Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rohan

Dunharg und das Hargtal

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Fine:
Zarifa und Cyneric aus der Wold


Nach ihrer Übernachtung in einem der kleineren Dörfer jenseits der Entfurt hatte Cyneric eigentlich vorgehabt, zunächst direkt nach Aldburg zu reiten und Erkenbrand seinen lange fälligen Bericht über die Situation zu erstatten. Doch gerade in dem Moment, als sie mit der Morgensonne aufgestanden waren (wobei Zarifa deutlich unwilliger als Cyneric die weichen Betten im Gasthaus hinter sich gelassen hatte), war ein berittener Bote in das Dorf gekommen. Der Reiter war unterwegs zur Nordgrenze Rohans und hatte kaum länger als einige Minuten Pause gemacht, um sein Pferd gegen ein frisches Ross auszutauschen. In einem eher beiläufigen Gespräch mit dem Stallburschen hatte der Bote erwähnt, dass er aus Edoras kam und der Wiederaufbau dort im vollen Gange sei.
Cyneric, der die Unterhaltung zufällig mit angehört hatte, hatte kurzerhand entschlossen, sich den Fortschritt des Wiederaufbaus mit eigenen Augen anzusehen. Er war damals dabei gewesen, als Edoras ein Opfer der Flammen des Krieges geworden war und freute sich darüber, dass die Herrscher Rohans sich nun endlich dazu entschlossen hatten, ihre rechtmäßige Hauptstadt wieder aufzubauen. Außerdem gab es einen weiteren Grund, der ihn dazu brachte, direkt nach Süden und nicht nach Osten nach Aldburg zu reiten. Jenseits von Edoras lag das Hargtal, Cynerics Geburtsort, und dort stand der Grabstein seiner Frau. Zarifa hatte er nichts davon erzählt, doch als er sein Pferd in Richtung Edoras gelenkt hatte, hatte sein Entschluss festgestanden, den Umweg bis nach Hochborn auszudehnen.

Als sie Edoras am Mittag desselben Tages erreicht hatten, wartete eine weitere Überraschung auf Cyneric. Am Tor war tatsächlich sein alter Gefährte Dunstan Wache gestanden. Er war Teil der Gruppe von heimatlosen Rohirrim gewesen, der sich Cyneric nach seiner Rückkehr aus dem Krieg in Gondor angeschlossen hatte und mit der er ein langes Jahr über Orks in Rohan gejagt hatte, bis sie sich dem Heer Éowyns und Faramirs angeschlossen hatten.
Die beiden alten Freunde hatten sich herzlich begrüßt und Dunstan hatte dem staunenden Cyneric gut gelaunt berichtet, dass es hauptsächlich Dunländer waren, die den Wiederaufbau von Edoras voran brachten.
„Und das sind noch nicht alle guten Neuigkeiten,“ hatte Dunstan lächelnd hinzugefügt. Unter Zarifas prüfendem (oder vielmehr entnervtem) Blick hatte der altgediente Krieger gesagt: „Dein kleines Mädchen, deine Déorwyn, ist hier gewesen, erst vor ein paar Stunden. Sie ist mit einem der Elben ins Hargtal gezogen.“
Cyneric war sich sicher gewesen, dass ihm Dunstan den hastigen Abschied nicht übel genommen hatte. Vielleicht würde er schon bald nach Edoras zurückkehren, an der Seite seiner Tochter, und sie würden sich in Ruhe alles erzählen können, was seit ihrem letzten Treffen geschehen war.

Der Ritt das Hargtal hinauf kam Cyneric vor, als trüge ihn Rynescéad durch einen vielschichtigen Traum. Ein leichter Nebel hatte sich zwischen den Niederungen des Tals gesammelt, während die Sonne hinter den Gipfeln verschwand und verlieh den Feldern, die Cyneric einst so gut gekannt hatte, ein geheimnisvolles und beinahe fremdes Erscheinungsbild. Sie ließen die Pferde im Schritt gehen, während sie das Dorf Unterharg passiert. Lichter von Lampen und Fackeln in der Ferne luden sie ein, die heraufziehende Nacht dort zu verbringen, und als Zarifa das Gasthaus am Eingang des Dorfes entdeckte, wollte sie ihr Pferd bereits dorthin lenken, doch Cyneric hielt sie auf.
„Wir können noch nicht anhalten,“ sagte er, mehr zu sich selbst als zu der jungen Südländerin. „Wir müssen weiter gehen... Vielleicht können wir im nächsten Dorf übernachten.“
„Wieso?“ wollte sie berechtigterweise wissen.
„Weil dort weniger Leute sind,“ gab er ihr eine knappe Antwort. Sein Mund war trocken, so trocken wie schon lange nicht mehr. Ein Teil von ihm wollte Rynescéad zum vollen Galopp antreiben, doch da waren noch immer Zweifel, die ihm eine tief sitzende Angst einflößten. Was, wenn seine Hoffnungen im letzten Moment enttäuscht wurden? Er hatte von Orks gehört, die seit der Befreiung Rohans im Weißen Gebirge ihr Unwesen trieben. Was würde sein, wenn er in Hochborn erneut nur die Leiche eines Mitglieds seiner Familie vorfinden würde?
Während sie das Wäldchen passierten, das zwischen Unterharg und Hochborn lag, musste Cyneric an seinen jüngeren Bruder Cynewulf denken, der in Helms Klamm stationiert war. Beinahe wünschte er sich, Cynewulf an seiner Seite zu wissen und sich dem, was in Hochborn auf ihn wartete, gemeinsam zu stellen. Doch dafür war es nun zu spät. Bis nach Helms Klamm war es mindestens ein Tagesritt, und wenn Cyneric jetzt zögerte, würde Oronêl mit seiner Tochter weiter nach Gondor ziehen, wie Finelleth es angekündigt hatte. Und dort würde sich ihre Spur vermutlich wieder verlieren.
Er straffte sich innerlich und beschleunigte seinen Ritt, um das Wäldchen hinter sich zu lassen.

