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Dunharg und das Hargtal

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Thorondor the Eagle:
Antien, Faendir, Amrûn, Oronêl, Celebithiel und Amrothos von Morthond und die Pfade der Toten.

Amrûn war froh, diese feindlichen Lande und diese unterdrückende Dunkelheit hinter sich gelassen zu haben. Der Hinterhalt in Gondor hatte sie in eine heimtückische, tödliche Gefahr gebracht und dies alles wegen Amrothos.
Es hätte keine andere Möglichkeit gegeben als ihn mitzunehmen, denn hier, weit weg von all dem Misstrauen und Verrat war er sicher, doch quälte ihn hier die Unsicherheit über den Verbleib seines Vaters und seiner Freunde.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sie die Bergfeste Dunharg erreichten. Als sie aus dem schmalen Tal auf die Hochebene trafen, wurden sie von zwei Soldaten überrascht.
„Halt!“, befahlen sie halblaut.
„Guten Abend“, begrüßte ihn Antien in seiner wie üblich gut gelaunten Stimmung.

Die roten Fackeln leuchteten ihnen ins Gesicht: „Ihr kommt sehr spät. Längst schon werdet ihr erwartet.“
Überrascht schaute Amrûn die Soldaten an und hegte sofort Vermutungen wer gekommen sein mag. War Aratinnuíre ebenfalls dabei? Hatte sie den weiten Weg gewagt um Amrûn du sehen?

Die Gruppe marschierte hinter dem Soldaten her. Sie passierten einige provisorische Holzhäuser, aus deren Innerem Kerzenlicht herausflackerte. Bis sie eine Schenke erreichten, die sich an die Felswand lehnte.
„Wundert euch nicht, es sind zahlreiche Menschen hier. Seit der Rückeroberung unseres Landes haben sich viele Menschen in die Befestigungen zurückgezogen. Wir haben viel zu wenig Platz um alle unterzubringen, daher die Zelte und die einfachen Häuser.

Höflich öffnete er ihnen die Türe, folgte ihnen allerdings nicht. Es war nicht anderst, als der Soldat sagte. Auf den Tischen und an der Theke waren unzählige Menschen, doch keiner schien etwas zu essen oder zu trinken, sondern sie saßen nur ihre Zeit ab. Manche hatten sich auf die Holzbänke gelegt um ein wenig Schlaf zu finden, andere schliefen im Sitzen.
Da entdeckte Amrûn die Elben auf dem Tisch in der hinteren Ecke. Einer von ihnen war Orophin, der Grenzwächter aus Lorien und einige wenige seiner Schar.

„Willkommen!“, begrüßte er sie herzlichst „Ihr habt länger gebraucht, als wir angenommen hatten.“
„Ja. Das haben wir. Überraschenderweise kamen wir in einen Hinterhalt einer Bande Verräter. Sie haben uns nichts anhaben können, doch stahlen sie uns die Zeit“, entgegnete Amrûn ein wenig ironisch und von der Kampfkraft seiner Gefährten überzeugt „Wenn ihr wollt, können wir heute gleich aufbr…“

Plötzlich stockte Amrûn der Atem. Während er sprach sah er sich die verzweifelten Gesichter der Menschen auf den Nachbartischen. Inmitten der bedrückenden Stimmung begengete ihm ein Lächeln. „Kann es denn sein?“, sagte er zu sich selbst und ging eiligst zu dem Tisch. Das kleine Mädchen stand auf und stieg über die Sitznachbarn hinweg um dem Elben in die Arme zu fallen.

Armûn umfasste sie mit festem Griff und streichelte über ihr dunkelblondes Haar.
„Das ich dich noch einmal sehen darf“, flüsterte er und kämpfte dabei mit den Tränen, einen Kampf, den das Mädchen längst verloren hatte „Meine kleine, tapfere Irwyne.“
„Hallo Amrûn!“, schluchzte sie.
„So oft hab ich an dich gedacht, habe gehofft, dass du überlebt hast. Ich sah dein Lächeln vor meinen Augen und hörte deine helle klare Stimme. Wie lange ist es denn her?“

Sie rang sich ein lächeln ab und blickte ihm ins Gesicht:
„Ein Jahr… mehr als ein Jahr ist es her, dass meine Mutter, mein Onkel, meine Tante und meine Vetter ermordet wurden. Mehr als ein Jahr, dass du mich alleine in Firnharg hast zurück gelassen. Unzählige Tage…“, antwortete sie in leicht vorwurfsvollem Ton.
„Alle sind in der Schlacht gestorben? Nein! Nein, das wollte ich nicht.“
„Ich auch nicht, doch es ist nunmal so geschehen. Ich bin nur froh, dass es dir gut geht.“
„Damals wurde ich überwältigt und sie nahmen mich gefangen. Ich sah, wie sich die Dorfbewohner noch verteidigten, doch dann wurde ich ohnmächtig. Ich erwachte erst wieder weit im Norden nahe Isengart, wo ich von meinen Freunden befreit wurde. Ich hätte dich niemals mit Absicht alleine dort gelassen.“
„Das weiß ich doch.“
Nochmals umarmte sie Amrûn.
„Komm, setzt dich zu uns und erzähle mir von damals, wie du, tapferes Mädchen, überlebt hast und bis hierher gekommen bist und ich stelle dir meine Freunde vor.“

Die mittlerweile 16-jährige Irwyne setzte sich zu Amrûn an den Tisch und die wenige Zeit die sie hatten sprachen sie über das vergangene Jahr. Das Mädchen erzählte von der schwierigen Wanderung von Firnharg nach Edoras, das sie vollkommen zerstört vorfand und ihrem weiteren Weg nach Dunharg. Ein Jahr lang war sie einsam, hatte keine Familie, keine Freunde und fand nirgends Anschluss in diesem misstrauischen Land.

