Aldoc und Girion aus TharbadAldoc war auf dem Weg nach Hause.
Er war mit dem Auftrag aufgebrochen, in Imladris bei den Elben nach Verbündeten zu suchen, um gegen die Besatzer des Auenlandes vorzugehen, nicht ahnend, welch große Dinge gerade in Mittelerde vor sich gingen, neben denen die Probleme der Hobbits klein und unwichtig wirkten. Und doch waren es vier Hobbits, die eine maßgebliche Rolle im Ringkrieg spielten.
In Bruchtal hatte er von alledem erfahren. Vom Ringkrieg. Von Saurons Triumph während der Schlacht am Schwarzen Tor. Von all den Niederlagen, aber auch den Siegen. Plötzlich hatte er erfahren, dass die Dinge nicht nur in seiner Heimat aus dem Ruder gelaufen waren. Ganz Mittelerde befand sich in Aufruhr. Es war ein gewaltiger Krieg – und er nur ein kleiner Hobbit. Was konnte er schon tun?
Dennoch war er gen Aldburg aufgebrochen, in der Hoffnung, dort die ersehnten Verbündeten zu finden. Doch stattdessen hatte er einen guten Freund verloren und war in Gefangenschaft der Dunländer geraten. Wochenlang. Und nun kehrte er endlich nach Hause zurück, erschöpft und niedergeschlagen.
Ohne auch nur das geringste erreicht zu haben.
Wieder waren es zwei jener vier heldenhaften Hobbits gewesen, die bereits so vieles im Ringkrieg geleistet hatten, die letztlich auch für einen Umschwung im Auenland gesorgt hatten. Pippin und Merry. Bestimmt hatten sie mächtige Verbündete aus dem Süden mitgebracht, als sie nach Hause zurückgekehrt waren. Und wen brachte Aldoc mit? Einen mürrischen Menschenkrieger namens Girion. Einen Diener Sarumans.
Aber war er das nun im Grunde nicht auch selbst? Ein Diener Sarumans? Ein Spion?
Nein, so durfte er nicht denken. Lutz Farnrich mochte ihn zu einem solchen erklärt haben, aber das bedeutete nicht, dass Aldoc die ihm zugedachte Rolle auch erfüllen würde. Sein Herz gehörte noch immer dem Auenland, den freien Völkern von Mittelerde und vor allem seiner Familie. Nicht dem weißen Zauberer. Niemals. Aldoc beschloss, sich nicht von Girion einschüchtern zu lassen. Der Mensch war hier, um ihn zu überwachen, aber Aldoc würde sich ihm nicht einfach fügen.
Bereits am ersten Morgen nach ihrem Aufbruch erlebte Girion daher eine unangenehme Überraschung: Aldoc hielt ihm beim Erwachen sein Schwert an die Kehle.
"Ich war so frei, mir meine Waffen zurückzuholen, während du geschlafen hast", teilte der Hobbit seinem Reisegefährten mit. "Du tätest gut daran, lieber keinen Einspruch dagegen einzulegen, hast du verstanden?"
Girion zuckte nur mit den Schultern. "Von mir aus. Du hättest auch nett fragen können, dann hätte ich sie dir gegeben. Ist mir egal, ob du bewaffnet bist, Junge. Spätestens beim Auenland hätte ich sie dir ohnehin zurückgeben müssen, um keinen Verdacht zu erregen."
Diese Einstellungen überraschte Aldoc ein wenig. Zögernd ließ er das Schwert sinken, und tatsächlich machte der Mensch keinerlei Anstalten, es ihm wieder abzunehmen. Komischer Kerl. Als Aldoc sich jedoch daran machte, mit seinen bereits zusammengepackten Sachen wieder aufzubrechen, beeilte sich Girion, sein weniges Hab und Gut ebenfalls zusammenzupacken und zu ihm aufzuschließen. Einfach abhängen lassen wollte sich der Mensch wohl nicht. Nun, es war einen Versuch wert gewesen.
