Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Thal

Esgaroth auf dem Langen See

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Cyneric, Zarifa und Salia aus Dorwinion


Cyneric fror. Ein kühler Wind blies von Norden herab, seitdem sie die Lande des Langen Sees erreicht hatten, und sorgte dafür, dass alle drei ihre Umhänge enger um Schultern und Oberkörper gewickelt hatten. Selbst die Pferde schienen von der Kälte betroffen zu sein und trotteten nur langsam dahin, während sie am westlichen Ufer des Sees der Straße zur Seestadt folgten. Die Stadt lag vor ihnen, vom Festland nur durch eine wackelige Holzbrücke verbunden. Es waren keine Wachen am Eingang postiert, weshalb sie keine Schwierigkeiten hatten, Esgaroth zu betreten.

Cyneric hatte beschlossen, sich dort nach seiner Tochter umzuhören, denn inzwischen wussten sie, was vor kurzer Zeit am Erebor, kaum ein paar Meilen entfernt, geschehen war. Eine große Schlacht war am Fuße des Berges geschlagen worden, doch noch immer befand sich die zwergische Festung in den Händen des schwarzen Reiters, der die Ostlinge bei ihrem Feldzug gegen Thal und den Erebor angeführt hatte. Die Verluste auf beiden Seiten waren hoch gewesen, insbesondere unter den Orks, die sowohl für Saruman als auch für Khamûl gekämpft hatten. Die Stadt Thal war derweil von beinahe allen Bewohnern verlassen worden. Esgaroth hingegen war noch immer bewohnt und befand sich in einem Zustand der Unsicherheit. Ostlinge und See-Menschen schienen beide nicht recht zu wissen, zu wem die Stadt auf dem See nun gehörte. Der König Thals, Bard II., hatte Esgaroth einige Tage vor der gescheiterten Belagerung des Erebors offenbar für befreit erklärt, doch die Menschen dort sagten, der König wäre mit seinem Volk ins Waldlandreich gegangen. Noch war keine Nachricht aus dem Erebor gekommen und noch hatten die Ostlinge die Stadt nicht wieder besetzt. Dennoch waren viele Ostlinge als Händler und Söldner in Esgaroth geblieben, weshalb die Bevölkerung nun, ähnlich wie in Dorwinion, sehr gemischt geworden war.
Cyneric und Salia erfuhren all dies innerhalb eines langen Abends, an dem sie sich in dem einzigen Gasthaus umhörten, das selbst in diesen unsicheren Zeiten geöffnet hatte. Es lag im Zentrum Esgaroths, nahe des großen Marktgewässers, wo Händler ihre Ware auf Booten ankarrten um sie zu verkaufen. Cyneric war froh, in den Monaten, die er als Gardist in Gortharia verbracht hatte, einen anständigen, regelmäßigen Sold erhalten zu haben, ohne wirklich viele Ausgaben gehabt zu haben. Für Unterkunft und Verpflegung hatten die könglichlichen Gardisten im Palast selbst nichts bezahlen müssen, weshalb Cyneric sein Einkommen beiseite gelegt hatte. Nun hatte er mehr als genug, um für ein großes Zimmer zu zahlen, in dem Zarifa schnurstracks zu Bett gegangen war, während Cyneric und Salia Nachforschungen angestellt hatten. Die Reise von Dorwinion nach Esgaroth hatte die junge Südländerin mehr erschöpft, als sie hatte zugeben wollen. Der Ritt war eilig gewesen und man hatte deutlich sehen können, dass Zarifa so etwas nicht gewohnt war.