Er erzählte von seinem vergangenen Jahr. Vom Fall Isengarts, dem Triumph Sarumans und der schleichenden Gefahr der Lothlorien nun ausgeliefert war.

„Morgen schon werden wir weiterreiten. Es bleibt nicht viel Zeit, so vermuten wir ehe Saruman zum ersten Schlag ausholt. Wir können leider nur Ahnen wo uns dieser treffen wird.“
„Dann lässt du mich ein weiters Mal zurück.“
„Doch nun in sicherer Umgebung. Dunharg ist nur schwer einzunehmen, wenn es Menschen gibt die es verteidigen.“
„Da magst du Recht haben, aber was ist, wenn ich dich bitte mit dir zu kommen? Hier habe ich keine Freunde, keine Familie. Ich hab nur dich.“
„Ich habe dir einst ein Versprechen gegeben, auf dessen Einhaltung du noch wartest. Natürlich kannst du mitkommen, doch da wo ich hingehe ist es gefährlich und vielleicht kommen wir für lange Zeit nicht mehr zurück.“

Für einen kurzen Moment überlegte sie, doch dann nickte sie mir zustimmend zu.
Noch ehe der Morgen graute saßen die Elben, Amrothos und Irwyne auf die Pferde auf und ritten in Richtung des goldenen Waldes.

Antien, Faendir, Amrûn, Oronêl, Celebithiel, Amrothos, Irwyne und die Grenzwächter auf dem Weg nach Lothlorien.

Melkor.:
Cynewulf aus Helms Klamm

Nach einer tagelangen Reise durch die grünen, flachen Steppen Rohans erreichte Cynewulf schließlich das Hargtal und die Umgebung von Hochborn. Obwohl er die Gegend bestens kennen sollte, erkannte er seine Heimat kaum wieder. Die alten Felder mussten schon länger brach liegen, den sie waren mit wildem Gras bewachsen. Je näher er an das Dorf kam, desto weniger große Bäume waren zu sehen. Sie waren dem Feuer zum Opfer gefallen, das Hochborn verwüstet hatte als die Orks es überfallen hatten. Im Dorf angekommen erlebte Cynewulf ein Grauen, wie er es lange nicht erfahren hatte. Er hatte gehört dass Hochborn verwüstet worden war, hatte es sich jedoch nie so schlimm vorgestellt. Sämtliche Gebäude waren niedergebrannt. Der Boden war an vielen Stellen schwärzlich verfärbt. Langsam schritt Schildbrecher durch das Dorf. Vor einem Gebäude stoppte Cynewulf sein Ross und saß ab. Er nahm einen Apfel aus der Tasche die seitlich am Sattel hing und hielt ihn dem Pferd hin. Dankbar nahm des Tier die Gabe an. Dann setzte er den Weg durch das Dorf fort.

Schließlich stand Cynewulf vor der ehemaligen Türschwelle des Familienhofes seiner Eltern. Dutzende Erinnerung stiegen vor seinem inneren Auge auf. In den Gehegen fand er einzelne Knochen der Pferde oder Rinder die dort gehalten worden waren. Er ging weiter. Vor dem Überresten von Cynerics Haus blieb er kurz stehen und betrat danach die Hausruine. Den Grundriss der Zimmer konnte er noch erkennen, da diese aus Stein gemauert worden waren. Im ehemaligen Zimmer seiner Nichte blieb er stehen. Erneut zogen dutzende Erinnerung, schöne Erinnerungen, an ihm vorbei. Die Sonne stand mittlerweile fast senkrecht über dem Dorf und Cynewulf konnte etwas Glitzerndes im Dreck liegend entdecken. Langsam ging er auf den sonderbaren Gegenstand zu und hob ihn vorsichtig auf. Es war eine alte Kette, einfach und schlicht gehalten die einen kleinen Anhänger in Form einer Träne hatte, dennoch war sie für Cynewulf vom größten Wert. Er hatte sie mit größter Anstrengung selbst geschmiedet und sie später der kleinen Déorwyn zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt...

~~~
"Vorsichtig, du musst keine Angst vor ihm haben," beschwichtigte Cynewulf das kleine Mädchen.
"Ich will nicht runterfallen," gab sie ängstlich zurück.
"Wirst du schon nicht, du musst nur ein bisschen lockerer werden und dich nicht so verkrampfen," ermunterte er sie und gab der jungen Déorwyn neuen Mut. Heute war ihr sechster Geburtstag und auf Bitten seines Bruders nahm Cynewulf seine kleine Nichte für einige Stunden in seine Obhut. Er verbrachte gerne Zeit mit Déorwyn und machte oft Blödsinn mit ihr. "Ja, Ja so macht man das, weiter so," meinte er und lief neben dem Pferd her, auf dem seine Nichte ritt, die Hand stets nur wenige Zentimeter vom Zügel entfernt.
Mit der Zeit wurde Deorwyn immer sicherer. Nach gut einer Stunde kam Cyneric zurüc um nach ihr zu sehen. "Schau, Papa, ich kann reiten" rief sie zu ihm.
"Ich sehe es," antwortete ihr Vater mit gewisser Verwunderung. "Aber jetzt komm - wir haben eine kleine Überraschung für dich."
Cynewulf nahm die Zügel in die Hand, stoppte das Pferd und hob Déorwyn schließlich wieder herunter. Im Haus angekommen bekam Déorwyn einige kleine Geschenk und so überreichte Cynewulf seiner kleinen Nichte die Kette. Mit einem Satz sprang sie ihm um die Schultern und umarmte ihn fest. "Dankeschön," sagte sie und löste die Umarmung.
"Sie scheint dir zu gefallen," gab Cynewulf zurück.
"Ja das tut sie." Déorwyn lächelte glücklich.