Hochborn tauchte aus den Nachschatten auf. Es hatte sich in den Jahren seit Cynerics Rückkehr aus dem Krieg nicht verändert. Kein einladendes Feuer brannte auf dem kleinen Platz im Zentrum des Dorfes und keine Lampen spendeten den Dorfbewohnern Licht. Die Ruinen der Häuser waren nicht wieder aufgebaut worden - vermutlich hatten die wenigen Überlebenden des Ork-Angriffes sich nach Dunharg geflüchtet.
Cyneric fiel auf, dass er unbewusst den Atem angehalten hatten, sobald sie das zerstörte Dorf betreten hatten. Zarifa hingegen schien nicht dasselbe Unbehagen zu verspüren, das von Cyneric in Hochborn Besitz ergriffen hatte.
„Müssen wir wirklich in diesem Geisterdorf übernachten?“ beschwerte sie sich, als sie sich, noch immer beritten, langsam der Mitte des Dorfes näherten. „Hier ist es ziemlich gruselig.“
„Ich habe dir meine Gründe erklärt, Zarifa,“ wiegelte Cyneric sie ab. Noch immer wagte er nicht, mehr zu sagen. Eine unerklärliche Angst davor, kurz vor seinem Ziel enttäuscht zu werden, hielt ihn davon ab.
Zarifa fluchte. Cyneric hatte inzwischen genügend Zeit mit ihr verbracht, dass er die Bedeutung der haradischen Wörter, die die junge Frau ausstieß, recht gut erkannte. Er warf ihr einen Blick zu, der halb Bitte und halb Zurechtweisung sein sollte. Zarifa verdrehte die Augen und stieß vom Pferd.
Während Cyneric ebenfalls aus dem Sattel glitt, blickte er sich vorsichtig um. Zarifa hatte Recht gehabt: Hochborn wirkte finster und verlassen, was dem Dorf etwas Unheimliches verlieh. Es war zu dunkel, um nach Spuren von anderen Reisenden zu suchen. Cyneric beschloss, für etwas Licht zu sorgen und begann, auf der freien Fläche im Dorfzentrum ein kleines Feuer in Gang zu bringen. Glücklicherweise regnete oder schneite es nicht.
Ein ersticktes Geräusch, das von Zarifa zu stammen schien, ließ Cyneric mitten in der Bewegung erstarren. Eine Stimme hinter ihm sagte: „Lass deine Waffen fallen und dann dreh dich langsam um.“ Cyneric, bedacht darauf, den Unbekannten nicht durch hastige Bewegungen zu provozieren, schnallte vorsichtig seinen Schwertgurt ab. Die Waffe landete sanft im weichen Gras zu seinen Füßen.
„Wer auch immer Ihr seid - wir sind keine Feinde Rohans,“ sprach er und begann sich zu Zarifa umzudrehen.
„Sagen könnt Ihr viel. Ich will...“ Der Fremde verstummte, als seine Augen Cynerics Blick trafen.
Zarifa befreite sich aus dem Griff, in dem der Mann sie gehalten hatte. Seine Haare waren lang, doch welche Farbe sie hatten, war im Dunkeln nur schwer zu erkennen. Doch da fiel das erste Licht des langsam aufflackernden Feuers auf sein Gesicht.
„Cyneric, Cynegars Sohn. Ich muss gestehen, Euch hätte ich hier nicht erwartet,“ sagte Oronêl, Herr von Lothlórien und Finelleths Blutsverwandter.
„Herr Oronêl,“ stieß Cyneric hervor - weniger erstaunt als Oronêl es war, hatte ihm Finelleth doch bereits erzählt, in wessen Begleitung Déorwyn reiste. „Wie schön, dass Euch Euer Weg nun tatsächlich einmal nach Hochborn geführt hat.“
Zarifa warf verwirrte Blicke zwischen den beiden Männern hin und her. „Du kennst ihn?“ fragte sie Cyneric mit einem eindeutig gereizten Unterton.
„Wo sind denn meine Manieren,“ sagte Oronêl, in dessen Stimme nichts mehr von der Schärfe lag, mit der er wenige Augenblicke zuvor noch Cyneric dazu aufgefordert hatte, die Waffen fallen zu lassen. Der Waldelb deutete eine Verbeugung an und sagte: „Mein Name ist Oronêl Galion, und wenn mich meine Ohren nicht trügen - und das tun sie dieser Tage selten - lautet deiner Zarifa, richtig?“
Die junge Südländerin verschränkte die Arme vor der Brust. „Hast du uns etwa belauscht, Oronelgalion?“
„Das ist jetzt nicht wichtig, Zarifa,“ sagte Cyneric beschwichtigend. „Stattdessen...“
Oronêls Blick traf seinen. „Dort,“ sagte der Elb und deutete auf eines der wenigen noch intakten Häuser. „Ich weiß, weshalb du hier bist, Cyneric. Geh zu ihr.“
Cyneric folgte Oronêls ausgestrecktem Finger. Er erkannte das Haus. Eine junge Familie hatte dort gelebt, bis der Krieg nach Rohan gekommen war. Sie waren freundliche Nachbarn gewesen. Das Paar war bei Cynerics erster Rückkehr nach Hochborn unter den vielen Opfern der Orks gewesen.
Er begann mit langsamen Schritten darauf zuzugehen.

