Cyneric von den Straßen GorthariasEs war ein regnerischer Tag. Ohne enden zu wollen strömte das Wasser aus den dicken, dunklen Wolken auf die Königsstadt herab und hüllte sie in eine ungewohnte Trübnis. Tatsächlich war es das erste Mal, dass Cyneric während seiner Zeit in Rhûn einen so lang anhaltenden und heftigen Regen erlebte. Trommelnd schlugen die Tropfen gegen die gläsernen Fenster des prachtvollen Palasts der Herrscher des Ostens. Cyneric saß an einem dieser Fenster, und starrte gedankenverloren hinaus. Er wünschte sich weit weg, an einen anderen Ort, zu einer anderen Zeit.
Auch in Hochborn hatte es Regen gegeben. An Tagen wie diesen, an denen keine Arbeit auf den Höfen oder in der Schmiede möglich war, hatten sich die Dorfbewohner für gewöhnlich mit ihren Familien in ihre Häuser zurückgezogen und hatten das Unwetter ausgesessen. Für Cyneric war es eine willkommene Gelegenheit gewesen, Spiele mit seiner kleinen Tochter zu spielen oder mit seiner Laute zu musizieren und gemeinsam mit seiner Frau zu singen. Beide hatten sie gute, volle Stimmen gehabt, denn sie hatten oft und gerne gesungen. Ihre Stimmen hatten miteinander harmoniert und ineinander verflochtene Klangmuster gebildet; mal hoch, mal tief, auf- und absteigend.
Und als Déorwyn alt genug gewesen war, hatte sich eine dritte Stimme ihren Liedern angeschlossen: hoch und zart, aber dennoch lieblich.
Es kam ihm so unendlich lange her vor.
"Das ist die Rache des Meeres," sagte Salia in die Stille hinein. Sie saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Rand des großen Tisches, der den Großteil des kleinen Raumes einnahm in dem sie sich gemeinsam mit Cyneric aufhielt. Ihre zierliche Gestalt wirkte in der Kaserne der königlichen Garde, zu der dieser Teil des Palastes gehörte, fehl am Platz. Zwar trug sie die Rüstung einer Adjutantin, doch vor allem die goldenen Schulterplatten waren ein gutes Stück zu groß. Wieder fühlte sich Cyneric daran erinnert, wie jung das Mädchen war; nicht einmal ein Jahr älter als seine eigene Tochter, die in der Ferne weilte.
"Die Rache des Meeres?" fragte er, halb interessiert, halb gleichgültig.
Salia stützte ihren Kopf mit beiden Armen auf, sodass ihre Ellebogen auf ihren Knien ruhten. "Das Meer von Rhûn war einst größer, als es heute ist. Doch seit der Gründung Gortharias haben ihm die Ostlinge Stück um Stück seiner Fläche entrissen, indem sie Dämme gebaut und die so entstandenen kleineren Seen langsam ausgetrocknet haben. Das taten sie, um Salz zu gewinnen, und sie tun es noch heute. Doch irgendwann setzten immer um dieselbe Jahreszeit starke Regenfälle ein, die das Meer wieder anschwellen ließen. Das Meer lässt sich nicht einfach bestehlen. Es holt sich zurück, was ihm genommen wurde." Sie schnalzte abfällig mit der Zunge. "Das ist natürlich nichts als abergläubisches Gerede der Ostlinge. Ich vermute, es hat etwas mit den Winden zu tun, die von Osten wehen und immer um diese Jahreszeit große Wolkenmassen über Gortharia schieben, die sich in den hohen Bergen im Osten bilden."
"Im Roten Gebirge?" vermutete Cyneric.
Salia nickte. "Das ist zumindest meine Theorie."
Sie vertrieben sich die Zeit, in dem sie einander ihre jeweiligen Muttersprachen beibrachten. Rohirrisch ähnelte der Sprache Thals so sehr, dass eine Verwandschaft geradezu offensichtlich war. Lediglich einige Worte besaßen eine unterschiedliche Bedeutung und andere wurden etwas unterschiedlich ausgesprochen, doch Grammatik und Satzbau waren nahezu idententisch.