„Noch eine Runde, bitte,“ sagte Cyneric zu der Bedienung, die in regelmäßigen Abständen an dem Tisch vorbeischaute, an dem er mit Salia und einigen Einheimischen saß. In weiser Voraussicht hatten sie alle Hinweise auf ihre Identität als Mitglieder der Armee Rhûns bereits in Dorwinion abgelegt und hatten sich als einfache Reisende ausgegeben. Salia, die aus der Gegend um Thal kam, hatte die geringsten Probleme, denn sie sprach sogar die Sprache und den Dialekt der See-Menschen, doch auch Cyneric ging ohne große Schwierigkeiten als jemand durch, der entweder direkt aus Thal oder aus Dorwinion stammte. Er erinnerte sich daran, dass Salia ihm in Gortharia einst erzählt hatte, dass sein Volk, die Rohirrim, mit den Menschen von Thal und Dorwinion ebenso verwandt war wie mit den Menschen aus dem Tal des Anduin, die Erkenbrands Heer in der Schlacht um Dol Guldur überraschend zur Hilfe gekommen waren.
Ein voller Krug mit weiß schäumendem Bier wurde vor Cyneric abgesetzt und er nahm einen tiefen Schluck daraus. Gar nicht übel, befand er und beschloss, nun, nach mehreren Stunden der Nachforschung, endlich zum Punkt zu kommen.
„Freunde,“ sagte er in die Runde und die Blicke der Einheimischen am Tisch richteten sich auf ihn. „Ihr seid bereits äußerst hilfreich dabei gewesen, uns die Lage in den Landen rings um den See zu erklären. Wir beide waren, wie ihr ja wisst, schon mehrere Jahre nicht mehr hier und sind euch wirklich dankbar dafür, uns schon so weit geholfen zu haben. Darum sage ich erneut: Trinkt, meine Freunde, und das Bier geht auf mich.“
Zustimmende Rufe und sogar etwas Applaus antworteten ihm, weshalb er sich vorbeugte und fortfuhr: „Es gibt da noch etwas, das ich gerne fragen möchte, wenn mir diese Dreistigkeit gestattet ist.“
„Nur zu, guter Mann, nur zu!“ ermutigte man ihn. „Einem edlen Spender wie dir einen Wunsch abzuschlagen wäre mehr als niederträchtig von uns.“
„Ich bin auf der Suche nach einem jungen Mädchen, genauer gesagt ist sie meine Tochter. Sie hat blondes Haar, grüne Augen und eine muntere Persönlichkeit. Ihr Name lautet Déorwyn. Habt ihr sie vielleicht gesehen?“
Mehrere der See-Menschen begannen, gleichzeitig zu antworten. Die meisten hatten jemanden gesehen, der auf diese Beschreibung passte, doch keine der jungen Frauen, von denen sie sprachen, trug den Namen von Cynerics Tochter. Ihm war natürlich klar gewesen, dass Déorwyns Haar- und Augenfarbe in Thal und Esgaroth keine Seltenheit waren, und dass es womöglich mehr als nur ein Mädchen geben könnte, das ihr ähnelte. Geduldig ließ er sich von einem Esgarother nach dem anderen beschreiben, wo dieser die Frau gesehen hatte, die auf die Beschreibung, die Cyneric gegeben hatte, passte. Jedoch kam am Ende heraus, dass nur eine davon sich im Augenblick noch in Esgaroth aufhielt. Dabei handelte es sich um die Bedienung, die ihnen immer wieder frisches Bier brachte. Sie war jung, blond, und ungefähr in Déorwyns Alter, doch sie war eindeutig nicht Cynerics Tochter.
„Die anderen Mädchen scheinen alle entweder verschwunden zu sein oder sind mit den Flüchtlingen aus Thal ins Waldlandreich gegangen,“ fasste Salia die Ergebnisse ihrer Befragung zusammen.
„Aber im Brunnen sah ich meine Tochter auf dem Rabenberg,“ überlegte Cyneric und fragte sich, ob er das Wagnis eingehen sollte, sich dem Einsamen Berg zu nähern. „Wenn wir nur wüssten, was mit Déorwyn während der Schlacht am Erebor geschehen ist!“
„Ich weiß es,“ sagte jemand. Cyneric blickte von dem leeren Krug auf, in den er gedankenverloren hinab gestarrt hatte. Neben ihm war ein junger Mann aufgetaucht, der die Rüstung eines Ostling-Soldaten trug. Sein Gesicht kam Cyneric vage bekannt vor.
„Und wer bist du?“ fragte er etwas ungehalten. „Was weißt du über meine Tochter?“
„Seid Ihr Cyneric, der Gardist?“ antwortete der Junge mit einer Gegenfrage.
Cyneric wunderte sich. Er hatte sich den See-Menschen am Tisch nicht vorgestellt und bis auf den Namen seiner Tochter keine Namen genannt. „Der bin ich,“ sagte er, leise und vorsichtig. „Woher weißt du das, Junge?“
„Ich heiße Aino... Sohn des Rauno. Ich habe mit Eurer Tochter gesprochen, während der Schlacht am Fuße des Berges dort oben.“
Cyneric packte Aino an den Schultern. „Was weißt du über sie? Sag schon!“
„S-schon gut! Ich werde Euch alles erzählen, nur tut mir nicht weh!“ Aino war bleich geworden. Es war Salia, die die Lage entschärfte. Sie warf der Bedienung eine Goldmünze zu und rief: „Eine letzte Runde für alle!“, was für neuerlichen Jubel sorgte und die Aufmerksamkeit der Leute ablenkte. Dann befreite sie Aino aus Cynerics Griff und zerrte den jungen Ostling davon, in Richtung des Zimmers, für das sie für die Nacht bezahlt hatten.
„Sieht ganz so aus als hätte das Mädel Gefallen an dem Ostlingjungen gefunden,“ nuschelte einer der Esgarother, ehe er seinen frisch gefüllten Krug an die Lippen setzte.
Kopfschüttelnd stand Cyneric auf und folgte Salia die Treppen zu den Gastzimmern hinauf. Dort angekommen schloss er die Tür des Zimmers hinter sich. Zarifa lag in einem der drei Betten und schlief friedlich, weshalb Salia und Aino sich nur im gedämpften Ton unterhielten.
„Wir werden dir schon nichts tun, Kleiner,“ beruhigte Salia den Ostling. „Sag uns erst einmal, woher du Cynerics Tochter kennst, und weshalb du dir sicher bist, dass wir von demselben Mädchen sprechen.“
„Sie bat mich, ihrem Vater auszurichten, dass sie im Waldlandreich ist, wenn ich ihn treffe,“ sagte Aino, dessen Gesicht wieder Farbe bekommen hatte. „Ich habe es ihr versprochen, weil sie mich am Leben gelassen hat.“
„Am Leben gelassen?“ wiederholten Cyneric und Salia gleichzeitig.
„Wir waren Feinde in der großen Schlacht um den Berg. Sie besiegte mich im Kampf, doch dann zeigte sie mir Gnade.“
Cyneric wollte aufspringen und den Jungen dafür büßen lassen, dass er seine Tochter angegriffen hatte, doch er beherrschte sich. Verwunderung hatte von ihm Besitz ergriffen. Seine Tochter sollte eine große Kriegerin sein, die Ostling-Soldaten besiegen konnte? Die Vorstellung war so absurd, dass er seinen Ärger völlig vergaß.
„Erzähl weiter,“ forderte Salia Aino auf. „Und diesmal von Anfang an.“
„Die linke Bergflanke, die auch als Rabenberg bekannt ist, war vom Feind besetzt worden und unsere Einheit erhielt den Befehl, sie zurückzuerobern. Ich gab mein Bestes, aber... ich bin nun mal einfach kein Krieger. Mein Vater mag der große General Rog sein, nur geerbt habe ich davon rein gar nichts. Ich verlor mein Schwert und hatte schon mit dem Leben abgeschlossen, doch dann war da dieses Mädchen... sie sagte, ihr Name sei Kerry, und ich wäre nun ihr Gefangener.“
Bei der Erwähnung Rogs horchte Cyneric auf. Ihm wurde klar, weshalb Aino ihm so bekannt vorkam. Durch einen absonderlichen Zufall war er inmitten von Esgaroth auf den Sohn des Kommandanten der Palastgarde getroffen. Er hätte beinahe gelacht.
„Muss man dir denn jeden Satz einzeln aus der Nase ziehen?“ beschwerte Salia sich. „Wie seid ihr aus der Schlacht entkommen?“
„Ich half Kerry, durch die Reihen der Ostlinge zu ihren elbischen Freunden zu gelangen. Die Elben zogen sich als Letzte zurück, und Kerry ging mit ihnen. Sie bat mich, ihrem Vater von ihr zu erzählen, wenn ich nach Gortharia heimkehrte. Aber bislang habe ich noch nicht den Mut dazu aufgebracht, zu gehen. Ich habe mich hier versteckt und darauf gewartet, dass mir das Schicksal ein Zeichen gibt.“
„Nimm diese Begegnung als Zeichen,“ sagte Cyneric. „Dafür, dass du meiner Tochter geholfen hast, bin ich dir dankbar. Ich werde im Waldlandreich nach ihr suchen. Und du, Aino, solltest in deine Heimat zurückkehren, oder ihr entsagen und dich nach Westen durchschlagen.“
„Ich... werde darüber nachdenken,“ sagte der Junge leise.

