Salia und Cyneric von den Straßen der StadtIm Inneren des Hauses war es warm, geradezu heiß wie Cyneric fand. Er war froh, den schweren Helm der Garde im Palast gelassen zu haben als er von Morrandir in den Untergrund gerufen worden war, um Milvas Blick in den Brunnen Anntírad beizuwohnen. Während er Salia durch mehrere kleine Räume hindurch folgte, fragte er sich, weshalb die Schattenläufer von ihm verlangt hatten, dass er den Ereignissen beigewohnt hatte. Lilja, die andere Verbündete der Schatten die er kannte, war nicht anwesend gewesen.
Wahrscheinlich wollten sie mir erneut zeigen, weshalb ich ihre Anweisungen befolge. Mir mein Ziel vor Augen halten, dachte er.
Vor ihm kletterte Salia gewandt eine Leiter hinauf. Als er ihr folgte, kamen sie in einen großen Raum, der die gesamte Breite des oberen Stockwerks einzunehmen schien. Mehrere schwere Sandsäcke hingen von der Decke, und an jeder Wand waren Waffenhalterungen befestigt. Dies musste die Ausbildungshalle der Schattenläufer sein. Erhellt wurde der Raum von zwei großen Lampen, die in die Decke eingelassen waren. An einer der Wände waren Zielscheiben zu sehen, bei deren Anblick Cyneric unwillkürlich an seinen Bruder denken musste, der in Helms Klamm unter Erkenbrand stationiert war. Fenster gab es in der Trainingshalle keine. Doch eher Cyneric sich weiter umsehen konnte hatte Salia bereits die Leiter, über die sie hierher gelangt waren, eingezogen und in der hinteren Ecke des Raumes aufgestellt. Dort war eine Luke in der Decke. Offenbar gab es noch ein Stockwerk über ihnen... oder sogar mehrere. Rasch ging Cyneric hinüber und kletterte hinter Salia hinauf.
Oben angekommen zog Salia erneut die Leiter ein, legte sie dann aber auf den Boden. Sie waren in einem kleineren Zimmer angekommen, das offenbar als Vorratskammer genutzt wurde. Salia ging durch eine Tür und brachte Cyneric in einen gemütlichen Wohnbereich, der von Kerzen erleuchtet wurde. Es gab dort mehrere gepolsterte Sitzgelegenheiten und einen kleinen flachen Tisch, der in der Mitte dieses Raumes stand. Eine der Wände wurde von einem übergroßen Fenster dominiert, durch das sanftes Mondlich hineinschien und einen guten Ausblick über die Dächer der schlafenden Stadt bot. Noch immer waren die Straßen unter ihnen in Nebel gehüllt, doch bis in diese Höhen drangen die Schwaden nicht vor.
"Wie nett von Ryltha, uns das Licht anzulassen," meinte Salia und ließ sich in einen großen Haufen Kissen fallen, der in der Ecke zwischen Fenster und Türe lag. Cyneric setzte sich ihr gegenüber auf einen breiten Sessel und betrachtete sie einen langen Augenblick. Hier zeigte sich ihm eine völlig andere Salia, als er sie bisher erlebt hatte. Draußen war sie stets angespannt und übervorsichtig gewesen. Vor allem unter dem Einfluss des geheimnisvollen Trankes der Schattenläufer war sie emotionslos und wortkarg. Doch auch auf ihrer gemeinsamen Reise nach Osten, entlang der Kalevin-Küste, war Salia meist eher mürrisch und verschlossen gewesen. Doch nun blieb sie inmitten der Kissen liegen, die Arme weit ausgebreitet, und sämtliche Vorsicht und Achtsamkeit schien so vollständig von ihr abgefallen zu sein, dass sie wie ein ganz anderer Mensch wirkte.
"Dies ist also Rylthas Haus?" fragte Cyneric und blickte sich um. Im Gegensatz zu Salia konnte er sich hier längst nicht so sehr entspannen. "Und du bist sicher, dass wir hier ungestört sind?"
Salia blinzelte ihm müde zu. "Völlig sicher. Die umliegenden Häuser sind verlassen. Von den Schattenläufern gekauft, um die Sicherheit dieses Verstecks zu gewährleisten. Hier wird uns niemand hören. Und Ryltha wird frühstens morgen Abend wieder hier sein."
"Wohnst du hier?"
Sie nickte und richtete sich in eine sitzende Position auf. "Seit meiner Ankunft in Gortharia bin ich hier untergebracht. Es hat seine Vorteile. Waffen und Vorräte gibt es genug, und man hat, wie gesagt, immer seine Ruhe."