~~~
Das Bild verschwomm wieder und Cynewulf kehrte in die Gegenwart zurück. Er steckte die Kette in einer der Taschen. Ich werde dich wieder finden, meine kleine Déorwyn, versprach er sich und ging zurück zu seinem Pferd. Mit einem Satz schwang er sich auf den Rücken seines Hengstes und lenkte ihn Richtung Gondor, das Hargtal hinauf. Er hoffte, in Gondor Hinweise über den Verbleib seiner Familie finden zu können...

Cynewulf zu den Pfaden der Toten

Fine:
Valion aus dem Schwarzgrundtal


Valion passierte das Tor zum Dimholt, der engen Schlucht die jenseits des Eingangs zu den Pfaden der Toten lag und die bei den Rohirrim einen schlechten Ruf hatte. Und kaum war er hindurch, landete ein großes Netz in seinem Gesicht und riss ihn vom Rücken seines Pferdes. Unsanft landete er auf dem weichen Grasboden neben der Straße, die durch die Schlucht führte. Seine Augen brauchten einen Augenblick, um sich nach der Finsternis der Pfade der Toten an die Helligkeit draußen zu gewöhnen, weshalb er anfänglich nur verschwommene Schemen erkennen konnte, die sich über ihn beugten. Was er allerdings allzu gut spürte, war die kalte Speerspitze, die man ihm auf die Brust setzte.
“Was soll denn das,” beschwerte er sich ächzend. “Herr Duinhir schickt mich.” Er hob den linken Arm, an dem das schwarze Stück Stoff befestigt war und das ihn als Gesandten Gondors kennzeichnete.
Mehrere Stimmen tauschten einige Worte auf Rohirrisch aus, ehe jemand Valion unter die Schultern griff und ihn auf die Beine zog. Endlich konnte er erkennen, dass er von Wachen der Eorlingas umstellt war, die Speere und Schwerter gezogen hatten. Doch waren ihre Klingen zuvor noch auf Valion gerichtet gewesen, ließen sie sie nun sinken.
“Ihr müsst entschuldigen,” sagte einer, der der Anführer zu sein schien. Bart und Haare waren grau, und er trug im Gegensatz zu seinen Kumpanen keinen Helm. “Es gab vor wenigen Stunden einen Vorfall. Jemand kam durch die Pfade, der behauptete, im Namen Gondors zu sprechen. Als man das Siegel des Herrn Duinhir nicht an ihm fand, erschlug er kurzerhand zwei gute Männer und entkam nach Nordosten, auf einen kleinen Gebirgspfad hier in der Nähe.”
“Dieser Mann ist der Grund, weshalb ich hier bin,” erklärte Valion und rieb sich den schmerzenden Rücken. “Er hat Verrat und Verbrechen gegen Gondor begangen und ist auf der Flucht. Ich werde ihn aufhalten und zur Rechenschaft ziehen.”
“Auch die Söhne Eorls werden sich nun an ihm rächen wollen,” meinte der Wachhauptmann. “Das Blut der Unschuldigen schreit nach Vergeltung.”
“Dann tätet ihr gut daran, mich gehen zu lassen, damit ich ihm weiter nachjagen kann,” schlug Valion vor.
Der Alte nickte. “Reitet rasch weiter nach Dunharg, weniger als eine Meile von hier entfernt. Und dort, auf der Ostseite der Bergfestung, gibt es einen kleinen Pfad, der erst vor Kurzem entdeckt wurde und der hinab in die Ostfold führt. Pferde können ihn nicht benutzen; dafür ist er zu steil und zu steinig. Dort werdet Ihr die beste Gelegenheit bekommen, diesen Mörder einzuholen. Ist er erst auf den Ebenen der Ostfold angekommen, wird sich die Suche als deutlich schwieriger erweisen.”
Valion lief los und rief dem Wachhauptmann im Laufen zu: “Entsendet dennoch Reiter durch das Hargtal zu der Stelle, an der der Pfad das Gebirge verlässt! Vielleicht seid ihr schnell genug, um ihn dort abzufangen.”

Dunharg lag auf einem breiten Plateau zwischen zwei großen Berggipfeln, das nach Nordwesten an einer gewaltigen Felskante endete. Dort ging es viele hundert Meter steil nach unten hinab. Zugang zu der Bergfestung bot ein sich windender, steiler Weg, der in die Felskante hinein gegraben worden war. Oberhalb dieses Weges standen die Zelte der Wächter des Dimholts, doch auch einige relativ neu aussehende Häuser waren dort erbaut worden und Dorfbewohner gingen ihren Tätigkeiten nach. Sogar einige Kinder waren zu sehen, die zwischen den Häusern spielten. Doch Valion hatte keine Zeit, um anzuhalten. Er fand den Pfad, den der Wachhauptmann ihm beschrieben hatte, am nordöstlichen Ende Dunhargs gelegen. Zwischen zwei aufrecht stehenden Felsen schlängelte sich ein steiniger Weg hinauf ins Gebirge, dessen Gipfel die Bergfestung an drei Seiten umgaben. Valion stieg ab und ließ sein Pferd dort stehen. Die Rohirrim würden sich gut darum kümmern, das wusste er.
Er kam gut voran, denn da er den Großteil des Weges von Anfalas hierher auf dem Rücken seines Reittiers zurückgelegt hatte, war er trotz der Strapazen des langen Rittes noch mehr oder weniger ausgeruht und schlug ein rasches Wandertempo an. Umgeben von steilen Bergwänden schlängelte sich der Pfad in grober nordöstlicher Richtung weiter und weiter in das Weiße Gebirge hinein, und Valion stieg höher und höher. Dunharg war nicht mehr zu sehen, als er auf den ersten Hinweis stieß.

