Oronêl und Kerry aus EregionNach Norden schlug Oronêl so gut es ging den gleichen Weg ein, den sie bereits bei ihrer letzten Reise von Eregion nach Bruchtal genommen hatten, und hielt sie immer ein Stück westlich der drohenden Flanke des Nebelgebirges. Er und Kerry kamen allerdings um einiges schneller als bei dieser Reise voran, da sie beritten waren und die Schneestürme abgeflaut waren. Das ganze Land war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die allerdings immer kräftiger wurde, je weiter sie nach Norden gelangten.
Auf dem Weg stellte Oronêl fest, dass die Neubesiedlung Eregions im Süden des Landes mit Abstand am weitesten voran geschritten war, während weiter im Norden noch kaum Spuren von Elben zu finden waren - und die wenigen, die sich in dieser Gegend aufhielten, hielten sich verborgen, und Kerry bemerkte sie nicht.
Früh am Morgen des dritten Tages, seitdem sie in Ost-in-Edhil abgewiesen worden waren, erreichten sie die Ausläufer der Nebelberge, die die nördliche Grenze Eregions bildeten. Nicht weit von der Stelle, an der sie beim letzten Mal halt gemacht hatten, hielt Kerry an, und blickte über die Schulter zurück. Auch Oronêl bedeutete seinem Pferd, stehenzubleiben, und wartete schweigend ab.
"Was ist, wenn sie verlieren?", fragte Kerry schließlich, ohne den Blick von den verschneiten Hügeln Eregions abzuwenden. "Was ist, wenn es meine letzte Chance war? Wenn ich die Grenze überschreite, und..."
Oronêl lenkte sein Pferd neben das ihre, und erwiderte: "Wir wissen nie, wann wir die letzte Gelegenheit haben, etwas zu tun, oder mit jemandem zu sprechen. Wir wissen nie, wann das letzte Mal ist. Aber... ich spüre, dass wir sie wiedersehen - Mathan, Halarîn, und all die anderen. Ich weiß nicht, ob es in Eregion sein wird oder anderswo, aber es wird geschehen." Er sagte das nicht nur, um Kerry zu beruhigen, sondern es war die Wahrheit. Als er die nördliche Grenze von Eregion überschritten hatte, hatte ihn eine Vorahnung überkommen, dass sie zurückkehren würden, und zwar rechtzeitig.
"Du bist also unter die Hellseher gegangen?", fragte Kerry. "Kannst du mir vielleicht meine Zukunft vorhersagen? Es gibt da ein paar Dinge, die ich gerne vorher wüsste..."
"So funktioniert es nicht. Es ist eher...", setzte Oronêl zu erklären an, brach aber ab, als er Kerrys Grinsen sah. "Du ziehst mich auf, oder?"
Kerry nickte, weiterhin grinsend. "Allerdings."
Oronêl schüttelte den Kopf, und seufzte. "Sei froh, dass ich keinen Eimer mit kaltem Wasser zur Hand habe."
Kerry erschauderte bei diesen Worten ein wenig, und erwiderte: "Rede gar nicht erst davon. Hier ist es beinahe so kalt wie in der Eiswüste." Ihr Grinsen schwand und sie wurde wieder ernst, als sie weiter sprach: "Ich wünschte, die anderen von damals wären jetzt bei uns. Meine Eltern, Finelleth... Adrienne... Valandur und Súlien..."
"Es ist normal, seine Freunde zu vermissen", sagte Oronêl. "Mir geht es nicht anders."
Kerry blickte noch einen Augenblick gedankenverloren nach Süden, bevor sie sich einen sichtlichen Ruck gab, und ihr Pferd nach Norden wendete. "Dann sollten wir lieber weiterreiten. Vielleicht treffen wir in Bruchtal ja jemanden."
Von Eregions Nordgrenze aus kamen sie weiter rasch voran, denn das gute Wetter hielt sich und inzwischen kannte Oronêl die Pfade durch dieses Land gut genug, um sich nicht zu verirren. Als sie am Abend des zweiten Tages bei Sonnenuntergang anhielten um zu rasten, bemerkte Oronêl allerdings Spuren im Schnee, nur wenig von ihrem Lagerplatz entfernt.
"Wer immer hier entlang gekommen ist, es ist nicht lange her", stellte er fest.
Kerry, die sich gegen den schneidend kalten Nordwind die Kapuze über den Kopf gezogen hatte, kniff angestrengt die Augen zusammen, und sagte schließlich: "Ich sehe überhaupt nichts in dieser Dunkelheit. Wovon redest du?"
"Fußspuren", erklärte Oronêl knapp. "Schwach, aber trotzdem nicht mehr als zwei Stunden alt." Sie befanden sich in einem dünn bewaldeten Landstrich, in einer geschützten Senke, wo nur wenig Schnee lag - sonst wären die Spuren vermutlich deutlicher zu sehen gewesen.