Das Haus lag unweit der Felswand, die das Hargtal in westlicher Richtung begrenzte. Auf dem Weg dorthin kam Cyneric am Grabstein seiner Ehefrau vorbei. Er hielt für einen Augenblick inne und beugte das Haupt in Erinnerung an Féortryth, die ihm so viele schöne Tage beschert hatte. Inzwischen war es leichter, an sie zu denken, als damals, als er sie tot auf der Schwelle seines Hauses gefunden und zu Grabe getragen hatte.
Ich frage mich, was Milva wohl von all dem hier halten würde, dachte er unwillkürlich.
Dann stand er vor der Tür des Nachbarhauses. Sie war verschlossen, aber nicht verriegelt. Im Inneren war es dunkel. Als Cyneric die Hand auf den Türgriff legte, stellte er fest, dass er zurückschreckte. Was, wenn sich jenseits dieser Tür nicht seine Tochter befand? Was, wenn Finelleth und Oronêl sich geirrt hatten? Er blieb wie versteinert stehen.
Mehrere Minuten vergingen. Dann fasste er sich ein Herz und kehrte zum Feuer zurück, um sich eine Fackel anzuzünden. Die Situation, die er dort vorfand, wäre zu jeder anderen Zeit äußerst komisch gewesen: Oronêl, der sein Messer reinigte, warf hin und wieder beiläufige Blicke zu Zarifa hinüber, die ihm am Feuer gegenüber saß und den Waldelben feindselig anstarrte. Offenbar war seit Cynerics Weggang kein Wort zwischen den beiden gefallen. Er seufzte leise. Noch etwas, worum ich mich kümmern muss, dachte er, ehe er alle Gedanken an Oronêl und Zarifa für den Moment aus seinem Kopf verbannte.
Mit der entzündeten Fackel in der Hand kehrte er zu der Tür zurück, vor der er zurückgeschreckt war. Auch diesmal gelang es ihm nicht gleich, sie zu öffnen. Doch dann gab er sich einen innerlichen Ruck und öffnete die Tür - vorsichtig und leise. Er trat über die Schwelle und warf einen Blick in den Raum, der vom Fackellicht erhellt wurde. Bis auf ein Bett in der hinteren Ecke war das Zimmer leer. Cyneric holte tief Luft und kam näher. In dem Bett lag eine schlafende Gestalt, in eine dünne braune Decke gewickelt. Ihr Rücken war Cyneric zugewandt.
Als er das Bett erreicht hatte, hielt Cyneric die Anspannung kaum noch aus. Blonde Haare lugten unter der Decke hervor. Sanft berührte er das schlafende Mädchen an der Schulter. Keine Reaktion antwortete ihm.
Er setzte sich auf die Bettkante und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Dann strich er ihr die Haare aus dem Gesicht und erkannte... seine Tochter. Sie war es wirklich.
„Déorwyn,“ flüsterte er. Sein Herz wollte in seiner Brust schier zerspringen. Seine Kehle schnürte sich zu und Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln. Sie war es wirklich und sie war am Leben. Endlich hatte er sie gefunden.
Er wiederholte ihren Namen. Doch sie erwachte nicht. Ihm fiel auf, dass sich ihre Brust nicht bewegte. Sie wirkte als wäre sie tot.
Nein, dachte er entsetzt. Das darf nicht sein... Er erhob sich und blickte sich hastig im Raum um, als gäbe es dort irgend etwas, das ihm jetzt noch helfen könnte.
„...wer ist da? Oronêl? Ich... will nicht mit dir reden,“ murmelte eine verschlafene Stimme hinter ihm. Ihre Stimme. Er fuhr herum.
Und da war sie, halb im Bett aufgerichtet, einen wachsamen Ausdruck in ihren grünen Augen. Ihr Gesichtsausdruck, geprägt von einer Zarifa gar nicht unähnlichen Verärgerung, löste sich, als sie ihn erkannte. Große Freude und Überraschung spiegelten sich auf ihrem Gesicht und ihre Augen leuchteten.
„Déorwyn,“ sagte er voller Wärme und da fiel sie ihm um den Hals.
Seine Arme schlossen sich um sein kleines Mädchen und Cyneric wollte sie am liebsten nie mehr loslassen. Leicht wie eine Feder hielt er sie, während ihre Freudentränen seine Brust benetzten. Er legte ihr die linke Hand auf den Kopf und strich ihr sanft durchs Haar, bis sie die Sprache wiederfand.
„Wie... wie kann es nur sein, dass du hier bist?“ sagte Déorwyn.
„Ich habe dich gesucht, meine Kleine,“ antwortete er und vor seinem inneren Auge sah er erneut die lange Reise, die er hinter sich gebracht hatte, um an diesen so glücklichen Moment zu gelangen. „Es... ist eine lange Geschichte.“
„Ich will sie hören. Von Anfang an,“ forderte sie. Und da stellte er fest, dass sie, obwohl sie noch immer seine Tochter war, erwachsener geworden war. Ihr Blick huschte an ihm vorüber, zur Tür hin, und Cyneric drehte sich um. Dort stand Oronêl, gelehnt an den Türrahmen. Und hinter ihm tauchte Zarifa auf, die zwar noch etwas verärgert wirkte, aber als sie Déorwyn entdeckte, einen weicheren Gesichtsausdruck bekam.
„Ich denke, es wäre am besten, wenn wir uns in Ruhe über... all das hier unterhalten,“ sagte Oronêl. „Es gibt einige Dinge zu sagen.“
„Vermutlich hast du recht,“ antwortete Cyneric. „Doch zuerst sollten wir etwas essen - Zarifa und ich haben seit dem Mittag keine Mahlzeit mehr gehabt.“