Mitten auf dem Weg lag ein toter Ork. Daneben lehnte ein Soldat Rohans an einem großen Felsen, das vom schwarzen Blut befleckte Schwert neben sich. Er schien sehr erschöpft zu sein, denn er bemerkte Valion erst, als dieser bereits heran gekommen war.
“Seid Ihr verletzt, guter Mann?” fragte Valion rasch.
“Nein, nein, nur etwas außer Atem,” erwiderte der Eorling. “Dieser hinterlistige Bursche hat mich überrascht, und es hat mich einiges an Anstrengung gekostet, ihn loszuwerden.” Er versetzte dem toten Ork einen schwachen Tritt und lächelte. “Eigentlich war ich hinter dem Mistkerl her, der zwei meiner Gefährten am Dimholt ermordet hat. Aber obwohl unsere Königin Rohan von der Besetzung durch die Orks Mordors befreit hat, gibt es in letzter Zeit immer wieder Angriffe aus dem Gebirge. Herr Erkenbrand glaubt, dass sich die letzten Überlebenden der ehemaligen Besatzer im Gebirge gesammelt haben und inzwischen mutig genug geworden sind, um immer wieder Überfälle gegen uns zu starten.”
“Zumindest diesen Überfall scheint Ihr im Griff zu haben,” erwiderte Valion, der es eilig hatte. “Seid unbesorgt. Ich jage denselben Mörder wie Ihr, und ich bin ausgeruht genug um ihn einzuholen. Bleibt hier und ruht Euch aus - ich setze die Jagd fort.”
“Möge Eure Klinge ihr Ziel rasch finden,” wünschte ihm der Soldat Glück. Als Valion schon beinahe außer Hörweite war, rief der Mann ihm noch hinterher: “Wenn Ihr die Stormhére trefft, versucht sie nicht wütend zu machen...“
Was das wohl zu bedeuten hat? fragte sich Valion, doch er entschied, dass ihm die Zeit für eine ausführliche Erklärung fehlte, und so eilte er weiter.

Es dauerte zwei Stunden, in denen Valion sich mühselig durch das Gebirge kämpfte. Der Pfad war an vielen Stellen überaus steil, nur um dann wieder tief hinab abzufallen und durch dunkle Schluchten zu führen, in die nur wenig Sonnenlicht hinab fiel. Die Gipfel ringsum waren bereits von einer frischen Schicht Schnee bedeckt. Der Weg selbst war erst vor wenigen Jahren angelegt worden und war an einigen Stellen von herabgestürzten Steinen blockiert, die Valion vorsichtig überklettern musste. Dann endlich erreichte er die obere Kante eines weiteren steilen Hanges, auf den der Pfad in Schlangenlinien hinauf führte. Oben angekommen konnte er zum ersten Mal auf die andere Seite des Gebirges blicken und sah die weiten, grünen Felder von Rohans Ostfold, die sich vor ihm ausbreiteten. Für einen Augenblick blieb Valion stehen und nahm den Anblick in sich auf. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er nach Rohan kam.
Ein lautes Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich und er entdeckte weiter unten, wo der Pfad zur Ebene hinab abstieg, zwei Gestalten, die offenbar miteinander kämpften. Das Klirren von Stahl auf Stahl war zu hören. Rasch setzte sich Valion in Bewegung. Je näher er kam, desto sicherer wurde er sich, dass er den Verräter Gilvorn endlich gefunden hatte. Doch sein Weg führte Valion steil bergab, und er musste aufpassen, dass er nicht stürzte.
Endlich war er nahe genug gekommen. Es gab nun keinen Zweifel mehr: Gilvorn, der Valions Großvater kaltblütig ermordet und Verrat gegen Gondor und Dol Amroth begangen hatte, kämpfte dort gegen eine Gestalt, die einen grauen Umhang mit Kapuze trug und in jeder Hand eine Waffe trug: links ein Schwert, rechts eine Axt. Valion konnte Gilvorns Gegner nur von hinten sehen, doch er nahm an, dass es sich dabei um einen der Rohirrim-Wächter handeln musste, der den Verräter eingeholt und gestellt hatte. Rasch zog Valion seine eigenen Schwerter und machte sich bereit, in den Kampf einzugreifen.
Er war nur noch wenige Schritte entfernt, als Gilvorn sich unter einem gegen seinen Kopf gezielten Axthieb wegduckte und mit seinem eigenen Schwert einhändig zuschlug. Sein Gegner parierte den Angriff, doch es war nur eine Finte gewesen. Gilvorns Dolch, den er mit der freien linken Hand gezogen hatte, blitzte auf und ein lauter Schmerzensschrei ertönte. Valion war überrascht als er erkannte, dass es sich um die Stimme einer Frau handelte.
“Du kommst zu spät, Valion,” sagte Gilvorn keuchend, aber mit einem Lächeln im Gesicht. Seine Gegnerin taumelte und fiel getroffen rücklings zu Boden. “Wie immer zu spät.” Gilvorn steckte Schwert und Dolch weg und machte mehrere Schritte rückwärts, den Hang hinab.
“Ich lasse nicht zu, dass du dich deiner gerechten Strafe entziehst,” entgegnete Valion und setzte sich in Bewegung, um Gilvorn zu folgen.
“Oh, das würde ich an deiner Stelle nicht tun,” sagte Gilvorn. “Jemand muss sich um sie kümmern, oder sie verblutet. Ich kenne dich - so kaltherzig bist du nicht.”
“Hör nicht auf ihn und schnapp ihn dir, du Idiot,” kam es von der Verletzten, die beide Hände auf ihren Unterleib gepresst hatte. Die Rüstung aus festem Leder, die sie trug, hatte den Dolch Gilvorns nicht aufhalten können. Ein stetig wachsender roter Blutfleck drang zwischen ihren Fingern hervor.
Gilvorn schüttelte mahnend den Kopf. “Selbst dem Tode so nahe ist ihre Zunge noch immer so scharf,” sagte er. “Soll Herr Duinhir so also auch noch sein drittes und letztes Kind verlieren?”
Erst jetzt fiel Valion das Abzeichen von Erech auf, das unter dem Weißen Baum auf der Lederrüstung prangte: eine schwarze Kugel, die für den geheimnisvollen Stein Isildurs stand, der nahe Erech auf dem Gipfel eines kleinen Hügels ruhte. Und wie aufs Stichwort fiel der jungen Kriegerin die Kapuze vom Gesicht und er konnte ihr Gesicht sehen. Rotblonde Haare, die zu einem breiten Zopf geflochten waren rahmten hübsche, aber schmerzverzerrte Gesichtszüge ein und in den grünen Augen brannte ein wildes Feuer. So traf Valion zum ersten Mal Rinheryn von Erech, die Erbin des Tales von Morthond, die von den Rohirrim Stormhére getauft worden war.
“Verdammt,” fluchte er, als er erkannte, dass Gilvorn recht hatte. Er konnte Rinheryn nicht einfach verbluten lassen. Das war er Duinhir schuldig, der bereits seine beiden Söhne Duilin und Derufin auf den Feldern des Pelennor verloren hatte.
“Vielleicht bleibt dir noch genügend Zeit, um sie zu retten, vielleicht aber auch nicht.” Gilvorn klang tatsächlich so, als würde er sich um das Leben der jungen Kriegerin sorgen, doch Valion wusste genau, dass der Verräter sich nur um sich und um sein eigenes Volk scherte.
“Ich werde dich erneut finden, und endgültig aufhalten,” versprach er Gilvorn.
“Rechne besser nicht damit, Valion,” antwortete dieser. “Es ist ein großes, weites Land dort unten. Ich werde längst fort sein, wenn du die Ostfold erreichst.”
“Wir werden sehen, Verräter.”
Gilvorn drehte sich um und eilte davon, ohne eine weitere Antwort zu geben.

