Cyneric aus Tianas Taverne"Zeigt euch!"
Die Stimme war männlich und in ihr schwang einiges an Autorität und Lebenserfahrung mit, sodass Cyneric den Sprecher ungefähr auf Mitte vierzig schätzte. Direkt vor ihm rührte sich Ryltha, doch sie blieb ebenso in den Schatten des getarnten Seitenganges verborgen wie Morrandir und Teressa, die weiter vorne knieten. Cyneric warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter und sah, dass Lilja ihm zuversichtlich zunickte.
Die wissen, was sie tun, schien ihr Blick zu sagen. Daher packte er den Griff der langen Stangenwaffe, die er mit sich führte, und stellte sicher, dass sie nicht über den rauhen Steinboden rollte und Lärm verursachte. Es roch seltsam in den Verliesen - nach alten Steinen, Staub, und ... irgendwie süßlich, ein Geruch, den Cyneric nicht richtig einordnen konnte. Seine Beine schmerzten von der geduckten Haltung, in der er sich befand.
Endlich geriet Bewegung in den Hauptgang. Eine Frau in einem hellen Kleid kam in Cynerics begrenztes Sichtfeld und blieb stehen. Cyneric fand, dass sie nach einer gewöhnlichen Hofdame aussah, doch er konnte sich nicht erinnern, ob sie ihm im Palast bereits aufgefallen war oder nicht.
"Hier bin ich," sagte sie. "Ich sagte doch, Ihr sollt allein kommen."
"Das seid Ihr ebenfalls nicht, Laladria. Doch ich bin mir sicher, Ihr wusstet dass es so kommen würde," entgegnete der Mann, den Cyneric noch immer nicht sehen konnte.
"Also gut," sagte Laladria. "Schatten, versammelt euch."
Morrandir und Teressa sprangen gewandt in den Gang und stellten sich hinter der Frau auf, Sie trugen die dunkle Ausrüstung der Schattenläufer, samt Kapuzen und kniehohen Stiefeln. Ryltha bedeutete Cyneric und Lilja, ihr zu folgen, und verließ ebenfalls das Versteck. Cyneric folgte ihr, darauf bedacht, sich beim Verlassen des niedrigen Seitengangs nicht den Kopf anzuschlagen. Er bezog rechts von Ryltha Posten, gehüllt in die vollständige Rüstung der Palastgarde, die Stangenwaffe kampfbereit vor sich haltend. Von seinem Helm, der den Großteil seines Gesichts verdeckte, fiel ein langer, roter Schweif herab, der die Palastgarde von den gewöhnlichen Stadtwächtern abhob und ihre gehobene Stellung unterstrich.
Nachdem Cyneric und Orvar Tianas Taverne verlassen hatten (das Angebot, dort zu übernachten, hatten sie dankend abgelehnt; denn sie konnten es sich nicht leisten, all zu lange abwesend zu sein sondern mussten sich regelmäßig bei ihrem Kommandaten melden) waren sie gleich zum Palast zurückgekehrt und in ihre Quartiere verschwunden. Die Nacht war ereignislos vergangen und Cyneric hatte eine frühe Wachschicht bis kurz vor Mittag geschoben. Danach war er von Morrandir kontaktiert und in die Verliese geführt worden, bis er sich schließlich in dem kleinen Seitengang wiedergefunden hatte, ohne wirklich zu wissen, was da nur vor sich ging.
Er warf einen Blick den Gang hinunter. Mehrere Menschen standen dort, im Licht der wenigen Fackeln im Hauptgang nur schwer zu erkennen. Sie alle trugen unscheinbare Kleidung, doch im Gegenzug zu den Schattenläufern waren ihre Gesichter nicht verhüllt. An ihrer Körperhaltung erkannte Cyneric jedoch, dass auch sie kampfbereit und bewaffnet waren. Eine große Anspannung schien in der Luft zu liegen. In der Mitte der Gruppe stand der Mann, der als Erster gesprochen hatte. Er trug eine feste Lederrüstung und darunter weinrote Stoffkleidung. An seiner linken Seite hing ein Krummsäbel. In Haar und Bart zeigten sich erste graue Strähnen.