Fine:
Zu viert versammelten sie sich rings um das Feuer, das Oronêl inzwischen geschürt hatte und teilten ihren gemeinsamen Proviant untereinander auf. Kerry hatte so viele Fragen an ihren Vater, die sie eine nach der anderen stellen würde, und als endlich alle vier etwas zu Essen in den Händen hielten, legte sie los.
"Wie hast du mich gefunden?"
An Stelle von Cyneric antwortete das braunhaarige Mädchen, das Kerry noch nicht vorgestellt worden war. "Indem er nach dir gesucht hat," sagte sie mit einem schiefen Grinsen. "Und zwar geradezu obszessiv."
Kerrys Vater lachte. "War ich wirklich so schlimm, Zarifa?" fragte er, was die Angesprochene mit einem fröhlichen Nicken bestätigte.
"Er hat seit unserem Aufbruch aus der Hauptstadt Rhûns von kaum einem anderen Thema gesprochen."
"Und woher wusstest du, dass ich wieder in Rohan sein würde?" fragte Kerry zwischen zwei Bissen weiter.
"Die Königin des Waldlandreiches hat es mir erzählt," beantwortete ihr Vater die Frage.
"Ihr habt mit Finelleth gesprochen?"
"Offensichtlich, Kerry," warf Oronêl ein.
"Aber wie kam es, dass ihr überhaupt in den Düsterwald gegangen seid? Und wer ist Zarifa eigentlich?" wollte Kerry wissen.
Cyneric hob die Hand. "Ich glaube, es ist wohl am Besten, wenn ich ganz von vorne anfange." Er holte tief Luft und begann zu erzählen, was ihm seit seiner letzten Begegnung mit seiner Tochter zugestoßen war. Staunend hörte Kerry zu und erfuhr, wie ihr Vater Hochborn brennend und zerstört vorgefunden hatte, nachdem er aus dem Krieg in Gondor heimgekehrt war und wie er Kerrys Mutter beerdigt hatte. Wie er anschließend zwei Jahre in Dunstans Gefolge Orks in Rohan gejagt und viele Male nur knapp dem Tode entronnen war. Wie er sich schließlich Éowyns und Faramirs Heer in der Wold angeschlossen und für die Befreiung Rohans gekämpft hatte und danach seinen Posten als Gardist des Königshauses in Aldburg wieder aufgenommen hatte. Wie er Oronêl und Irwyne dort kennengelernt hatte und im Feldzug der Freien Völker gegen Dol Guldur gezogen war. Diesen Teil der Geschichte kannte Kerry bereits aus Erzählungen Irwynes und Finelleths, doch sie nun aus der Sichtweise ihres Vaters erneut zu hören, war beinahe ebenso interessant wie von den Dingen zu hören, die sie noch nicht wusste.
Als Cyneric gerade davon gesprochen hatte, wie er sich nach der Belagerung von Dol Guldur von Finelleth, Antien und Irwyne, die nach Bruchtal gingen, verabschiedet hatte, sah Kerry, wie Oronêl sich regte und zu den Sternen am Nachthimmel hinauf blickte. "So viel ist seitdem geschehen," hörte sie den Waldelb murmeln und musste wieder daran denken, dass Oronêl nach wie vor plante, nach Dol Amroth zu gehen und von dort in den Westen zu fahren. Eine Dringlichkeit ergriff sie, die für den Moment die Freude über das Wiedersehen mit ihrem Vater und ihren Wissensdurst über Cynerics Abenteuer überflügelte.
"Hör zu," sagte sie auf rohirrisch zu ihm, ehe er weitersprechen konnte. "Oronêl hat vor, Mittelerde zu verlassen. Deshalb ging ich mit ihm bis hierher, um ihn umzustimmen. Aber er hört einfach nicht auf mich. Du musst etwas unternehmen, ehe es noch zu spät sein wird!"
Ihr Vater betrachtete Kerry mit einem seltsamen Blick. Die plötzliche Stille lag schwer über der kleinen Gruppe. Oronêl, der vermutlich kein Wort verstanden aber ganz sicher seinen Namen aus Kerrys Satz herausgehört hatte, blickte sie gefasst, aber aufmerksam an. Zarifa hingegen, die als Einzige ihre Mahlzeit noch nicht beendet hatte, schaute erwartungsvoll in die Runde und schien darauf zu warten, dass Cyneric seine Geschichte weitererzählte.
Schließlich regte Cyneric sich. Kerry konnte ihm deutlich ansehen, dass sie ihn in eine schwierige Lage gebracht hatte. Soweit sie es verstanden hatte, sah Cyneric Oronêl als jemanden an, der im Stand deutlich über ihm selbst stand, denn er war bei der Ratsversammlung der Freien Völker in Aldburg als Herr von Lothlórien vorgestellt worden und teilweise auch so behandelt worden. Als Gardist war es Kerrys Vater gewohnt, die Wünsche und Entscheidungen der Adeligen nicht in Frage zu stellen. Doch da er Kerrys Aufforderung nicht sofort widersprochen hatte, lag es auf der Hand, dass er ihren Wunsch nicht einfach so abtun würde. Hatte ihn die gefährliche Reise nach Rhûn so sehr verändert?
"Oronêl," begann Cyneric und sah dem Waldelb offen ins Gesicht. "Ich möchte dir von ganzem Herzen danken, dass du Déorwyn sicher nach Hause gebracht hast - ob es nun Zufall oder deine freie Wahl war. Doch ich sehe nun, was zwischen dir und meiner Tochter steht und weshalb ihr, trotz der engen Freundschaft die euch offenbar verbindet, derzeit nicht sonderlich gut auf einander zu sprechen seid."
"Sie hat dir erzählt was ich zu tun gedenke, nehme ich an," erwiderte Oronêl knapp.
Cyneric nickte. "Ich habe in meinem Leben nur wenig mit Elben und ihrer Lebensweise zu tun gehabt," fuhr er fort. "Deshalb maße ich mir nicht an zu verstehen, was dieser Schritt für dich bedeuten mag."
"Welcher Schritt?" warf Zarifa verwundert ein. "Wovon sprecht ihr überhaupt?"
"Oronêl hat vor, diese Welt zu verlassen und nach Westen zu fahren," sagte Kerry und es gelang ihr nicht, ihre Stimme frei von Vorwurf zu halten. "Von dort kehrt niemand jemals wieder zurück."
Zarifa nahm diese Information schweigend auf. Sie blickte nachdenklich in das flackernde Feuer.
"Déorwyn, es steht dir nicht zu, Oronêl eine Entscheidung aufzuzwingen," sagte Cyneric mit überraschender Strenge. "Du kannst sie in Frage stellen und Argumente dagegen vorbringen, doch wenn das seinen Entschluss nicht ändert, solltest du etwas Respekt zeigen und versuchen, die Dinge aus seiner Sicht zu sehen."
Kerry prallte überrascht zurück. Sie hatte auf die Unterstützung ihres Vaters gehofft, nicht auf eine Zurechtweisung. Doch Cyneric war noch nicht fertig.
"Und dich, Oronêl, bitte ich, zumindest ein letztes Mal mit Déorwyn über deinen Plan, nach Westen zu fahren, und dir ihre Argumente dagegen in Ruhe anzuhören, falls dies nicht bereits geschehen ist. Ich kenne sie und bin mir sicher, dass es einen guten Grund dafür gibt, dass sie nicht damit locker zu lassen scheint und nun auf meine Hilfe setzt." Er blickte Kerry und Oronêl nacheinander an und sagte: "Bitte denkt beide noch einmal über eure Beziehung zueinander nach und entscheidet, ob diese Meinungsverschiedenheit es wert ist, eure Freundschaft zu riskieren."
"Ja," sagte Zarifa bekräftigend. "Äh... genau was er gesagt hat. Ihr habt Zeit, bis Cyneric seine Geschichte zuende erzählt hat." Sie stopfte sich das letzte Stück Brot in den Mund und versuchte, einen selbstsicheren Ausdruck aufzusetzen, was ihr einigermaßen gut gelang.