"Wie lange bist du denn schon in der Stadt?" fragte Cyneric weiter.
Salia legte den Kopf schief und stützte ihr Gesicht mit ihren Armen ab. "Seit zwei Monaten."
Cyneric schaute sie verwundert an. "Das ist nicht sonderlich lange. Ich selbst bin schon beinahe einen Monat hier."
"Ich kam mit dem königlichen Heer hierher," erzähte Salia. "Aber... ich sollte von vorne anfangen. Mein Name... ist Salia Amara, Tochter Tolwins, und ich wuchs auf einem kleinen Hof auf, mitten im Königreich der Bardinger. Das Reich von Thal war seit dem Tod des Drachen Smaug stetig angewachsen und hatte beinahe wieder seine frühere Größe erreicht, ehe die Ostlinge angriffen. Meine Eltern... starben während der ersten Grenzgefechte, als der Hof geplündert wurde, und meine Schwester und ich flohen nach Thal. Doch drei Jahre später war uns der Krieg bis dorthin gefolgt... und in den Kämpfen verlor ich auch Liviana. Drei weitere Jahre lebte ich in Thal bei meinem Onkel Adaric... und er starb als die Ostlinge zurückkehrten und der Erebor belagert wurde. Einige Zeit saß ich im Inneren fest, bis ich während eines Ausfalls fliehen und mich als Soldatin des Heeres von Rhûn tarnen konnte. Dabei traf ich auf Morrandir und Ryltha. Sie nahmen mich auf, als ich niemanden mehr hatte. Und sie sagten, dass sie einst mit meinem Vater in Kontakt gestanden hatten. Mit ihrer Heeresabteilung reiste ich auf dem langen Weg von Thal bis nach Gortharia... und seitdem bin ich hier. Ohne Perspektive. Die Schattenläufer sind alles, was mir geblieben ist."
Cyneric blickte das Mädchen mitfühlend an. Er wusste genau, wie sie sich fühlte... denn er hatte es selbst erlebt. Er ließ Salias Geschichte im Raum verhallen und wartete einen langen Augenblick. Salias Blick huschte hierhin und dorthin, verweilte nie lange an einer Stelle. Sie hatte sich geöffnet und preisgegeben, was in ihrem Inneren vor sich ging. Jetzt würde Cyneric etwas damit machen müssen.
"Es mag schwer zu glauben sein," begann er bedächtig, "doch ich weiß, wie du dich fühlst." Salias Augen verharrten auf ihm und ihr Blick wurde intensiver. Misstrauen und Unglauben standen darin. Doch Cyneric ließ sich nicht beirren und fuhr fort: "Du hast die, die dir wichtig waren, einen nach dem anderen verloren. Das habe ich ebenfalls erlebt. Ich hatte einst eine glückliche Familie; hatte Eltern, die mich liebten, einen Bruder, der mein bester Freund war, eine wunderschöne Frau, die ich sehr liebte, und eine fröhliche Tochter, die mir stets ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Sie alle sind nun fort, oder weit weg. Ich kehrte aus dem Krieg in Gondor nach Hause zurück und fand nur Asche vor. Meine Frau ist dort gestorben, ebenso wie meine Eltern. Dass meine Tochter entkommen ist, weiß ich nun... aber damals ging ich davon aus, dass sie ebenfalls tot sei. Ich hatte nichts mehr. Doch dann kam jemand zu mir, und gab mir eine Aufgabe:
Töte jeden Ork, der die Riddermark durchstreift. Es war ein Reiter Rohans, so wie ich, und auch er hatte alles verloren. Mit zwei weiteren Gefährten zogen wir zwei Jahre durch unser Heimatland und jagten Orks, wo wir nur konnten. Es war eine harte Zeit, aber es gab mir einen Grund, weiterzumachen. Ich lebte nur noch für den Kampf. So, wie es dir ergehen wird, wenn du weiterhin bei den Schattenläufern bleibst. Sie wollen dich zu einer lebenden Waffe machen, Salia. Sie wollen, dass du für immer
Teressa bleibst."
"Wie sie es mit allen neuen Schatten tun," sagte Salia leise. "Es ist ein nie endender Kreislauf. Mór, die Dunkelheit. Rant, der Fluss. Dáe, der Schatten. Drei sind es, die Merîl dienen... bis eine von ihnen Merîls Platz einnimmt. Und dann suchen sie ein neues Mädchen, das die Lücke wieder schließt."
"Was hat das zu bedeuten?" fragte Cyneric mit wachsendem Grauen.