Schweigend wanderten sie den ganzen Tag lang gen Norden, folgten dem Verlauf des Grünweges. Aldoc machte die Stille nichts aus. Er war oft genug alleine durch die Welt gezogen, um mit dieser natürlichen Ruhe inzwischen gut vertraut zu sein. Er ignorierte Girion geflissentlich, und der Hauptmann aus Tharbad schien es genauso zu halten.
Als sie jedoch an diesem Abend ihr Nachtlager aufschlugen und einander gegenüber an einem kleinen Lagerfeuer saßen, kurz nachdem sie einen Teil ihrer kargen Vorräte verzehrt hatten, brach Aldoc schließlich das Schweigen. "Du bist kein Nordländer. Du stammst nicht aus Eriador" Das war eine Feststellung, keine Frage. "Woher kommst du, Girion? Aus Rohan? Oder vielleicht Gondor?"
"Thal", antwortete der Mensch schlicht. "Das ist eine Stadt weit im Osten, beim Erebor, einem großen Be..."
"Danke, ich weiß, wo der einsame Berg und die Stadt Thal liegen", entgegnete Aldoc. "Ich bin keiner dieser hinterwäldlerischen Hobbits, die nicht einmal wissen, dass es außerhalb der Grenzen des Auenlandes noch eine Welt gibt. Außerdem kenne ich alle Geschichten von Bilbo Beutlin auswendig. Hast du auch die Schlacht der fünf Heere erlebt?"
Erst, als Girion in schallendes Gelächter ausbrach, wurde Aldoc klar, wie dumm diese Frage eigentlich war. "Sehe ich für dich wie ein alter Greis aus, der vor achtzig Jahren gegen Orks und Warge gekämpft hat? Ich bin neunundzwanzig, Junge."
"Dann solltest du aufhören, mich Junge zu nennen. Ich bin nämlich anscheinend drei Jahre älter als du."
Girion sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Tatsächlich? Mit euch Hobbits ist es ja fast wie mit den Elben. Ich hätte dich auf maximal zwanzig Jahre geschätzt."
"Was verschlägt einen Mann aus Thal nach Tharbad?", versuchte Aldoc das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu lenken.
"Was wohl? Der Krieg." Girion seufzte betrübt. "Thal ist gefallen, weißt du das etwa auch noch nicht?"
"Doch", erwiderte der Hobbit. "Ich nahm nur an, dass die meisten Flüchtlinge aus Thal und dem Erebor in Rohan seien."
"Ja, das stimmt schon", nickte der Mensch. "Aber den ein oder anderen hat es eben auch nach Eriador verschlagen."
"Und wie kommt es, dass du zu einem Hauptmann in Lutz Farnrichs Diensten wurdest?", wollte Aldoc wissen.
"Du bist ganz schön neugierig", stellte Girion fest. "So etwas kann dieser Tage ziemlich ungesund sein. Aber was soll's, ist ja nicht so, als hätte ich irgendetwas zu verbergen. Weißt du, in Zeiten wie diesen hat man als gewöhnlicher Mann im Grunde zwei Möglichkeiten, wenn man einen vollen Magen haben möchte: Man schließt sich den Kriegern an, die gen Osten ziehen, oder man verdingt sich als Wachmann. Als ich nach Tharbad kam, war ich gerade erst aus dem Krieg gekommen, warum also gleich wieder nach Osten ziehen und sich von Saurons Übermacht niedermetzeln lassen? Nein, ein Posten als einfacher Wachmann ist wesentlich sicherer. Ich wurde einigermaßen gut bezahlt und habe regelmäßige Mahlzeiten bekommen. Mehr kann man sich dieser Tage kaum wünschen. Und, nun ja, da ich in Thal ein Krieger war und somit einer der wenigen verbliebenen Männer in dieser Gegend bin, die über eine richtige Kampfausbildung verfügen, hat Lutz mich schon nach kurzer Zeit zum Hauptmann ernannt."