Cyneric setzte seinen Bericht fort. Schon bald schwirrte Kerry der Kopf voller fremder Namen, Orte und Ereignisse im geheimnisvollen Rhûn. Sie erfuhr, wie ihr Vater dort im Auftrag Erkenbrands eingetroffen und schon bald in die Machenschaften der unheimlichen Schattenläufer verstrickt worden war. Wie er neue Freunde und Bekanntschaften in Gortharia, der Hauptstadt der Ostlinge gefunden und sich gleichzeitig auch neue Feinde gemacht hatte. Sie erschrak als sie von den Morden hörte, an denen Cyneric beteiligt gewesen war und stellte fest, dass der Mann, den sie vor dem Krieg gekannt hatte, von den Jahren des Verlustes verändert worden war. Doch was ihr ebenso auffiel, war dass während Cynerics Geschichte immer wieder der Name Milva fiel, der Kerry aufhorchen ließ. Was hatte es mit dieser merkwürdigen Frau auf sich, und in welcher Beziehung stand sie zu ihrem Vater? Kerry gelang es nicht, es genau herauszuhören und sie nahm sich vor, Cyneric später eingehend dazu zu befragen.
Als ihr Vater sich dem Ende der Geschichte näherte, erfuhr Kerry wie er Zarifa aus der Sklaverei befreit und mit ihr gemeinsam Gortharia verlassen hatte. In Thal war ihnen der junge Ostling begegnet, den Kerry am Erebor verschont hatte und dank Ainos Hinweis hatten sie Kerrys Spur im Waldlandreich aufgenommen. Ein rascher Ritt durch Rhovanion hatte Cyneric und Zarifa bis nach Rohan gebracht, wo sie von Dunstan in Edoras erfahren hatten, wohin Oronêl und Kerry gegangen waren.
"Und so kamen wir heute Abend hierher... nach Hause," schloss Cyneric. Und als er diese Worte sagte, musste Kerry daran denken, wie es hier einst ausgesehen hatte. Hochborn war nie ein sonderlich großes Dorf gewesen, doch trotz seiner Lage im Hargtal hatte dort oft die Sonne geschienen und bis zum Fall Rohans hatte stets Frieden geherrscht. Kerry - oder genauer gesagt, Déorwyn war als einziges Kind ihrer Eltern wohl behütet aufgewachsen und hatte eine glückliche Kindheit voller kleinerer Abenteuer gehabt. Als ihr Vater in die Königsgarde in Edoras aufgenommen wurde, hatte sie ihn oft in der Hauptstadt besucht. Im Hargtal hatte sie viele Freundinnen gehabt und war nur selten einsam gewesen. Tatsächlich war ihr die Einsamkeit erst begegnet, als sie beim Untergang von Hochborn mit Glück den Orks und den Flammen entkommen und ganz alleine durch Rohan hindurch bis zu den Isenfurten geflohen war. Traurigkeit machte sich in ihr breit, als Kerry zum ersten Mal richtig wahrnahm, was sie damals alles verloren hatte. Sie hatte geglaubt, Freunde und Familie verloren zu haben. Doch im Norden hatte sie neue Freunde gefunden, wie Oronêl und Rilmir, und nun saß sie neben ihrem Vater, der wider aller Hoffnung überlebt hatte.
Sie stand mit einem Ruck auf und ging zielstrebing in die Dunkelheit davon. Erst vor dem Grabstein ihrer Mutter hielt sie an. Leise Schritte hinter ihr kündigten die Ankunft ihres Vaters an, der ihr gefolgt war.
"Ich vermisse sie," sagte Kerry leise.
Eine tröstende Hand legte sich auf ihre Schulter. "Ich auch, meine Kleine. Ich auch."
Sie drehte sich zu ihm um und barg ihr Gesicht an seiner Brust. Schützende Arme legten sich um sie und zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch aus Eregion fühlte sie sich wahrhaft geborgen und sicher. Das Ausmaß ihres Verlustes war ihr bewusst geworden, doch sie entschied in diesem Moment, sich nicht davon definieren zu lassen. Sie hatte ihren Vater wiedergefunden und sie besaß eine Familie, die auf sie wartete. Die Zukunft mochte ungewiss sein, doch Kerry fühlte sich bereit, sich dem zu stellen, was sie für sie bereithalten mochte. Ihre Familie und ihre Freunde würden ihr beistehen... da war sie sich sicher.
Sie nahm Cynerics Hand und gemeinsam kehrten sie zum Lagerfeuer zurück. Oronêls Blick fand ihren und sie schauten einander einen langen Augenblick an, ohne etwas zu sagen. Und da erkannte Kerry, was sie miteinander verband - ein Elb, so alt wie die ältesten Bäume hier im Tal, und ein Menschenmädchen, kaum alt genug um als erwachsen bezeichnet zu werden. Und obwohl sie sich kaum ein Jahr kannten, war zwischen ihnen ein Band geknüpft worden, das jede Trennung überdauern würde. Das war es, was Kerrys Herz ihr in diesem Moment sagte.
Sie ließ ihren Vater los und ging zu Oronêl, um ihn wortlos zu umarmen. Es war kein Abschied - noch nicht. Dem würde sie sich stellen, wenn es soweit war. Denn Kerry hatte noch ihre Geschichte zu erzählen. Sie konnte sehen, wie Zarifa und Cyneric sie erwartungsvoll anblicken. Als Oronêl sanft nickte, löste sie sich von ihm. Sie würden miteinander sprechen, doch nicht jetzt. Jetzt würde Kerry von ihren Abenteuern berichten.
"Wie mein Vater vor mir fange ich am besten ganz am Anfang an," sagte sie. "Ich bin hier in Hochborn geboren, als das Dorf noch stand, und es war sechzehn Jahre lang meine Heimat, bis der große Krieg gegen Mordor began..."