“Du... halsstarriger Narr,” stieß Rinheryn angestrengt hervor. “Ich hatte ihn... beinahe.”
Valion kniete sich neben sie und schnitt rasch von ihrem Umhang genügend Stoff ab, um eine einfache Bandage daraus zu fertigen. Doch er konnte sehen, dass die Blutung noch nicht gestillt worden war. Er erkannte, dass er die junge Frau zu einem Heiler bringen musste.
Rinheryn schien das ebenfalls erkannt zu haben. “Dort unten... ist ein Dorf der Rohirrim... es heißt Firnharg.” Sie deutete angestrengt in die Richtung, in die Gilvorn gegangen war. “Stütze mich, dann... sollte ich es schaffen... bis dahin... durchzuhalten.”
Er legte ihren Arm um seine Schulter und half ihr vorsichtig auf die Beine. Langsam machten sie sich auf den Weg nach Nordosten, auf die Ostfold zu.
“Du bist also Duinhirs Tochter?” fragte Valion, während sie weitergingen. “Wo warst du denn, als deine Heimat angegriffen wurde?”
“Du meinst die Schlacht... im Tal? Ich war hier, in Rohan... und habe Orks gejagt,” antwortete Rinheryn. “Einige von ihnen... waren auch in Morthond gesichtet worden... und ich schwor, keinen von ihnen... entkommen zu lassen. Also folgte ich ihnen... bis nach Rohan. Die Rohirrim... nahmen meine Hilfe nur zu gerne an. Doch was... tust du hier? Wer bist du?”
“Ich bin Valion vom Ethir, und jage Gilvorn, den Verräter. Wärest du nicht gewesen, hätte ich ihn bereits erwischt.” Er hatte es nicht so anklagend gemeint, wie es geklungen hatte, also fügte er rasch hinzu: “Nichts für ungut, äh... wie heißt du eigentlich?”
“Valion vom Ethir. Wirklich. Und ich bin die Königin Berúthiel von Gondor.” Rinheryn sprach nun mit weniger Problemen. Vermutlich war ihre Blutung inzwischen versiegt, doch sie schwebte noch immer in Lebensgefahr.
“Du glaubst mir also nicht.”
“Wärest du wirklich dieser selbstverliebte, schwerenötige Schönling Valion, hättest du ein einziges Mal in deinem Leben das Richtige getan und hättest mich links liegen lassen. Ich wäre schon zurecht gekommen.”
Trotz der Umstände musste Valion lachen. “Du wärst wenige Minuten nach meinem Abgang verblutet.”
“Und du hättest den Verräter erwischt. Das wäre es wert gewesen. Es wäre gerecht gewesen. Dafür wäre mein Tod kein zu großes Preis gewesen.”
“Ein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit, wie mir scheint,” sagte Valion. “Und dennoch glaubst du mir nicht, wenn ich dir die Wahrheit sage? Ich bin Valion, Held von Gondor, der die Herrin Lothíriel aus Umbar gerettet und sicher nach Hause gebracht hat.”
Rinheryn musterte ihn, während sie sich mühsam den Pfad hinab schleppte. “Also gut. Du bist vermutlich wirklich Valion vom Ethir. Das klang gerade schon eher nach dir. Ich bin Rinheryn von Erech... aber das ist ein unsinniger, blöder Titel. Er macht mich nicht zu etwas Besonderem... das mache ich selber. Du kannst mich Rinya nennen.”
“Rinya also. Kurz und prägnant. Gefällt mir.”
“Halt den Mund und geh schneller. Die Schmerzen sind gerade noch so zu ertragen.”
“Dort vorne liegt schon das Dorf. Halte durch, es ist nicht mehr weit.”