"Es heißt, die Diener Merîls seien stets drei," sagte der Mann. "Hier sehe ich bereits sechs, Euch eingerechnet, Laladria."
"Die Drei bilden den Kern," erklärte die Dame. "Das heißt aber nicht, dass wir nicht überall Verbündete hätten."
"Ich sehe es," gab ihr Gegenüber zurück. "Die Palastwache habt ihr unterwandert und den Adel ebenfalls. Fehlt nur noch..."
"...jemand aus dem einfachen Volk," ergänzte eine junge Frau mit schulterlangem, dunkelblondem Haar, die neben dem Bartträger stand. "Und ich schätze, das ist der Grund für dieses Treffen."
"Sehr scharfsinnig," gab Laladria anerkennend zu.
Die junge Frau (Cyneric schätzte, dass sie ungefähr im Alter seiner Tochter war) trat einen Schritt vor. Ihm fiel auf, dass in ihren Haaren stellenweise dunklere Strähnen zu sehen waren. "Also gut," sagte sie. "Was könnt ihr der Schwarzen Rose anbieten?"
"Wissen," antwortete Laladria: "Wissen, das euch helfen kann. Wissen, das euch großen Schaden zufügen kann, wenn es bekannt würde. Wie würde der König reagieren, wenn er wüsste, dass sein Vorgänger die Schlacht um den Erebor überlebt hat und wieder in der Königsstadt ist, mit einer großen Gruppe von Verbündeten unter seinem Befehl? Ist es nicht so, Ulfang?"
Der Bartträger blickte zerknirscht drein. Ryltha wisperte so leise, dass Cyneric sie kaum verstand: "Wer hätte gedacht, dass der Anführer der Schwarzen Rose der von Khamûl gestürzte König ist?"
"Ihr seid gut informiert," sagte die junge Frau. "Doch Ihr wisst nicht alles."
"Ich weiß, dass Ihr die Tochter der Königin seid, Fiora," gab Laladria zurück.
"Das hat nun keine Bedeutung mehr," antwortete Fiora. "Sie ist tot, falls Ihr es nicht mitbekommen habt. Und ich bin es auch - zumindest offiziell." Sie machte eine Pause und beriet sich einen Augenblick leise mit Ulfang. Cyneric konnte nicht recht feststellen, wer von den Beiden in Wahrheit das Sagen hatte, doch eher er sich weitere Gedanken machen konnte, sprach Fiora weiter. "Also gut - ihr kennt einige unserer wichtigsten Geheimnisse. Wie sieht es mit Dingen aus, die uns nutzen?"
"Wir kennen die Aufenthaltsorte aller fünf Fürsten und den des Königs," sagte Morrandir, die zum ersten Mal das Wort ergriff. "Wir haben großen Einfluss in der Armee und im Palast. Wir können Heeresbewegungen beeinflussen und Verhaftungen anordnen. Sogar im Rat der Zehn können wir uns Gehör verschaffen. Und wenn wir jemanden verschwinden lassen, tun wir es spurlos."
"Im Gegensatz zu uns," antwortete Fiora. "Wir hinterlassen eine deutliche Botschaft."
"Wie man bei der kürzlichen Befreiung der Kriegsgefangenen gesehen hat," ergänzte Ulfang. "Wir sprechen mit der Stimme des Volkes und unsere Unterstützer werden mit jedem Tag mehr."
"Also stimmt ihr einer Zusammenarbeit zu?" fragte Laladria.
"Erst ist zu klären, ob unsere Ziele zusammenpassen. Was wollt ihr für Rhûn?"
"Den Sturz der Fünf Fürsten und des Königs," stellte Morrandir klar. "Ob danach der alte König wieder die Macht ergreift ist uns gleich."
"Das ist gut," befand Ulfang zufrieden, doch Fiora schien nicht so leicht zu überzeugen zu sein.
"Ich will zuerst wissen, woher ihr eure Informationen habt. Ich bin mir sicher, dass es keinen Verräter in unseren Reihen gibt. Wie also konntet ihr unsere Identitäten erfahren?"