"Aber indem du dich für die Wache gemeldet hast, hast du dich freiwillig in Sarumans Dienste gestellt", warf Aldoc ihm vor. "Macht dir das denn gar nichts aus?"
"Es war nicht Saruman, der Thal und den Erebor erobert hat", meinte Girion dazu nur. "Und außerdem bin ich diesem Zauberer niemals begegnet. Für mich wirkte es lediglich so, als diente ich Lutz Farnrich. Ein recht gewöhnlicher Mensch, trotz seines hochtrabenden Statthalter-Gehabes. Und wie ich bereits sagte, er zahlt gut und sorgt dafür, dass die Wachen einen vollen Magen haben. Mehr hat mich nicht interessiert."
Girion sah ihm in die Augen und schien wohl den zornigen Ausdruck in diesen zu erkennen. "Versteh mich nicht falsch, Aldoc Tuk, ich will den weißen Zauberer keineswegs verteidigen. Aber er hat mir nichts getan. Hier ist er nicht mehr als irgendein Name. Ebenso wie Éowyn, Gandalf, Faramir oder dergleichen. Alles nur Namen von irgendwelchen wichtigen Personen, die gewöhnliche Leute wie wir niemals zu Gesicht bekommen. Es ist vollkommen egal, wem von denen ich diene, letztlich macht es doch keinen Unterschied."
"Und Sauron?", fragte Aldoc. "Ist er auch nur ein ferner, ungreifbarer Name für dich?"
Darauf schwieg Girion eine Zeit lang und starrte nachdenklich in die Flammen. Als er schließlich antwortete, war seine Stimme dunkel und trüb. "Sauron ist eine Unausweichlichkeit, die uns alle irgendwann einholen wird. Ich will einfach nur ein gewöhnliches Leben führen, bevor die Dunkelheit kommt."
So kam das Gespräch zwischen ihnen zum Erliegen und die Schweigsamkeit, die schon auf der Wanderung zwischen ihnen geherrscht hatte, kehrte wieder ein. Der Mensch aus Thal legte sich schon bald auf seine Decke und schlief ein, und Aldoc blieb nur wenige Minuten länger wach.
Der nächste Morgen brachte einen dichten Nebel, in dem man kaum zwanzig Schritte weit sehen konnte. In der Wildnis, ohne Karte, wäre das vielleicht ein Problem gewesen, aber hier mussten sie ohnehin nur der immer gleichen, eintönigen Straße folgen, bis sie zu jener Abzweigung kamen, bei welcher sie zur Sarnfurt abbiegen mussten. Aldoc stand wie immer früh auf, aß ein wenig, und war schon bald bereit für den Aufbruch. Dieses Mal wartete er jedoch auf Girion.
Als dieser endlich ebenfalls bereit war, zog Aldoc sein Schwert und rammte es vor ihm in den Boden. "Nur, damit eines klar ist: Ich gedenke nicht, zu einer Marionette Sarumans zu werden. Das ist nicht sein Land, noch das von Lutz Farnrich oder gar Sauron. Es ist das Land all jener, die seit hunderten von Jahren hier leben. Ich habe das Gefühl, dass du kein schlechter Mensch bist, Girion von Thal, aber wenn du wirklich in diesem Land leben willst, dann solltest du es besser auch verteidigen und dich der Dunkelheit entgegen stemmen, die da kommen wird. Wenn dir dazu der Mut fehlt, dann bleibe hier, denn ich werde dich nicht über die Sarnfurt lassen. Sollte allerdings doch noch ein Funken Widerstand in dir vorhanden sein, dann begleite mich nach Hause. Diese Entscheidung liegt allein bei dir."
Damit zog der junge Tuk sein Schwert wieder aus dem Boden, drehte sich um und setzte seinen Weg nach Norden fort. Girion verharrte kurz auf der Stelle, vollkommen verdutzt ob der Worte des Hobbits, doch schließlich setzte auch er sich wieder in Bewegung.
Und folgte Aldoc ins Auenland.
Aldoc und Girion zur Sarnfurt