Valion und Rinheryn nach Firnharg am Weißen Gebirge

Fine:
Oronêl und Kerry aus Edoras


Die Straße von Edoras, die durch das Hargtal hinauf bis nach Dunharg führte, stieg zunächst nur sehr sanft an. Der Ausgang des Tales war geprägt vom Fluss Schneeborn, der aus dem Gebirge hinab strömte und sich jenseits von Edoras mit der Entwasser vereinte. Oronêl und Kerry hatten den Fluss auf einer breiten Holzbrücke direkt außerhalb der Hauptstadt Rohans überquert und waren dann der Straße nach Süden gefolgt. Die Spitzen des Weißen Gebirges ragten weit oben über ihren Köpfen hinauf. Drei besonders markante Gipfel stachen daraus hervor, wie ein breites Massiv, das das Land der Pferdeherren bewachte. Kerry, nein Déorwyn, kannte ihre Namen seit ihrer frühsten Kindheit, war sie doch in deren Schatten aufgewachsen: Starkhorn, Irensaga, und in der Mitte der düstere Dwimorberg.
Mit jedem Schritt, den Kerry auf Oronêls Spuren ins Hargtal hinein tat, wurde ihr mehr bewusst, dass sie tatsächlich ihre alte Heimat wiedersehen würde. Hochborn, die kleinste der drei Siedlungen im Hargtal, lag zwar etwas abseits der Straße nach Dunharg, doch man konnte das Tal nicht hinauf gehen, ohne das Dorf zumindest von Weitem zu sehen.
Kerry seufzte. Ihre Zweifel an ihrem Vorhaben, Oronêl irgendwie auf dem Weg nach Dol Amroth von seiner Fahrt in den Westen aufzuhalten, waren seitdem sie die Grenzen Rohans überschritten hatte, immer wieder angewachsen. Jetzt, da sie das Weiße Gebirge erreicht hatte, konnte sie deutlich sehen, was die Berge für sie darstellten: Eine Entscheidung, die sie treffen musste. Jenseits der Berge lag Gondor - ein Land, das Kerry niemals betreten hatte. Sie hatte Geschichten darüber gehört, doch diese hatten meistens von Kampf und Krieg gehandelt, und davon hatte sie im Norden bereits genug erlebt. In Gondor lag der Hafen von Dol Amroth - Oronêls Ziel und dem Plan nach letzter Aufenthaltsort in Mittelerde. Doch abgesehen davon gab es nichts, was Kerry dazu motivierte, das Gebirge zu durchqueren und sich weiter gen Süden zu wenden.
Denn auf der Nordseite des Weißen Gebirges lag so vieles, das sie zum Bleiben rief. Der Weg nach Eregion führte durch die Pforte von Rohan und zum Wiedersehen mit Mathan, Halarîn und den übrigen von Kerrys elbischen Freunden. Eigentlich alle, die Kerry kannte, lebten in Eriador oder in Rhovanion - in Gondor wäre es nur Oronêl, der, sollte Kerry scheitern, bald schon verschwunden wäre und sie ganz allein in einem ihr fremden Land zurücklassen würde. Außerdem lag Dunland auf dem Weg nach Eregion, und Aéd selbst, den Kerry in Edoras knapp verpasst hatte, war sogar nach Rohan gekommen. Er würde es sich ganz gewiss nicht nehmen lassen, Kerry auf dem Weg nach Eregion zu begleiten. Und Kerry war einem Wiedersehen mit dem Wolfskönig der Dunländer ganz gewiss nicht abgeneigt.
Rohan selbst bot weitere Gründe dafür, auf der Nordseite der Berge zu bleiben. Kerry konnte sich im Hargtal nach alten Bekanntschaften umhören und vielleicht herausfinden, ob noch jemand aus Hochborn überlebt hatte. Und sie konnte nach Aldburg gehen und mit etwas Glück einen Hinweis auf den Aufenthaltsort ihres Vaters erfahren oder dort auf seine Rückkehr warten.
Erschrocken stellte Kerry fest, dass es allein Oronêls Schicksal war, das jenseits des Gebirges lag. Abgesehen davon gab es nichts, was Kerry weiter nach Süden zog. Sie rieb sich die Schläfen. Ihr Kopf tat weh vom vielen Nachdenken.
"Kerry?" fragte Oronêl, der stehen geblieben war und sich nach ihr umblickte. "Ist alles in Ordnung?"
Sie antwortete nicht. Denn sie hatte keine Antwort auf diese Frage.
"Kerry," sagte Oronêl, mit etwas mehr Nachdruck. "Lass' uns weitegehen. Ich hatte gehofft, vor Einbruch die Pfade der Toten zu erreichen und entweder in Dunharg zu übernachten oder vielleicht sogar noch bis nach Gondor vorzurücken."
Kerry blickte sich um und stellte fest, dass sie das Dorf Unterharg bereits passiert hatten und den Weg bis nach Dunharg schon bis zur Hälfte hinter sich gebracht hatten. Die Landschaft, die von der bereits tief stehenden Sonne erhellt wurde, kam ihr unglaublich vertraut vor. Jenseits des kleinen Wäldchens, das sie gerade durchquerten, lag die Wegkreuzung von Hochborn. Kaum einen Steinwurf von der Straße entfernt hatte Déorwyns Heimatdorf einst gestanden. Und nun, so nahe an der Heimat, musste Kerry feststellen, dass sie vor Anspannung kein Wort herausbekam. Sie musste Hochborn sehen.
Sie rannte los, verfolgt von Oronêls verwirrten Rufen. Doch sie schenkte ihm keine Beachtung. In diesem Moment zählte es nicht, was er von ihr denken mochte. Ihre Füße vergaßen die Strapazen der langen Reise vom Waldlandreich bis nach Rohan und sie sprintete aus dem Wäldchen hinaus, mitten auf die Felder, die sich in das enge Tal rings um Hochborn schmiegten. Und dann sah sie es. Sie war ... zu Hause.

