Noch bevor Milva, Cyneric und Branimir den Königspalast verlassen konnten, trat ein junger Mann in den Farben Rhûns an sie heran, und wandte sich an Milva.
"Der König wünscht euch zu sprechen." Er warf Cyneric und Branimir einen knappen Blick zu, und fügte hinzu: "Allein."
In Branimirs Gesicht regte sich nichts, außer einer kaum merkbar angehobenen Augenbraue, die alles mögliche bedeuten mochte. Cyneric hatte sich deutlich schlechter unter Kontrolle, und seine Miene zeigte Überraschung und Misstrauen deutlich.
"Allein?", fragte er, und legte Milva eine Hand auf die Schulter. "Vielleicht sollte ich..." Milva legte ihre eigene Hand auf seine, und drückte sie kurz. "Das ist schon in Ordnung." Sie blickte dem Diener direkt in die Augen. "Ich kann mir kaum vorstellen, dass König Silan mich zu sich bestellt, um mir irgendetwas anzutun."
Die Miene des Dieners blieb höflich distanziert, als er erwiderte: "Über die Absichten des Königs bin ich nicht informiert."
Milva seufzte, nahm Cynerics Hand von ihrer Schulter und umschloss sie mit ihren beiden. "Ich bin mir sicher, dass du dir keine Sorgen machen musst. Vielleicht solltest du vor gehen, und alles für unsere Reise vorbereiten, hm?"
Cyneric zeigte ganz deutlich, dass ihm nicht wohl bei der Sache war, nickte aber, und sagte: "Du weißt, ich vertraue dir. Versuch... versuch nur, dich nicht wieder einsperren zu lassen." Milva erschauderte unwillkürlich, ließ aber Cynerics Hand los, und wandte sich wieder dem Diener zu. "Also, geht voran."
Anders als von ihr erwartet, führte der junge Diener Milva nicht zurück in den Saal, den sie gerade verlassen hatten, sondern eine schmale Seitentreppe hinauf in ein spärlich eingerichtetes Gemach, von dem aus eine Tür hinaus auf einen großen Balkon oberhalb des Palastgartens führte. Die Tür wurde von zwei Wachen in vergoldeten Brustpanzern flankiert, und der Balkon selbst bot einen weiten Blick über den Hafen Gortharias hinaus auf das in der Vormittagssonne glitzernde Meer von Rhûn.
Ans Geländer gelehnt stand Silan, jetzt ohne Krone und Rüstung, und blickte auf das Meer hinaus nach Norden. Er schien Milvas Schritte nicht zu hören, und erst als sie sich zögerlich leise räusperte, wandte er sich zu ihr um. Er lächelte unwillkürlich, doch das Lächeln verschwand sofort wieder von seinem Gesicht. Jetzt aus der Nähe bemerkte Milva, dass er tiefe Schatten unter den Augen hatte.
Einen Augenblick lang starrte er sie wortlos an, bevor er sich nervös räusperte, und eine einladende Geste in Richtung des Geländers machte. Nach kurzem Zögern trat Milva näher, und stellte sich neben ihm an das hölzerne Balkongeländer.
Silan räusperte sich erneut, und sagte dann leise: "Ich weiß nicht, ob es eines Königs würdig ist, aber... nun, ich wollte mich entschuldigen."
Milva zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. "Wofür? Dass du mich wochenlang eingesperrt hast? Dass du vorhattest, mich dort unten langsam krepieren zu lassen?" Erst jetzt wurde ihr klar, wie zornig sie tatsächlich war. "Dass du mich über deine wahren Absichten, was das Testament deiner Tante anging, belogen hast? Dass ich eine Spielfigur in deinem Mordkomplott war? Dass du mich in dein Bett gelockt hast, nur um mich dann fallen zu lassen?"
Er ist der König. So kannst du nicht mit ihm reden, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf, doch sie schob den Gedanken beiseite.
"Nun, was das Bett angeht, scheinst du ja bereits Ersatz gefunden zu haben", gab Silan zurück. Seine Stimme klang spöttisch, doch Milva stellte fest, dass er beleidigt war. Nicht etwa eifersüchtig. Nicht verletzt.
Beleidigt.Sie biss die Zähne zusammen, und sagte nichts. Blickte ihn nur an, bis er schließlich den Blick abwandte, und auf das Meer hinaus sah.
"Was meinst du mit Mordkomplott?"
Milva schnaubte verächtlich. "Deine Tante wird zufällig von deinem ärgsten Konkurrenten um das Erbe die Treppe hinabgestoßen, kurz nachdem der Plan, das Testament zu deinen Gunsten zu ändern erfolgreich war?" Sie hatte in den letzten Wochen viel Zeit gehabt, um über die Umstände von Velmira Bozhidars Tod nachzudenken. "Ein bisschen viel Glück, nicht wahr?"
"Die Zeit drängte", erwiderte er nach langem Schweigen, weiterhin ohne Milva anzusehen. "Ich bin nicht besonders stolz auf das, was ich getan habe, aber..." Er zuckte mit den Schultern. "Ich würde es wieder tun, denn es musste getan werden."