„So,“ sagte Salia, nachdem Aino gegangen war und die Türe hinter sich geschlossen hatte. „Da hast du es also. Deine Tochter ist im Waldlandreich.“
„Das wissen wir nicht sicher, aber es ist die beste Spur, die wir haben,“ entgegnete Cyneric.
Salia stand auf und blickte aus dem einzigen Fenster des Zimmers. Der Vollmond schien herein und spiegelte sich auf dem schwarzen Wasser des Sees. „Dies ist der Moment unseres Abschieds, Cyneric,“ sagte sie mit einer Spur von Traurigkeit in der Stimme.
„Du gehst?“ fragte er, doch er kannte die Antwort bereits.
„Ich kann nicht anders,“ entgegnete sie und drehte sich zu ihm um. Ein trauriges Lächeln lag auf ihrem jungen Gesicht. „Ich muss nach Thal gehen, und das Schwert meines Vaters holen, ehe ich nach Gortharia zurückkehre. Ich habe mir geschworen, den König der Ostlinge damit zu töten - als Rache für meine Familie. Daran werde ich mich halten. Ich danke dir für alles, was du getan hast, Cyneric... aber hier trennen sich unsere Wege.“
„Salia...“
„Nein, bitte sag jetzt nichts. Bring mich nicht davon ab. Ich muss das tun, verstehst du?“
„Sei bitte vorsichtig,“ drängte er sie. „Du weißt, wozu Morrandir und Ryltha fähig sind. Sie werden deinen Verrat nicht auf sich sitzen lassen.“
„Ich weiß. Ich werde schon einen Weg finden, mit ihnen fertig zu werden.“ Salia versuchte, zuversichtlich zu klingen, doch ihre Augen verrieten sie. Sie wusste, dass sie vermutlich in ihren eigenen Tod lief, und Cyneric konnte es sehen. Er fühlte sich, als würde er entzwei gerissen. Im Westen wartete seine Tochter auf ihn, deren Spur ins Waldlandreich führt, doch im Osten stand Salias Schicksal auf Messers Schneide, und außerdem...
Ein entschlossenes Gesicht tauchte vor Cynerics innerem Auge auf. Es war Milvas. Ihre Zukunft war ebenso ungewiss wie Salias. Konnte Cyneric sie wirklich einfach so im Stich lassen?
Er verhärtete sein Herz. Es lag nicht an ihm, die Last der Welt auf seinen Schultern zu tragen. Er hatte stets alle retten wollen, doch in jenem Moment, unter dem fahlen Licht des Vollmondes, wurde ihm klar, dass er nur sich selbst retten konnte. Er würde Déorwyns Spuren folgen und seine Tochter finden. Er war nicht verantwortlich für Salias, Zarifas oder Milvas Schicksal. Solange sie mit ihm gingen, konnte er auf sie Acht geben, doch wenn sich ihre Wege trennten...
Cyneric atmete tief durch. „Ich wünsche dir nichts als das Beste, Salia. Lass dich nicht von Rachsucht blenden, hörst du? Wenn du vorsichtig bist und dir einen Plan zurecht legst, wirst du vielleicht einen sicheren Weg finden, um dem König zu töten. Vielleicht wirst du heil aus diesem ganzen Chaos herauskommen. Ich wünsche es dir von ganzem Herzen.“
Er konnte Salia ansehen, dass ihr der Abschied nicht leicht fiel. Deswegen schien sie es kurz machen zu wollen. Sie öffnete das Fenster und stieg hindurch. „Leb wohl, Cyneric,“ wisperte sie noch, dann war sie fort.