"Es gibt Mittel und Wege, über die nur die Schattenläufer verfügen," sagte Laladria geheimnisvoll. "Sorgt euch nicht. Eure Geheimnisse sind absolut sicher bei uns... solange ihr uns nicht verratet."
"Ihr lasst uns auch kaum eine andere Wahl," meinte der ehemalige König von Gortharia. "Doch für den Moment muss uns das reichen."
"Eine Frage habe ich noch," sagte Fiora. Die junge Frau machte noch einen Schritt auf die Schattenläufer zu. "Wie kommt es, dass eine gewöhnliche Hofdame über die berüchtigten Schattenläufer gebieten kann?"
"Wir dienen Merîl," sagte Morrandir. "Sie war eine von uns, doch nun wurde sie auserwählt und hat passenden Ersatz gefunden."
"
Ihr seid Merîl?" fragte Ulfang verwundert. "Ich dachte immer, das wäre nur ein uraltes Elbenmärchen - von der Herrin der Quelle und dem Brunnen, der Wünsche in Erfüllung gehen lässt."
"Jedes Märchen hat einen wahren Kern," sagte Laladria -
Merîl - bedeutungsvoll. "Nun geht. Instruiert eure Hauptleute von unserem Bündnis. Bald schon werden wir unsere weiteren Schritte besprechen."
Die Mitglieder des Ordens der Schwarzen Rose zogen sich einer nach dem anderen den verlassen Gang entlang zurück, und schon bald war Cynerics Gruppe allein in den Tiefen der Verliese.
"Das lief doch gut," sagte Ryltha und setzte die Kapuze ab. Ein vergnügtes Lächeln kam darunter hervor.
"Ich bin mir nicht sicher," meinte Morrandir. "Es lief schon fast
zu gut."
"Macht euch keine Sorgen, Schwestern," sagte die Frau, die von Ulfang Merîl genannt worden war. Da Cyneric die Sagen des Ostens nicht kannte, wusste er nicht, was für eine Bedeutung dieser Name hatte; doch er spürte, dass hier eindeutig etwas Besonderes am Werk war. "Alles verläuft nach Plan."
"Die Jägerin von Carnen und der Zwerg warten sicherlich schon, Ryltha," sagte Morrandir.
"Du hast Recht. Ich sollte gehen, damit ich pünktlich zu meinem dramatischen Auftritt komme," antwortet Ryltha. Ohne ein Wort des Abschieds eilte sie davon.
"Wir sollten in die oberen Bereiche zurückkehren," schlug Morrandir vor, ehe sie ebenfalls für einige Minuten verschwand. Als sie zurückkehrte, trug sie ihre prunkvolle Rüstung, die sie als hohe Heerführerin kennzeichnete.
Und so machten sie sich auf den Weg nach oben, ohne aufzufallen: ein Gardist, der eine ranghohe Befehlshaberin sowie zwei Hofdamen eskortierte. Cyneric schluckte seine Fragen vorerst hinunter. Wenn er eines über die Schattenläufer gelernt hatte, dann dass sie ihm ihre Antworten dann gaben, wenn sie es für richtig erachteten. Und offenbar war es momentan noch nicht soweit.
Er wusste nicht recht, was er von dem Treffen halten sollte. Soweit Cyneric es verstanden hatte, hatten hier zwei geheime Organisationen ein Bündnis geschlossen, da sie ähnliche Ziele hatten und sich gut ergänzten: Die schwarze Rose besaß großen Einfluss und hohe Beliebtheit im einfachen Volk und unter den Armen sowie den Kriegsgefangenen und Sklaven, während die Schattenläufer indirekte Kontrolle auf den Palast und das Heer ausübten. Cyneric fiel ein, was Ryltha vor ihrem Verschwinden gesagt hatte und erinnerte sich, dass sie sich heute mit Milva und Aivari treffen wollte. Da er die beiden mochte freute er sich schon darauf, in naher Zukunft mehr Zeit mit ihnen zu verbringen - ob es nun in Diensten der Schattenläufer war, oder nicht.
Cyneric zum Palast