Fine:
Cyneric lauschte gespannt der Erzählung seiner Tochter. Déorwyn berichtete von ihrer Flucht aus dem brennenden Hochborn und Cyneric wurde klar, dass er sie wahrscheinlich nur um wenige Stunden verpasst hatte, als er aus dem Krieg in seine zerstörte Heimat zurückgekehrt war. Doch der Schmerz von damals zählte jetzt nicht mehr. Er hatte Déorwyn gefunden und hatte nicht vor, sie wieder zu verlieren.
So erfuhr Cyneric von den Reisen und Abenteuern Déorwyns, die sie über die Furten des Isen durch Dunland hindurch bis nach Bree, einer Stadt im Zentrum Eriadors geführt hatten. Er war froh, dass sich der Waldläufer Rilmir seiner Tochter angenommen hatte und auf sie Acht gegeben hatte. Von ihrer Zeit in Bree berichtete Déorwyn nur knapp, ehe sie ausführlich von allerlei Fahrten an Rilmirs Seite berichtete. Cyneric hätte schwören können, dass Déorwyn diesen Rilmir als mehr als nur einen Freund zu betrachten schien, doch als er später von Rilmirs Verlobung erfuhr, legten sich diese Befürchtungen. Die Lande im Norden, die Cynerics Tochter so ausschweifend beschrieb, hatte Cyneric in seinem Leben bislang noch nicht mit eigenen Augen gesehen. Eigentlich schade, dachte er, während Déorwyn gerade von einer Reise entlang der Wetterberge berichtete. Eriador klingt nach einem Ort, der mir gefallen könnte.
Erstaunt hörte Cyneric von Déorwyns weiteren Erlebnissen und von den Persönlichkeiten, denen sie mehr oder weniger zufällig über den Weg gelaufen war. Da waren der Zauberer Gandalf, die Elbenherrscher Elrond und Galadriel, und allerlei weitere Anführer und Herrscher der unterschiedlichsten Lande im Norden. Die Begegnung Déorwyns mit Schlangenzuge im Auenland ließ Cyneric verbissen mit den Zähnen knirschen, doch die Erwähnung des jungen Meriadocs, den Déorwyn ebenfalls getroffen hatte, erfreute ihn. Interessiert lauschte er dem Bericht über die Befreiung des Auenlandes und Déorwyns Ankunft in der alten Stadt Fornost, wo alsbald eine große Schlacht gegen ein Heer Sarumans geschlagen wurde. Hierbei war Déorwyn sowohl Oronêl als auch Finelleth und Irwyne begegnet, die Cyneric bereits kannte.
"Welch schöne Überraschung," sagte er an dieser Stelle. "Irwyne ist mir in unserer gemeinsamen Zeit ans Herz gewachsen. Wisst ihr, wo sie inzwischen ist?"
Déorwyn hob einen Finger. "Dieser Amrothos hatte wohl vor, sie mit in seine Heimat zu nehmen. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Dass Oronêl in dieser Hinsicht keinerlei Einwände zu haben scheint, kommt mir merkwürdig vor."
Oronêl, der offenbar teilweise mit eigenen Gedanken beschäftigt gewesen zu sein schien, blinzelte bei Déorwyns Worten. "Wie, worum geht es? Irwyne? Ah, ich verstehe. Mach' dir keine Sorgen, Kerry. In Dol Amroth wird sie in Sicherheit sein, und..." Er verstummte, als ihm offenbar ein neuer Gedanke gekommen war.
Déorwyn schien das Thema Dol Amroth im Augenblick zu meiden, weshalb Cyneric sie sanft dazu aufforderte, ihre Erzählung fortzuführen. Dankbar nickte sie und begann erneut.

Dass Déorwyn von Elben adoptiert worden war, war etwas, das Cyneric nachdenklich stimmte. Einerseits war er froh, dass es jemanden gab, der auf Déorwyn Acht gab und an den sie sich in Cynerics Abwesenheit hatte wenden können, doch andererseits hatte er eigentlich nicht vor, seine Verantwortlichkeiten als Vater zu teilen oder gar aufzugeben. Er nahm sich vor, mit dem Elb namens Mathan in Ruhe darüber zu sprechen, wenn sie sich eines Tages begegnen sollten.
Déorwyns Entführung lenkte ihn rasch wieder von dem Thema ab. Dass ein alter Feind Oronêls dafür verantwortlich war, dass Déorwyn von Fornost bis in die Verliese Carn Dûms im eisigen Angmar gebracht worden war, ließ Cynerics Sorge um die Sicherheit seiner Tochter wieder wachsen. Selbst inmitten von so mächtigen Personen wie Gandalf, Oronêl oder Mathan war sie nicht vor diesem Laedor sicher, dachte er. Voller Spannung hörte er zu, als Déorwyn von ihrer Befreiung durch Mathan und Oronêl berichtete, und wie sie nach einer langen Reise durch Eis und Wildnis schließlich an die Elben-Anfuhrten von Mithlond gekommen waren, wo sie erneut auf Gandalf und Irwyne getroffen waren.
"Den Ozean zu sehen war etwas ganz Besonderes. Diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen," sagte Déorwyn verträumt.
Zarifa erwiderte trocken: "Nach einer Woche hast du dich daran gewöhnt." Die junge Südländerin war in einer Hafenstadt aufgewachsen, wie Cyneric sich erinnerte. Für sie war vermutlich der Schnee, der in sanften Flocken vom Himmel rieselte, deutlich interessanter als der Anblick des Meeres.
Déorwyn schmunzelte über Zarifas Worte, dann fuhr sie mit ihrem Bericht fort. Cyneric hatte von Irwyne in Aldburg bereits Andeutungen darüber erhalten, welchen Auftrag Oronêl damals von der Herrin Galadriel erhalten hatte, doch nun erfuhr er die wahren Hintergründe. Oronêls Mission hatte damals dafür gesorgt, dass er Irwyne in Cynerics Obhut zurücklassen musste. An der Seite von Mathan und Finelleth war Oronêl die Zerstörung der beiden Ringe der Macht schließlich in den Schmieden Eregions gelungen - ein sehr beachtliche Leistung, wie Cyneric fand. Dass seine Tochter dabei ebenfalls einen Teil beigetragen hatte, erfüllte ihn mit Stolz.
Er schenkte Oronêl ein anerkennendes Nicken und zollte ihm seinen Respekt für den erfüllten Auftrag, den Galadriel ihm gegeben hatte. Dann erfuhr er von Déorwyns weiterer Reise über Bruchtal, den Hohen Pass und das Tal des Anduins bis in den Düsterwald, wo sich Mathan von ihr verabschiedet hatte, um in eigener Angelegenheit weiter nach Norden zu ziehen.
"Und dann haben wir dabei geholfen, den Düsterwald von Saruman zu befreien," fuhr Déorwyn fort. Den Großteil der jetzt folgenden Geschichte kannte Cyneric bereits aus dem Bericht Finelleths, doch bei der Nennung des Namens Helluin horchte er auf. Es dauerte einige Minuten, bis er sich daran erinnerte, wo er diesen Namen zuvor gehört hatte. Dann fiel es ihm ein, als Déorwyn gerade von der Befreiung Seestadts erzählte. Als Cyneric mit dem Heer Rohans auf der Ebene von Celebrant gelagert hatte, war er einer Frau namens Elea begegnet, die ihren Sohn, Helluin, von der Abkehr von Saruman hatte überzeugen wollen - erfolglos. Dass dieser Helluin nun Déorwyns Pfad gekreuzt und auch noch ein spürbares Interesse an Cynerics Tochter gezeigt hatte, sorgte dafür, dass Cyneric umso froher war, dass Helluin nun sowohl aus Sarumans Diensten als auch aus dem Norden verschwunden war.