Zarifa hatte es tatsächlich geschafft, all das zu verschlafen. Es war eine der wenigen Nächte, in denen sie durchgeschlafen hatte. Offenbar hatte kein Albtraum sie behelligt, denn als sie Cyneric am nächsten Morgen weckte, hatte sie unangenehm gute Laune.
„Na komm schon, alter Mann,“ sagte sie und zog ihm seine Decke weg. „Die Sonne wird heute nicht heller werden. Es wird Zeit, dass wir losgehen und deine Tochter finden.“
Cyneric brummte etwas Unverständliches und warf sein Kissen nach Zarifa, die sich lässig wegduckte und ihn auslachte. Er beschloss, es ihr eines Tages heimzuzahlen und stand auf. Nachdem sie ein ausgedehntes Frühstück zu sich genommen hatten und Cyneric Zarifa von den Ereignissen des letzten Abends erzählt hatte - Salias Abschied nahm die junge Südländerin mit einem Schulterzucken hin - machten sie sich bereit zum Aufbruch aus Esgaroth. Cyneric bezahlte den Gastwirt und begab sich in die Stallungen. Rynescéad wartete dort schon auf ihn, doch Salias Pferd war verschwunden. Er seufzte leise und hoffe, dass sie ihre mörderischen Pläne irgendwie überleben würde.
Kurze Zeit später ritten sie über die Holzbrücke aus Seestadt heraus und schlugen die Straße zum Waldlandreich ein.


Cyneric und Zarifa ins Waldlandreich

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