"Ich glaube nicht, dass es Orks sind, sie hätten deutlichere Spuren hinterlassen", fuhr Oronêl fort. "Aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein. Bleib du hier und schlag das Lager auf - aber entzünde kein Feuer. Ich werde mich ein wenig umsehen."
Kerry nickte ohne Widerspruch, und nahm nahm die Zügel von Oronêls Pferd, die er ihr entgegen hielt.
Oronêl folgte der Spur langsam, darauf achtend, sie nicht zu verlieren. Er glaubte, drei Paar Schuhe zu erkennen, die allerdings immer in die Fußstapfen des Vorangehenden getreten waren. Die Spur verlief ziemlich genau in nördlicher Richtung einen Abhang hinauf, und bevor Oronêl diesen zur Hälfte erstiegen hatte, roch er Rauch in der Luft und hörte leise Stimmen miteinander sprechen. Er musste allerdings noch zwei weitere Hügel überqueren, bevor er in einer Senke den Schein eines kleinen Feuers sehen konnte, und die drei Gestalten, die sich um das Feuer herum auf den Boden kauerten. Lautlos schlich er näher, gab die Heimlichkeit allerdings in dem Augenblick, in dem er zwei der Stimmen erkannte, auf.
Er trat hinter einem Baum hervor, und sagte laut: "Ihr solltet in diesen Landen ein wenig vorsichtiger sein, Freunde."
Sofort sprangen alle drei Gestalten auf und griffen nach ihren Waffen - bis Oronêl den Lichtschein des Feuers erreicht hatte. Der schwarzhaarige Waldläufer stieß sein halb gezogenes Schwert mit einem Ruck zurück in die Scheide, und lachte.
"Sich von einem Elben beschleichen zu lassen, ist keine Schande."
"Und hätte uns ein Ork beschlichen, wäre die Schande vermutlich unser geringstes Problem gewesen", fügte seine hellhaarige Gefährtin trocken hinzu, und legte ihr Schwert ebenfalls beiseite. "Wir dachten, du wärst im Osten, Oronêl. Und nun stolperst du hier geradezu in unser Lager."
Oronêl erwiderte das Lächeln. Kaum zwei Tage war es her, dass Kerry sich danach gesehnt hatte, Gefährten aus der Eiswüste wiederzusehen, und hier waren zwei von ihnen.
"Súlien von Ringechad und Valandur", stellte er fest. "Euch hier zu treffen, hatte ich nicht erwartet. Ich wähnte euch weiter im Norden."
"Man kann nicht ewig sicher in Ringechad herumsitzen, während im Süden Krieg geführt wird", gab Súlien zurück, und Valandur ergänzte: "Also sind wir nach Fornost zurückgekehrt, und Belen gab uns und Mablung hier den Auftrag, die Länder südlich von Imladris auszukundschaften."
Die Blicke der Waldläufer richteten sich erwartungsvoll auf Oronêl, doch für Erzählungen würde später Zeit sein.
"Ich habe Kerry mit unseren Pferden etwa eine Meile südlich zurückgelassen, wo wir auf eure Spur gestoßen sind. Für Erklärungen ist Zeit, wenn wir alle um euer Feuer sitzen."
Kerry war tatsächlich freudig überrascht, als Oronêl ihr berichtete, wen er getroffen hatte. Während sie ihre Pferde durch den verschneiten Wald nach Norden führten, sagte sie: "Valandur und Súlien... es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass wir uns in Ringechad von ihnen getrennt haben, obwohl es noch gar keine so lange Zeit her ist. Vermutlich, weil in der Zwischenzeit so viel geschehen ist."
Oronêl nickte langsam. "Im Verhältnis zum Rest meines Lebens ist die Zeit, seit ich nach Dol Amroth gekommen bin, nicht mehr als ein Wimpernschlag. Und dennoch kommt es auch mir vor wie eine lange Zeit. Viel ist geschehen, und viel hat sich verändert - und wird es noch."
Als sie das kleine Lager der Waldläufer erreicht hatten, begrüßten alle drei Dúnedain Kerry freudig, denn zu Oronêls Überraschung kannten auch Mablung und Kerry einander.
"Wir sind uns in Fornost begegnet", erklärte Kerry, als sie alle fünf um das kleine Feuer herumsaßen. "Vor dem Angriff. Danach müssen wir uns aus den Augen verloren haben."
"Nun, wie ich hörte, war dein plötzlicher Aufbruch aus Fornost nicht freiwillig", erwiderte Mablung lächelnd. "Aber am Ende hat sich doch alles zum Guten gewendet."
"Bis jetzt", wandte Valandur düster ein. "Saruman heckt irgendeine Teufelei aus, das ist klar. Im ganzen Norden ist keine Spur von seinen Dienern zu finden."