"Solltest du jemals nach Thal kommen, wirst du kaum Probleme haben, als ein Einheimischer durchzugehen," lobte Salia einige Stunden später. Noch immer trommelten dicke Regentropfen gegen das Fenster.
"Und du solltest ohne Weiteres als echte
eorlinga angesehen werden," gab Cyneric zurück.
Beide genossen sie die unverhoffte Ruhe, die sich ihnen an diesem Tag bot. Es gab keine Aufträge auszuführen oder Missionen zu planen. Die Schattenläufer warteten ab, lauerten auf eine Gelegenheit, ihre Pläne weiter voranzutreiben. Und während sie warteten, waren Cyneric und Salia frei.
"Wenn es nach mir ginge, könnte dieser Regen gerne noch eine ganze Woche anhalten," meinte er mit einem verschmitzten Lächeln. "Es ist, als ob die ganze Stadt in einen einheitlichen Stillstand verfallen ist. Ich hätte nichts dagegen, daran noch eine Weile festzuhalten."
"Ich schon," gab Salia zurück und sprang auf. Sie streckte sich und fuhr dann fort: "Der Stillstand macht mich träge. Wenn ich träge bin, bin ich unvorsichtig. Du kannst es nicht wissen, aber Ryltha hat mir erzählt, dass während der Rache des Meeres die meisten erfolgreichen Attentate im Jahr verübt werden. Alle nehmen an, dass selbst gedungene Mörder zuhause bleiben und nichts tun als ihre Messer zu wetzen, bis die Wolken sich verzogen haben. Doch es gibt sogar einige Attentäter, die sich gerade auf die Regenzeit spezialisiert haben. Ihnen scheinen zumindest das Wasser und die Nässe nichts auszumachen."
"Wir werden ja sehen, wie lange dieses Wetter anhalten wird," meinte Cyneric.
"Nein, solche Dinge überlässt man nicht dem Zufall," sagte Ryltha, die gerade hereinkam. Die Schattenläuferin trug genau wie Salia ihre Offiziersrüstung und hatte ihren Helm unter den linken Arm geklemmt. "Inzwischen solltest du doch wissen, dass wir Schatten unsere Pläne nicht nach den Launen der Natur ausrichten."
Cyneric machte ein fragendes Gesicht, doch Ryltha schien das erwartet zu haben. Sie sagte leise: "Der Regen wird übermorgen aufhören. Morrandir hat es in den Tiefen des Brunnens gesehen."
Der Brunnen. Natürlich! dachte Cyneric. Damit besaßen die Schattenläufer einen ungeheuren Vorteil ihren Feinden gegenüber. Sie konnten ihre Pläne viel präzischer schmieden, da sie über Wissen verfügten, das niemand sonst hatte.
"Was gibt es, Ryltha?" fragte Salia. "Du bist nicht ohne Grund hier," stellte sie mit einem leicht säuerlichen Unterton fest.
"Habe ich eure traute Zweisamkeit gestört?" Ryltha verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. "Ruht euch aus, solange ihr noch könnt! Bald schon wartet Arbeit auf euch."
"Worum geht es?" wollte Cyneric wissen.
"Fürst Radomir von Gorak ist auf dem Weg in die Hauptstadt. Und er wird sie nicht wieder lebend verlassen," wisperte Ryltha unheilvoll. "Der erste der Fünf Pfeile, den wir zerbrechen werden. Die erste der fünf Säulen, auf denen der falsche König steht, die fallen wird. Ja, und die Schatten werden ihrem Ruf gerecht werden."
Salia nickte. "Nun gut. Wie lautet der Plan?"
Ryltha blickte das Mädchen mit schief gelegtem Kopf an, als hätte sie etwas unfassbar Dummes gesagt. "Nicht hier. Nicht jetzt. Ihr werdet rechtzeitig erfahren, was ihr zu tun habt. Jetzt geh, Teressa. Geh, und übe dich mit dem Wurfspeer. Übe, bis deine Finger den Schaft des Speeres nicht mehr halten können. Geh!"
Salia gab ein ersticktes Geräusch von sich, doch sie gehorchte ohne zu zögern, und eilte aus dem Zimmer.