"Als ich hörte, dass Oronêl vorhatte, Mittelerde zu verlassen, konnte ich nicht anders als mit ihm zu gehen. Ich wollte versuchen, ihn umzustimmen," sagte Déorwyn, nachdem sie vom Tod Thranduils und dem Rückzug Sarumans nach Dol Guldur berichtet hatte.
"Und versucht hast du es wahrlich," warf Oronêl ein und blickte zu den Sternen hinauf.
"Jedenfalls war das der Grund, weshalb wir nun hier sind. Ich frage mich, ob es Schicksal war, das mich dazu gebracht hat, gerade jetzt nach Rohan heimzukehren, wo mein Vater sich auf die Suche nach mir gemacht hat."
"Schicksal oder nicht - ich bin froh, dass du jetzt hier bist, Déorwyn," sagte Cyneric warm.
"Das bin ich auch," sagte Zarifa, die bislang gespannt gelauscht und nur hin und wieder eine Verständnisfrage gestellt hatte. "Ehrlich gesagt hatte ich bis zu unserem Eintreffen im Düsterwald nur wenig Hoffnung, dass wir dich wirklich finden würden, Kerry. Umso schöner ist es, dass ich mich getäuscht habe."
"Danke dir," erwiderte Déorwyn und kam zu Zarifa hinüber, um die etwas verdutzte Südländerin spontan zu umarmen.
Cyneric belächelte seine Tochter innerlich ein klein wenig dafür, dass sie sich auf ihren Reisen so viele unterschiedliche Namen angeeignet hatte. Für ihn würde sie immer seine kleine Déorwyn bleiben, egal unter welchem Namen ihre Freunde sie kannten. Er war sich sicher, dass Déorwyn das nicht störte.
"Schon gut," sagte Zarifa und Déorwyn ließ sie los. "Ist noch etwas von dem Wegbrot übrig, dass uns die Elbenkönigin mitgegeben hat?"
"Bedaure," sagte Cyneric schmunzelnd. "Eine gewisse Zarifa hat vorhin, bei unserer Pause in Edoras die letzte Portion verspeist."
"Schade," sagte Déorwyn. "Ich hätte jetzt nichts gegen einen Bissen davon einzuwenden."
Cyneric unterdrückte ein Gähnen. "Es wird spät, Kinder," sagte er und zwinkerte Déorwyn und Zarifa zu, die beide wenig erfreut auf diese Anrede hin dreinblickten. Ehe die beiden Mädchen jedoch Einwände vorbringen konnten, erhob sich Oronêl und bot an, die Nachtwache zu übernehmen, was Cyneric mit Freunden annahm. So richteten sie sich in dem kleinen Haus, in dem Cyneric Déorwyn gefunden hatte, zum Schlafen ein, während draußen der Schneefall zunahm und die Ruinen Hochborns nach und nach mit einer weißen Schneeschicht bedeckte.