Milva schüttelte verständnislos den Kopf. Silan schien es zu spüren, denn er wandte ihr wieder den Blick zu und sagte: "Ich glaube nicht, dass du viel Berechtigung zu moralischer Entrüstung hast. Der alte Gildenmeister der Händlergilde hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, außer Goran ein wenig zu treu zu sein. Dafür starb er mit einem Pfeil im Leib." Seine Augen funkelten. "Einem Pfeil, den du abgeschossen hattest, Milva. Ohne zu wissen, wer er war und warum er sterben musste, nicht wahr?"
Zur Abwechslung war es Milva, die sprachlos war.
"Vermutlich muss ich dir dankbar sein", fuhr Silan im Plauderton fort. "Der alte Gildenmeister hätte meine Erhebung zum König vermutlich nie unterstützt - ganz im Gegensatz zum neuen, der übrigens auch ein alter Bekannter von dir ist, Meister Ántonin Dvakar. Auch dank seines Einfluss - und Goldes - ist dieser Machtwechsel glatter verlaufen erwartet. Insofern war der plötzliche Tod des alten Gildenmeisters das kleinere Übel, findest du nicht?"
Milva legte eine Hand auf die Stirn, und atmete tief durch. Sie kam sich vollkommen ausmanövriert vor, und wollte eigentlich nur noch weg von diesem Ort.
"Erlaubt ihr, dass ich mich zurückziehe?" Silan hob amüsiert eine Augenbraue. "So förmlich auf einmal? Es gibt wirklich keinen Grund..."
Weiter kam er nicht, denn er wurde von einem erstickten Laut unterbrochen. Sowohl er als auch Milva fuhren zur offenen Balkontür herum, und sahen gerade noch einen der beiden Wächter in sich zusammensacken. Der andere lag bereits am Boden, und ein hochgewachsener Mann stieg über ihn hinweg.
"Eine schöne Aussicht hat man von hier, nicht wahr?", fragte Ulfang, ehemaliger König von Rhûn, und trotz seiner Worte bebte seine Stimme vor Zorn und Hass. In der Hand hielt er ein blutbeschmiertes Schwert.
Silan wich einen Schritt zurück, und stieß mit dem Rücken gegen das Geländer. Er bemühte sich sichtlich, eine unbewegte Miene zu erhalten, doch seine Augen flackerten nervös von rechts nach links. Trotzdem war seine Stimme ruhig, als er sagte: "Eine unerwartete Freude... Bruder."
Ulfang spuckte verächtlich über die Brüstung. "Nur weil mein Vater sich ein wenig mit deiner Mutter vergnügt hat, gehörst du noch lange nicht zu uns. Und das gibt dir noch lange nicht das Recht, mir meinen Thron zu stehlen,
Bastard."
"Du hast den Thron entehrt und jedes Recht darauf verloren", erwiderte Silan höflich. "Und vielleicht verrätst du mir, wie du hier herein gekommen bist, damit ich das Schlupfloch stopfen kann - bevor ich noch mehr ungebetenen Besuch bekomme."
Ein hämisches Grinsen verzog Ulfangs Gesicht. "Ich hatte ein wenig Hilfe." Über die Schwelle trat Fiora, blass wie der Tod und mit einem nicht zu deutenden Ausdruck im Gesicht.
Milva schüttelte ungläubig den Kopf. Die ganzen Ereignisse der letzten Minuten kamen ihr unwirklich vor. "Fiora", sagte sie leise. "Was tust du?"
"Mich rächen", erwiderte Fiora ebenso leise. Ihre Stimme klang rau und gebrochen. "Mich. Meine Mutter. Cáha. Alle anderen, die gestorben sind."
"Ich kann mich nicht erinnern, ihre Mutter getötet zu haben. Und...", murmelte Silan, brach aber ab, als Ulfang ihm die Spitze seines Schwertes auf die Brust setzte.
"
Goran hat deine Freunde auf dem Gewissen", sagte Milva, ohne Fiora aus den Augen zu lassen. Allmählich wurde ihr klar, dass auch ihr eigenes Leben auf Messers Schneide stand. "Aber Goran ist tot."
"Tot", wiederholte Fiora, und schüttelte den Kopf wie um einen hartnäckigen Traum loszuwerden. "Aber ich wollte..." Ihr verwirrter Blick fiel auf Silan. "Er hat mich eingesperrt."
Milva blickte kurz zu Ulfang, der Silan immer noch das Schwert auf die Brust drückte und das Schauspiel offenbar aus vollen Zügen genoss. Sie wandte sich wieder Fiora zu. "Das hat er getan", räumte sie ein. "Genau wie mich. Aber... Trotz allem wäre er ein besserer König als Ulfang. Wenn du zulässt, dass Ulfang ihn tötet, werden wir den Rest unseres Lebens als Sklaven verbringen. Wenn es überhaupt einen Rest gibt."