Cyneric sah ihr nach, doch Ryltha sprach weiter und erzwang so seine Aufmerksamkeit. "Auch du wirst dich vorbereiten müssen, Cyneric. Für dich steht mehr auf dem Spiel, das weißt du. Wenn Radomir tot ist, darfst du einen weiteren Blick in den Brunnen werfen."
Das versetzte ihn in Aufregung und Vorfreude.
Dann werde ich sehen, wie es meiner Tochter inzwischen ergangen ist, und finde vielleicht endlich heraus, wo sie sich aufhält! Er nickte Ryltha entschlossen zu, und ihr Lächeln verbreiterte sich.
Ryltha legte ihren Helm auf den Tisch ab, auf dem Salia in den Stunden zuvor gesessen hatte und trat neben Cyneric an das Fenster, an dem das Regenwasser in Bächen abperlte und herabfloss. Ihr für gewöhnlich so selbstgefälliger Gesichtsausdruck verblasste mehr und mehr, je länger sie hinausblickte. Cyneric spürte, wie sich etwas an ihr veränderte. Zwar schätzte er, dass sie nur wenige Jahre jünger als er selbst war, doch mit einem Mal wirkte sie verletzlicher, als er sie je zuvor gesehen hatte; ähnlich wie Salia und auch Milva schon ausgesehen hatten.
Es muss an diesem schier endlosen Regen liegen, dachte er bei sich.
Vielleicht weckt er eine alte Erinnerung bei ihr."Wie kam es, dass du dich den Schattenläufern angeschlossen hast? Wo kommst du her?" fragte Cyneric leise, ohne sie anzusehen. Er konnte es nicht recht erklären, doch es schien ihm ein geeigneter Zeitpunkt für diese Fragen zu sein, nun, da Rylthas Fassade in diesem so seltenen Moment teilweise geschwunden war. Den Grund dafür kannte er nicht.
Sie schwieg mehrere Minuten, ehe sie sich ihm zuwandte. "Ich bin nicht wie Teressa," sagte sie leise. "Mich kannst du nicht retten oder beeinflussen, Cyneric."
"Das habe ich nicht vor, Ryltha. Ich möchte nur wissen, wo du herkommst."
"Weshalb? Was schert es dich? Ich dachte, das einzige was dich interessiert, ist deine Tochter."
"Sie ist alles, was von meiner Familie geblieben ist. Aber was sollte mich davon abhalten, neue
Freundschaften zu schließen? Ich will dich nicht beeinflussen - wozu auch? Ich dachte nur, dass es vielleicht schön wäre, wenn wir uns etwas besser kennenlernen. Und da du (und Morrandir) sowieso schon alles über mich zu wissen scheint, dachte ich, ich stelle
dir eben einige Fragen."
Rylthas Hände hatten sich zu Fäusten geballt. "Verdammt, Cyneric. Hör sofort auf damit," stieß sie hervor."
"Womit soll ich aufhören? Ich habe nichts weiter getan, als dir zu erklären, weshalb ich mich mit dir unterhalten möchte."
"Nein! Ich sehe es dir doch an. Du
sorgst dich. Wie ein... wie ein verdammter Vater! Ganz genauso, wie du es bei Teressa und bei Milva gemacht hast. Du kannst einfach nicht anders, nicht wahr, Cyneric? Und das Schlimmste ist... dass es
funktioniert."
Cyneric wurde klar, dass in Rylthas Innerem eine furchtbare Schlacht im Gange sein musste. All die Jahre der rigorosen Ausbildung und der unzähligen Übungen, die sie bei den Schattenläufern durchlaufen hatten, kämpften gegen lange unterdrückte Gefühle und Erinnerungen an; Erinnerungen an ein Leben, das eine andere Frau gelebt hatte, ehe sie zu Ryltha geworden war. Die Schattenläuferin presste die Hände gegen ihre Schläfen und verkrampfte sich. Seltsame Laute drangen tief aus ihrer Kehle. Und da sah Cyneric, dass ihre linke Hand in Richtung des Schwertes wanderte, das an ihrer Seite hing.