Hochborn lag vor ihr. Die meisten Häuser waren noch in demselben Zustand wie in ihren Erinnerungen, die sich nun nicht länger verdrängen ließen. Vor ihrem inneren Auge loderten die Flammen des Krieges erneut auf und verschlangen das Dorf, in dem sie ihr ganzes Leben lang gewohnt, gelacht und gelebt hatte. Kerry blinzelte heftig und rieb sich die Augen. Rauch und Feuer verschwanden und zeigten ihr die kalten, verkohlten Ruinen des Dorfes, die in all den Jahren beinahe unangetastet geblieben waren. Die wenigen Überlebenden mussten sich wohl in Dunharg angesiedelt haben, vermutete sie. Schweigend stolperte sie durch das verlassene Hochborn. Ohne dass sie ihre Schritte bewusst lenkte, trugen ihre Füße sie zu dem kleinen Haus, das am Westrand des Dorfes nahe der Klippen des Starkhorns gestanden hatte. Nur die Grundfesten waren davon übrig geblieben. Daneben war ein einsamer Grabstein in den Boden getrieben worden. Kerry musste die Runen darauf nicht lesen, um zu wissen, dass hier ihre Mutter begraben lag. Sie hätte weinen sollen, doch ihre Augen blieben trocken. Zu viel war geschehen, und zu wenig hatte sie verarbeitet, was hier geschehen war, um die richtigen Gefühle zu finden und Schmerz und Verlust anzunehmen. Sie fiel auf die Knie und schloss die Augen, unfähig, irgend etwas anderes zu tun.

Oronêl war lautlos heran gekommen. Kerry spürte mehr als dass sie es wirklich wahrnahm, dass er da war. Doch dann legte er ihr die Hände auf die Schultern und das brachte sie dazu, tief einzuatmen.
"Dies war... Hochborn? Deine Heimat," stellte er fest, einen seltsamen Klang in der Stimme.
Sie nickte und fragte sich, ob er sich wohl über den Umweg ärgerte, zu dem Kerry ihn gezwungen hatte.
"Auch ich habe mein Zuhause an ein Feuer verloren," fuhr Oronêl fort. "Du bist mutiger als ich es bin, Kerry, wenn du die Kraft gefunden hast, hierher zurückzukehren."
"Ich... ich konnte doch nicht einfach... daran vorbeigehen," stammelte Kerry.
Oronêl seufzte. "Nein, vermutlich nicht."
"Lass uns heute Nacht hier bleiben," bat Kerry und erhob sich, drehte sich zu Oronêl um. Sie erschrak, als sie den Unwillen in seinen Augen sah. "Bitte," fügte sie leise hinzu. "Das Nachbarshaus ist noch beinahe intakt. Ich... kann heute nicht weitergehen, Oronêl, ich kann einfach nicht."
Oronêl schien mit sich zu kämpfen. Sie sah, wie Mitleid über sein Gesicht huschte und mit dem Wunsch stritt, so rasch wie möglich Dol Amroth zu erreichen.
"Nur eine Nacht," flehte Kerry. "Gondor wird doch gewiss auf uns warten, oder nicht?"
Die Art und Weise, wie Oronêls Brauen sich um eine Winzigkeit bei ihren letzten Worten hoben, machten Kerry klar, dass sie zuviel gesagt hatte. "Auf uns?" wiederholte Oronêl und er verschränkte die Arme vor der Brust. "Kerry, du willst doch gar nicht wirklich nach Süden gehen. Dein Gesichtsausdruck, seit wir Rohan betreten haben, spricht Bände. Alles was dir wichtig ist, ist auf dieser Seite des Gebirges."
Kerry, erstaunt und verärgert darüber, wie leicht es Oronêl offenbar fiel, ihre Gedanken zu erraten, holte tief Luft. "Du hast mir nicht zu sagen, was ich will, oder nicht. Ich habe mir vorgenommen, auf dem Weg nach Dol Amroth nicht mehr über deinen hirnrissigen Plan, in den Westen zu segeln zu sprechen, aber du kanntest den Preis dafür. Ich komme mit, bis du an diesem verdammten Hafen in Gondor stehst, und ich werde dich davon abbringen, dieses Schiff zu betreten, egal, was es mich kostet." Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte Oronêl zornig an.
Auch sein Gesichtsausdruck war hart geworden. "Es ist Torheit, mich davon abbringen zu wollen, und Torheit, jetzt nach Gondor zu gehen, Kerry. Du wirst dort nichts erreichen, denn meine Entscheidung steht fest. Und dann wirst du in Dol Amroth auf dich allein gestellt sein, ohne Freunde und Bekannte, und dir wünschen, in Rohan geblieben zu sein."
"Und wessen Schuld wird es gewesen sein, wenn ich einsam am Hafen zurückbleiben muss?" hielt Kerry dagegen.
"Ich streite mich nicht mit dir darüber," sagte Oronêl, eindeutig verärgert. "Hör auf meinen Rat und lass mich ziehen. Bleibe in Rohan."
"Auch wenn du mich im Stich lassen würdest, würde ich dir so etwas niemals antun, Oronêl," schrie Kerry und jetzt begannen ihre Tränen zu fließen. Sie stolperte rückwärts, weg vom Grab ihrer Mutter und weg von Oronêl, dessen Arm sich für einen Augenblick in ihre Richtung bewegte, ehe er ihn wieder sinken ließ. "Ich lasse dich nicht alleine, und ich lasse dich nicht gehen, denn... denn dazu liebe ich dich zu sehr!"

Oronêls Mund öffnete und schloss sich wieder. Er war sprachlos. Kerry konnte ihn nicht länger ansehen, seinen Anblick keine Sekunde länger ertragen. Sie drehte sich um und hastete auf das Nachbarshaus zu. Die Tür stand offen. Sie kam in einem leeren Zimmer, in dem nichts bis auf ein staubiges Bett stand. Kerry schniefte und schlug die Tür hinter ihr zu. Dann warf sie sich auf das Bett und wollte nichts mehr hören oder sehen.

