trocknen, und war froh, sich mit ihrer unbedachten Aktion keinen Feind gemacht zu haben.
"Um mich zu erwischen, musst du schon deutlich früher aufstehen, meine Liebe," sagte Oronêl, dessen Lächeln beinahe etwas boshaftes hatte. Oder kam es Kerry nur so vor?
Sie sammelten sich im Schatten des Carrock und umrundeten den Felsen an seiner Nordseite. Zu beiden Seiten rauschten die Wasser des Flusses an ihnen vorbei. Und so hörten sie die Stimme erst, als sie schon fast die Rückseite des Carrocks erreicht hatten.
"Fremde... ich brauche eure Hilfe..."
Alle Blicke wandten sich nach Süden. Dort lehnte eine in sich zusammengesunkene Gestalt mit dem Rücken an den Felsen und hatte den Arm mit augenscheinlich letzter Kraft in ihre Richtung ausgestreckt. Celebithiel und Ardóneth waren die ersten, die die Gestalt erreichten. Als Kerry ebenfalls näher gekommen war, erkannte sie, dass es sich um eine schlanke Frau handelte, die die Ausrüstung einer Waldläuferin samt dunkler Kapuze trug. Und was nicht zu übersehen war, waren die Blutflecken auf ihrer Brust und an ihrem Bein.
Ardóneth streifte der Frau vorsichtig die Kapuze vom Gesicht. Er schien sie sofort zu erkennen. Die Frau hatte recht kurze, dunkelblonde Haare und eine kleine Narbe am Kinn.
"Lóvarië! Was ist mit dir geschehen? Wie kommst du an diesen Ort?" fragte er besorgt und verwundert.
"Ardóneth? Oh, bei den sieben Sternen, was bin ich froh, dich zu sehen," antwortete die Waldläuferin schwach. "Wie du weißt, ging ich auf Belens Befehl unerkannt unter die Verräter Helluins, um ihre Pläne zu erfahren. Kurz nach dem Fall des Goldenen Waldes stieß ich zu ihnen, und es gelang mir, ihr Vertrauen zu erlangen. Seitdem folgte ich diesen Hunden Sarumans... bis ins Waldlandreich."
Celebithiel, die Verbandszeug mit sich führte, sah sich bereits die Verletzungen Lóvariës an und machte ein besorgtes Gesicht. "Das sieht nicht allzu gut aus," sagte sie.
"Was ist geschehen? Wurdest du entdeckt?" fragte Ardóneth weiter.
Lóvarië verzog vor Schmerz das Gesicht, als Celebithiel sich daran machte, ihre Wunden zu verbinden. "Ich fand heraus, dass Saruman in Eriador etwas plant. In den Trollhöhen sammelt er alle ihm verbliebenen Diener. Außerdem erfuhr ich von seinen Plänen für Thal und den Erebor. Ich beschloss, dass ich vorerst zu Belen nach Fornost zurückkehren sollte. Doch Helluin fand es heraus. Wie, weiß ich nicht. Als ich das Lager der Dúnedain verließ, das sie am Nordrand des Düsterwaldes aufgeschlagen hatten, stellte er mich zur Rede."
"Und was geschah dann?" fragte Kerry atemlos.
"Er setzte mir ein Messer an die Kehle, doch ich versetzte ihm einen Schlag gegen die Schläfe, der ihn für einige Zeit ausschaltete. Aber er war nicht allein gewesen. Als ich mich zur Flucht wandte, traf mich ein Pfeil in die Seite, und kurz darauf ein Wurfmesser in die linke Wade. Zwar gelang es mir, meine Verfolger in der Finsternis des Düsterwaldes abzuschütteln, doch ich hatte in der Eile kaum Proviant mitnehmen können, und meine Wunden verlangsamten mich und lockten wildes Getier an. Ich sage dir, Ardóneth, mit diesen Spinnen ist nicht zu spaßen."
"Du hast es dennoch hierher geschafft," erwiderte der Dúnadan aufmunternd.
Lóvariës Wangen röteten sich leicht. "Das habe ich, und ich hätte mich bis nach Imladris durchschlagen können, doch als ich die Furt überquerte, rutschte ich auf einem nassen Stein aus und stürzte. Meine Wunden begannen wieder zu bluten. Kannst du dir das vorstellen? Die oberste Kundschafterin des Sternenbundes, von einem Stein außer Gefecht gesetzt." Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande.
"Du bist noch am Leben, und wirst es sicher bis nach Imladris schaffen," entgegnete Ardóneth. "Ich werde dich begleiten. Deine Nachricht ist äußerst wichtig, und muss zu unserem Anführer gebracht werden."
"So, das hätten wir," sagte Celebithiel und stand auf. "Deine Wunden sind verbunden. Jetzt noch eine kleine Stärkung..." Die Elbin zog ein goldenes Fläschchen hervor, und hielt es der Waldläuferin hin. "Nimm dieses
Miruvor, sagte sie. "Es wird dir die Kraft verleihen, es mit Ardóneths Hilfe über den Pass zu schaffen."
Lóvarië tat wie geheißen und nahm einen kleinen Schluck. Und wenige Augenblicke später kehrte etwas Farbe in ihr blasses Gesicht zurück. "Ich danke dir,
híril," sagte sie.
"Also wirst du uns jetzt verlassen?" fragte Kerry mit einem Anflug von Traurigkeit, und Ardóneth nickte.
"Ich werde hier bleiben, bis meine Gefährtin bereit ist, ihre Reise fortzusetzen. Ich bringe sie wohlbehalten nach Imladris."
Kerry umarmte den Dúnadan fest. "Pass auf dich auf, Ardan."
"Und du auf dich, Kerry."
Um ein Mitglied geschrumpft ließ die Reisegruppe die Furten des Anduin hinter sich. Vor ihnen lag der letzte Abschnitt ihrer Reise bis zum Rand des Düsterwaldes.