Er handelte, ohne nachzudenken. Rasch ergriff er ihre tastende Hand mit seiner eigenen, und schob seinen freien Arm unter ihrer rechten Schulter hindurch. Dann schloss er die Umarmung, sodass ihr Kopf an seiner Schulter zum Ruhen kam.
Keiner von beiden sagte auch nur ein Wort, doch Cyneric spürte das Beben, das durch Rylthas Körper ging. Ihr Gesicht war unterhalb seines Halses außer Sicht, doch er spürte ihren Kiefer mahlen. Und als er gerade aufgeben und die Umarmung beenden wollte, legte sich ihre freie Hand auf seinen Rücken, und sie richtete ihren Kopf auf, sodass er in ihre Augen blicken konnte. Darin zeigte sich nicht die geringste Spur von Tränen, dafür war sie zu hart und zu lange eine Schattenläuferin, doch ein Ausdruck glitzerten in den grünen Tiefen ihrer Augen, den Cyneric noch nie bei Ryltha gesehen hatte.
"Verdammt sollst du sein," sagte sie so leise, dass er sie beinahe nicht verstanden hatte.
"Wenn das mein Schicksal ist, dann soll es so sein."
"Nein, Cyneric. Dein Schicksal ist offensichtlich, jedem einzelnen verdammten Mädchen in dieser verdammten Stadt den Vater zu ersetzen, den sie nie hatte," sagte Ryltha, und es gelang ihr, dass ihre Stimme gleichzeitig sanft und verärgert klang.
Er tat die Bemerkung mit einem Achselzucken und einem halben Lächeln ab. "Nun, auch mein Bruder hatte immer schon ein Händchen für Frauen. Wahrscheinlich liegt es in der Familie."
"Dein Bruder ist ein unverbesserlicher Schürzenjäger."
"Woher weißt du... ach, wieso frage ich das überhaupt noch."
"Weil du ein sturer Hund bist, Cyneric."
"Das mag wohl so sein."
Eine weitere Minute verging, ehe Ryltha wieder das Wort ergriff. "Mein Name war Firvi," sagte sie leise. "Ich wuchs in einem kleinen Dorf an der Grenze zwischen Rhûn und Khand auf. Meine Freunde haben mich
Rotkehlchen genannt. Sie... sie sind alle tot, glaube ich."
"Das tut mir Leid, Firvi."
"Nenn mich nicht so! Ich bin Ryltha von den Schattenläufern, Ránt, der Fluss, und Dienerin Merîls bis auf ewig," fuhr sie ihn heftig an.
"Ist es das, was du willst?"
"Es geht nicht darum, was ich will oder was ich nicht will. Es ist mein Schicksal, ein Schatten zu sein. Ich wurde auserwählt. Du kannst mich nicht retten oder umstimmen."
Eine Pause trat ein. Cyneric fragte sich, wie viel Ryltha darüber wusste, worüber er mit Salia in den letzten Tagen gesprochen hatte. Doch noch hatte sie ihm keinen Hinweis darauf gegeben und schien es auch nicht vorzuhaben. Denn als es draußen vor dem Fenster langsam dunkel wurde, veränderte sich Rylthas Körperhaltung wieder, und sie fand zu ihrer gewohnten Gelassenheit zurück.
Ehe der ungewöhnliche Augenblick ganz schwand, trat sie an ihn heran und wisperte: "Ich danke dir für diese... diese Zeit, Cyneric, auch wenn ich dich gleichzeitig am liebsten dafür umbringen würde. Die Erinnerungen, die ich in mir trage, sind eine Bürde, von der ich es mir im Augenblick nicht leisten kann, sie zu tragen. Danke, dass du mir geholfen hast, sie zu verarbeiten."
Cyneric nickte. Er fragte sich, ob sich Rylthas Verhalten ihm gegenüber jetzt dauerhaft ändern würde, doch zumindest für den Augenblick schien sie wieder ganz die Alte zu sein.
"Ich habe jetzt wirklich genug Zeit verloren," sagte sie und schnappte sich ihren Helm, der noch immer auf dem Tisch stand, wo sie ihn liegen gelassen hatte. "Wenn der Regen endet, musst du bereit sein. Sei bereit, zu töten - dann wirst du deine Tochter aufspüren können."
"Ich werde bereit sein," versprach er.