Fiora blickte zwischen Silan, Ulfang und Milva hin und her, und blinzelte mehrmals rasch hintereinander. Dann machte sie einen Schritt zurück.
Ulfang bemerkte davon nichts, denn jetzt hatte er nur Augen für Silan. "Also, Bastard. Du hast die Wahl - das Schwert, oder..." Er ruckte mit dem Kopf in Richtung des Balkongeländers. "Nur ein kleiner Sprung."
Bevor Silan reagieren konnte, tauchte ein Schatten hinter Ulfang auf, riss seinen Schwertarm zurück, und trat ihm mit solcher Wucht von hinten in die Beine, dass der entthronte König in die Knie ging.
"Wie wäre es mit keinem von beiden?", fragte Cyneric. Er streifte Fiora, die noch weiter zurückgewichen war, mit einem raschen Blick, sah in ihr aber offenbar keine Gefahr.
Gefahr ging allerdings weiterhin von Ulfang aus, denn dieser riss sich mit einem Ruck aus Cynerics Griff los, und führte mit dem Schwert noch im Aufstehen einen tückischen Stoß in Cynerics Richtung. Cyneric konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, und trotzdem streifte die Klinge seinen rechten Arm. Seine Hand fuhr zu seinem eigenen Schwertgriff, doch Milva sah, dass er es nicht schaffen würde. Den einen Fuß rückwärts gegen das Geländer gedrückt stieß sie sich ab, und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen Ulfang. Dieser geriet aus dem Gleichgewicht und prallte hart gegen die Brüstung. Das Holz knackte besorgniserregend, und mit einer plötzlichen Aufwallung stieß Milva ihn erneut mit aller Kraft. Ulfang und sein Vater hatten nur Elend über das Volk Dorwinions - über ganz Rhûns - gebracht, und der Gedanke verlieh ihr mehr Kraft, als sie erwartet hätte.
Das Holz barst mit einem scharfen Knall, und Ulfang stolperte über den Rand. Er stieß einen Schreckenslaut aus, und war verschwunden.
Ihr eigener Schwung hätte Milva beinahe ebenfalls über den Rand getragen, doch eine Hand schloss sich wie Eisen um ihren Arm und riss sie zurück. Im nächsten Moment hatte Cyneric sie an sich gezogen, und hielt sie fest.
Das eine Ohr gegen seine Brust gedrückt hörte Milva über ihren hämmernden Herzschlag hinweg Silans Stimme: "Es sind über dreißig Fuß bis zum Boden, und der ist gepflastert."
"Gut", stellte Cyneric grimmig fest.
Milva löste sich sanft, aber bestimmt aus seiner festen Umarmung, bevor sie ihn, obwohl - oder vielleicht gerade weil - Silan zusah, küsste. Dann wandte sie sich Silan zu. "Bruder?"
"König Silan ist der uneheliche Sohn von König Ulfast", ertönte Alatars Stimme von der Tür her. Der Zauberer war bereits die dritte Person, die mit erschreckender Plötzlichkeit aus dem dunklen Gemach auftauchte. "Einer der vielen Gründe, warum ich ihn für diese Aufgabe ausgewählt habe." Auf dem sonst immer so beherrschten Gesicht des Zauberers zeigte sich jetzt deutliche Erleichterung. Er blickte zu Fiora, die bis in eine der Ecken des Balkons zurückgewichen und dort auf dem Boden zusammengesackt war. "Ich bedaure, dass meine Behandlung dir nicht helfen konnte, mein Kind. Aber vielleicht besteht noch Hoffnung für dich."
Silan räusperte sich. Er war noch immer bleich, und zum ersten Mal hatte Milva das Gefühl, dass seine Maske verschwunden war. "Ich... danke euch. Beiden. Ohne euch... wäre ich wohl den selben Weg wie Ulfang gegangen."
Cyneric nickte nur stumm, und Milva spürte deutlich, dass er sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut fühlte.
"Ich hätte einen Wunsch", sagte sie kurzentschlossen. "Wenn es in meiner Macht liegt, werde ich ihn erfüllen", erwiderte Silan.
Milva deutete auf Fiora, die jetzt die Augen geschlossen und die Arme um die Knie geschlungen hatte. "Seht davon ab, sie zu bestrafen. Ich... glaube nicht, dass sie etwas dafür kann."
Silan wechselte einen Blick mit Alatar, der unmerklich nickte und sagte: "Ich werde mich um sie kümmern. Es könnte nützlich sein, das, was von der Schwarzen Rose übrig ist, auf unserer Seite zu haben."
Milva spürte, wie Cyneric ihre Hand ergriff. "Auch ich hätte einen Wunsch. Lasst uns in Frieden nach Dorwinion ziehen. Ohne uns zuvor noch zu euch zu bestellen." Obwohl er
uns sagte, war Silan offensichtlich klar, dass Cyneric Milva meinte, und sein Mundwinkel zuckte ärgerlich. Dennoch erwiderte er: "Auch diesen Wunsch will ich euch gewähren. Sichere Reise."
Cyneric und Milva zum Hafen