Oronêl wechselte einen Blick mit Kerry, und sagte dann: "Er plant einen Angriff auf die Elben in Eregion, nach allem was wir wissen."
Alle drei Augenpaare richteten sich auf ihn, bis Súlien schließlich das Schweigen brach: "Dann scheint klar zu sein, wohin seine Diener verschwunden sind. Belen muss davon erfahren."
"Könnt ihr nicht helfen?", fragte Kerry. "Die Elben sind auch eure Freunde, und es wäre doch besser für euch, wenn sie siegen. Außerdem haben Mathan und Halarîn in Fornost mit euch gekämpft."
Die Waldläufer wechselten Blicke, bevor Valandur langsam sagte: "Das muss Belen entscheiden. Angesichts dieser Nachrichten ist es denke ich verzeihlich, wenn wir uns bei Sonnenaufgang auf den Weg zurück nach Fornost machen."
"Wir werden versuchen, Belen zu überzeugen, Hilfe nach Eregion zu schicken - wenn es noch rechtzeitig ist", ergänzte Mablung. "Und ich erinnere mich daran, wie die Elben in Fornost gekämpft haben. Wenn Belen entscheidet, keine Hilfe zu senden, werde ich allein gehen."
Kerry strahlte, und wandte sich an Valandur und Súlien. "Was ist eigentlich mit euch? Seid ihr..."
Bevor sie überhaupt ausgesprochen hatte, ächzte Valandur leise, und Súlien verdrehte die Augen. "Fang nicht damit an, Kerry. Mein Vater hat uns genug zugesetzt."
"Ihr Vater hat in Ringechad gefallen an mir gefunden, und meinte, es wäre Zeit dass seine Tochter einen Mann findet", erklärte Valandur. "Und es war hoffnungslos ihm zur erklären, dass wir zwar Freunde sind, aber nicht auf diese Weise."
"Das war auch ein Grund, warum wir Ringechad recht bald nach euch wieder verlassen hatten", ergänzte Súlien, und rollte dramatisch mit den Augen. "Mein Vater kann so... anstrengend sein."
Kerry öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, doch Oronêl kam ihr zuvor. "Ich denke, es wäre gerecht, abwechselnd zu erzählen. Wie viel wisst ihr, seit wir und in Ringechad trennten?", fragte er an die Waldläufer gewandt.
"Oh, einiges", antwortete Valandur. "Wir bekamen Nachrichten aus Bruchtal über eure Abenteuer in Dunland und in Eregion, doch unser letzter Stand war, dass ihr über das Gebirge nach Osten gegangen wart."
Also erzählte Oronêl, mit Kerrys Unterstützung, von ihrer Reise nach Osten bis zum Erebor und zurück, doch als er zu den Ereignissen am Rand des Düsterwaldes kam, versagte ihm die Stimme, und Kerry übernahm es, den Rest der Geschichte zu erzählen. Als sie von Mírwens Tod berichtete, senkte Valandur den Kopf und blickte auf das langsam herunterbrennende Feuer.
"Zuerst ihr Vater bei Fornost, dann sie. Ich mochte Mírwen - sie war so erfrischend anders als ihr übrigen Elben."
"Als sie starb erschien es mir, als hätte sie unsere Gemeinschaft, wie wir von Imladris aufgebrochen sind, endgültig aufgelöst", sagte Oronêl leise, und Valandur schüttelte den Kopf. "Nicht so lange ich noch stehe", erwiderte er. "In alle Winde verstreut mögen sie sein, doch ihr wart die ersten, an deren Seite ich gegen das Dunkel gekämpft habe, seit Sarumans Worte mich verführt hatten. Und das werde ich nie vergessen." Er hob die Hand, und im verlöschenden Schein des Feuers erkannte Oronêl, dass Valandur noch immer den silbernen Ring mit dem einzelnen Stern trug, den er von Arwen bekommen hatte.
Von diesem Punkt an übernahm Oronêl wieder die Führung der Erzählung, und berichtete davon, wie sie nach Süden gereist waren und er bis nach Dol Amroth gekommen war. An Nachrichten aus Gondor schien Mablung, der, wie sich herausstellte, aus diesem Land stammte, besonderes Interesse zu haben. Als Oronêl seinen Bericht schließlich beendet hatte, war das Feuer zur Glut zusammengefallen, und Valandur gähnte herzhaft.
"Nun, es scheint als hättet ihr noch einiges mehr erlebt als wir, und auch einiges mehr geleistet. Aber für den Augenblick sehne ich mich nur danach, ein wenig zu schlafen, bevor wir uns auf den Rückweg machen."
"Ich werde die erste Wache übernehmen", bot Oronêl sich an, und Kerry warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu.
"Und ich die zweite", sagte sie. "Wage es nicht, mich nicht zu wecken. Selbst Elben müssen irgendwann schlafen."