Eandril:
Oronêl verharrte wie angewurzelt, ohne sich zu rühren, während die Sonne sich im Westen allmählich dem Horizont entgegen senkte und die Spitzen der Berge rot erglühen ließ. Schließlich, es war sicherlich mehr als eine Stunde vergangen und die Sonne war beinahe vollständig untergegangen, schüttelte er langsam den Kopf, und wandte den Blick von der Tür ab, hinter der Kerry verschwunden war. Stattdessen wandte er sich dem  niedrigen Grabstein hinter sich zu, und fuhr sanft mit dem Finger über die bereits moosbewachsenen Runen. Féorthryth, stand dort, und etwas in der Sprache Rohans, das Oronêl nicht lesen konnte. Kerrys Name hingegen fehlte, und es gab auch keinen eigenen Stein für sie. Cyneric hatte seine Tochter nie ganz aufgegeben, wurde Oronêl klar, solange er keinen Beweis für ihren Tod gehabt hatte. Nie aufgeben... doch jene, die Oronêl liebte, waren wirklich tot oder fort.
Seine Hand betastete gedankenverloren die rauhe Oberfläche des Steins, während das letzte Sonnenlicht schwand und die ersten Sterne am Himmel blinkten. Mit einem Mal überkam Oronêl ein so heftiges Bedürfnis, seine eigene Tochter zu sehen und mit ihr zu sprechen, dass es beinahe schmerzte. Hier, vor dem Grabstein von Kerrys Mutter wurde Oronêl zum ersten Mal klar, wie sehr seine eigene Geschichte der ihres Vaters ähnelte. Sie beide hatten ihre Heimat in Flammen und Tod verloren, beide hatten ihre Frau verloren, jahrelang ihre Tochter verloren geglaubt, Freunde an den Krieg verloren, und lebten in einer Welt, in der es nichts mehr für sie zu geben schien.
Und doch... es gab keinen Grabstein für Kerry - für Déorwyn. Wo Oronêl aufgegeben hatte, erhielt Cyneric sich den kleinsten Funken Hoffnung. Doch für Cyneric gab es keinen Ausweg, es gab keinen Weg nach Westen, zu einem Wiedersehen mit seinen geliebten Menschen. Vielleicht hatte Kerry recht mit dem, was sie ihm in Rhosgobel vorgeworfen hatte, vielleicht war er ein Feigling, der nach dem leichteren Weg suchte, anstatt den schwereren bis zum Ende zu gehen. Zum ersten Mal seit langem begann Oronêl an seiner Entscheidung zu zweifeln.
Leichtfüßig kam Oronêl auf die Füße und wandte sich um. Die Tür des Nachbarhauses war noch immer geschlossen, und nichts regte sich dahinter. Kurz vor der Tür hielt er inne, die Hand ausgestreckt. Was sollte er sagen? Er konnte Kerry keine Hoffnung geben, denn ihm fehlte die Kraft, sich von seinem eingeschlagenen Weg abzuwenden. Und Kerry würde es auch weiterhin nicht verstehen können, ganz gleich, was er sagte, also... Oronêl unterbrach seine Gedanken, als er leisen Hufschlag vom Eingang des Dorfes hörte. In der Dunkelheit erkannte er zwei Reiter, die sich langsam der Dorfmitte näherten. Ohne einen Laut zu machen, huschte Oronêl um das Haus herum, und beobachtete die Neuankömmlinge aus dieser Deckung heraus.
"Müssen wir wirklich in diesem Geisterdorf übernachten?" Eine weibliche Stimme. "Hier ist es ziemlich gruselig."
"Ich habe dir meine Gründe erklärt, Zarifa", erwiderte eine männliche Stimme. Der Mann sprach mit einem beinahe unhörbaren singenden Akzent, der den Bewohnern Rohans zu eigen war. Dennoch blieb Oronêl ohne Bewegung in seinem Versteck, während die beiden Reiter absaßen. Wer sein Nachtlager in einem verlassenen, niedergebrannten Dorf aufschlug, hatte in der Regel seine Gründe dafür - und es wäre ein merkwürdiger Zufall, sollten noch andere ehemalige Bewohner Hochborns ausgerechnet an diesem Tag ihre alte Heimat besuchen. Die Frau stieß einen leisen Fluch aus, in einer Sprache, die Oronêl nicht kannte - was seine Besorgnis nur verstärkte. Er würde etwas unternehmen müssen, bevor Kerry das Haus verließ und den Neuankömmlingen direkt in die Arme lief.
Während jene versuchten, ein kleines Feuer in Gang zu bringen, schlich Oronêl um das Haus herum, sodass er sich nun in ihrem Rücken befand. Er brachte die wenigen offenen Meter zwischen ihnen lautlos hinter sich, schlang der jungen Frau den rechten Arm um den Hals und setzte ihr mit der Linken die Spitze seines Dolchs an den Rücken. Sie stieß einen erstickten Laut des Schreckens aus, und im selben Augenblick sagte Oronêl: "Lass deine Waffen fallen und dann dreh dich langsam um." Der Mann, der vor dem inzwischen schwach brennenden Feuer hockte, richtete sich langsam auf, und schnallte mit sparsamen Bewegungen, die einen lebenslangen Krieger verrieten, seinen Schwertgurt ab. Dabei sagte er: "Wer immer ihr seid, wir sind keine Feinde Rohans." Das Mädchen - Zarifa, erinnerte Oronêl sich, zappelte ein wenig mit den Beinen, hielt aber erneut still, als er den Druck seines Dolches verstärkte. "Sagen könnt ihr viel", erwiderte Oronêl. "Ich will..." Als der Mann sich umdrehte, verstummte Oronêl vor Überraschung und hätte beinahe den Dolch fallen gelassen. Er ließ das Mädchen los, dass sofort einen Schritt von ihm weg machte, und ihn mit einer gleichermaßen überraschten und zornigen Miene anstarrte. Oronêl musste leise über die Seltsamkeit der Situation lachen. "Cyneric, Cynegars Sohn. Ich muss gestehen, euch hätte ich hier nicht erwartet."

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