"Merîl war der Name der ersten Anführerin der Schattenläufer," erklärte Salia mit ernstem Gesicht. "Sie war... so richtig geht es aus den alten Texten nicht hervor, aber ich glaube nicht, dass sie ein Mensch war. Jedenfalls gibt es ein Ritual... eine Angelegenheit, über die selbst Morrandir niemals spricht, aber ich habe davon gelesen. Wenn die Tage Merîls sich dem Ende zuneigen wählt sie die erfahrenste der Drei aus, und führt mit ihr das Ritual durch. Dabei nehmen sie ein gemeinsames Bad in den Tiefen Anntírads... doch nur eine von beiden taucht wieder auf. Und sie ist von jenem Moment an...
Merîl."
"Das... klingt aber nicht natürlich," stieß Cyneric hervor, den Salias Bericht sichtlich erschüttert hatte.
"Ist es auch nicht. Es ist ein dunkles Ritual, dessen Ursprünge im Schatten liegen. Ebenso wie der Trank, den sie für die neuen Schatten brauen. Er verändert die Persönlichkeit jener, die ihn trinken, um sie auf das vorzubereiten, was am Ende vieler langer Jahre in Merîls Diensten steht. Die Macht der ersten Schattenläuferin... wenn sich die Kanditatin als stark und würdig genug erweist."
"Deshalb also ein nie endender Kreislauf," schlussfolgerte Cyneric mit leiser Stimme. "Sie berauben dich deiner Persönlichkeit, und eines Tages erhältst du dafür..."
"Ja. Aber auf jeden wirkt der Trank anders. Ich habe mit Leuten gesprochen, die Ryltha von früher kannten. Sie hieß einst Firvi, und stammt ursprünglich aus Khand, wenn es stimmt, was ich gehört habe. Und sie war ein stilles und schüchternes Mädchen."
"Was man von der Ryltha, die ich kenne, nun wirklich nicht behaupten kann," meinte Cyneric.
"Sie wurde in ihre Rolle als Rant zurechtgebogen. Sie muss gut mit Worten umgehen können, und überzeugend sein. Ihre Aufgabe ist es, Verbündete zu finden."
"Und du bist..."
"Dáe, der schweigende, folgsame Schatten. Eine stumme Mörderin. Ein tödlicher Schatten in der Nacht."
"Ich verstehe. Und welcher Teil fällt Morrandir in all dem zu?"
"Mór, die Dunkelheit, die alles umfasst und zusammenbringt. Sie bewahrt den Überblick und behält den Blick auf das große Ganze gerichtet. Morrandir hat die meiste Erfahrung mit Anntírads Bildern und weiß sie am besten zu deuten."
"Doch als Milva heute hineingesehen hat, schien sie zumindest für einen kurzen Augenblick etwas überrascht zu sein," erinnerte sich Cyneric.
"Der Brunnen hat immer nur Bilder gezeigt, seitdem die Schattenläufer existieren. So steht es in den Aufzeichnungen. Sollte Milva wirklich etwas gehört haben..."
"Ich glaube nicht, dass sie deswegen lügen würde," meinte Cyneric.
Salia biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Ich werde Nachforschungen darüber anstellen," sagte sie schließlich. "Aber nun solltest du gehen. Es ist spät geworden."
"Das sollte ich. Meine Wachschicht beginnt in fünf Stunden, und ich habe noch keine Minute geschlafen. Aber ich will, dass du eins weißt, Salia. Du bist nicht mehr alleine. Ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen... wofür auch immer du meine Hilfe in Anspruch nimmst."
"Aber deine Tochter..." wagte sie es erneut einzuwenden.
"Ich werde sie finden - mit der Hilfe der Schattenläufer oder ohne. Sobald ich einen weiteren Blick in den Brunnen geworfen habe, und herausgefunden habe, wo mein kleines Mädchen sich aufhält, werde ich sie finden und in Sicherheit bringen. Du kannst mich begleiten, wenn du möchtest. Aber wenn du dich entscheidest, hier zu bleiben, werde ich zurückkehren."
Salia gab ihm keine Antwort, aber er sah die Dankbarkeit in ihren Augen. Schweigend brachte ihn sie zum Ausgang und schloss die Tür hinter sich.
Ich hoffe, ich finde nach all diesen verstörenden Enthüllungen wenigstens noch ein klein wenig Schlaf, dachte Cyneric während er sich auf den Rückweg zum Palast des Königs machte.
Cyneric zur Taverne "Zum einbeinigen Zweibein"