Eandril:
Die Nacht war weit fortgeschritten, und ein erster bleicher Schimmer war bereits im Osten hinter den Bergen zu erahnen, als das kleine Feuer, dass Oronêl während seiner Nachtwache gehütet hatte, zu erlöschen drohte. Er unterbrach sich, um vorsichtig einige weitere Äste aufzulegen, und einen kurzen Moment später hatten diese Feuer gefangen. Ein Stück vom Feuer entfernt hatte Oronêl alles aus seinem Beutel aufgestapelt, das er nicht mit sich nehmen wollte - darunter der Rest der Vorräte, die sie von Radagast bekommen hatten. Bereits jetzt hatte sich eine dünne Schneeschicht darauf gelegt, die Oronêl mit einer kleinen Bewegung herunter wischte. Dann kam er auf die Füße, warf einen letzten Blick auf das kleine Haus hinter sich, und wandte sich dann ab.
Er hatte kaum drei Schritte die Dorfstraße entlang gemacht, als Oronêl ein leises Geräusch hinter sich hörte - wie von einer knarrenden Tür. Er wandte sich um, und sah zu seiner Erleichterung Cyneric - nicht Kerry - ins Freie treten. "Ihr geht, Oronêl?", fragte Cyneric, der die Situation rasch erfasst zu haben schien, ohne Vorwurf in der Stimme. Oronêl nickte. "Ich gehe, Cyneric. Und du brauchst mich nicht wie einen Herrn anzusprechen - das bin ich nicht."
"Ich dachte, ihr... du würdest dich von Déorwyn verabschieden wollen." Es gelang Cyneric nicht vollständig, den Vorwurf aus seiner Stimme herauszuhalten. Oronêl musste lächeln, dass Cyneric ihm nicht so sehr seine Entscheidung, Mittelerde zu verlassen, übel zu nehmen schien, sondern viel mehr, dass er seine Tochter verletzen könnte. "Das will ich auch, glaub mir." Oronêl fuhr sich mit der Hand durch die Haare, und Schnee rieselte davon herab. "Aber... es würde alles schwieriger machen, fürchte ich. Verstehst du?"
Cyneric schüttelte leicht den Kopf. "Nein, ich verstehe nicht. Aber ich glaube, dass du meiner Tochter nicht absichtlich mehr Schmerzen als nötig zufügen würdest, also... gibt es etwas, dass ich ihr sagen soll?" Oronêl überlegte einen Augenblick, in dem rasche Bilder vor seinen Augen vorüberzogen, bis zu dem Moment, in dem Kerry das erste Mal vor ihm gestanden hatte. Im Chaos der Schlacht um Fornost, in den Händen Verbände, die sie genutzt hatten, um Irwyne und Mírwen das Leben zu retten. Bei dem Gedanken an Mírwen verlor Oronêl kurz den Faden, und blinzelte zweimal schnell. "Sag ihr...", begann er dem noch immer wartenden Cyneric zu antworten. "Sag ihr, es tut mir leid, dass ich mich auf diese Weise davonschleiche. Und dass sie mich eine Zeit dafür hassen mag, aber ich immer an sie denken werde, ganz gleich, wo ich bin, weil sie die beste Freundin ist, die ich mir hätte wünschen können. Und..." Er löste Hatholdôr von seinem Gürtel, und hielt die Axt Cyneric mit dem Griff entgegen. "Gib ihr dies. Im Westen werde ich keine Waffen brauchen." Cyneric legte zögerlich eine Hand auf den Axtgriff, bevor er den Kopf hob und Oronêl in die Augen blickte. "Ich glaube nicht, dass meine Tochter eine Kriegerin sein möchte."
"Und das soll sie auch nicht sein, wenn es nicht ihr Wille ist", erwiderte Oronêl. "Das hier... ist nur ein Andenken."
Offensichtlich beruhigt schloss Cyneric seine Hand um den Axtgriff, und im gleichen Augenblick ließ Oronêl los. Es war ein merkwürdiges Gefühl, Hatholdôr freiwillig aus der Hand zu geben - sein Vater hatte damit in den Schlachten Beleriands gekämpft, und Oronêl hatte sie selbst über Jahrtausende geführt. Als er Laedor die Waffe in Carn Dûm wieder abgenommen hatte, hatte er sich auf eine gewisse Art vollständig gefühlt, doch jetzt... jetzt war es ein gutes Gefühl, die Axt fortzugeben. Er wollte den Krieg hinter sich lassen, und dies schien ihm ein guter Schritt zu sein.
"Leb wohl, Cyneric", sagte Oronêl leise. "Ich wünsche dir und Déorwyn alles Glück dieser Welt, und möget ihr Leben, bis hellere Tage über Mittelerde heraufziehen." Ohne Cynerics Antwort abzuwarten, wandte er sich um und eilte mit langen Schritten die Dorfstraße entlang, dem Weg entgegen, der ihn über das Gebirge nach Gondor bringen würde. Seine Füße hinterließen kaum eine Spur im Schnee.

Oronêl nach Dol Amroth

Rohirrim:
Zarifa saß glücklich am Feuer in Hochborn. Endlich hatten sie Déorwyn gefunden. Wochenlang waren sie durch ganz Mittelerde gereist und hatten verzweifelt nach Spuren von Cynerics Tochter gesucht. Dabei war es Zarifa oft zu schnell, zu hektisch und zu unbequem zugegangen, doch dieser Moment war die Strapazen der Reise wert gewesen. Das Glück, das man in Cynerics grauen Augen beobachten konnte, nun da er nach all den Jahren endlich wieder mit seiner Tochter vereint war, konnte einem nur das Herz erwärmen. Zarifa hatte den Mann aus Rohan als zielstrebigen und hilfsbereiten, aber teilweise auch grimmigen Charakter kennengelernt. Als jemanden, der grundsätzlich freundlich aber auch sehr bestimmt und gehetzt wirken konnte. Als jemanden, der ab und zu auch mal zu Scherzen auferlegt war, doch meistens eher ernst blieb. Doch noch nie hatte sie diesen Mann, der sie aus dem brennenden Haus ihres ehemaligen Meisters gerettet hatte, so wahrhaft glücklich erlebt. Seine Tochter lebte noch, war gesund und saß nun hier gemeinsam mit ihm am Feuer und lauschte seinen Worten. Für den Augenblick waren für Cyneric alle Sorgen vergessen und er konnte den Abend einfach genießen. Zarifa wünschte, das Gleiche auch für sich selber behaupten zu können.
Schon halb in Gedanken an ihre eigenen Sorgen und Probleme versunken, horchte Zarifa auf, als Déorwyn auf einmal die Sprache wechselte und Zarifa sie nicht mehr verstehen konnte. Sie schien nicht zu wollen, dass jemand außer Cyneric sie verstand. Der blickte nun nachdenklich und ein wenig ratlos in die Leere. Zarifa war verwirrt.
„Oronêl“, begann Cyneric schließlich und richtete seinem Blick zu dem Elben. „Ich möchte dir von ganzem Herzen danken, dass du Déorwyn sicher nach Hause gebracht hast - ob es nun Zufall oder deine freie Wahl war. Doch ich sehe nun, was zwischen dir und meiner Tochter steht und weshalb ihr, trotz der engen Freundschaft die euch offenbar verbindet, derzeit nicht sonderlich gut auf einander zu sprechen seid.“ Verwirrt blickte die junge Haradan abwechselnd von Cyneric, zu Oronêl und zu Déorwyn. Was ging hier nur vor?
„Sie hat dir erzählt was ich zu tun gedenke, nehme ich an“, erwiderte Oronêl knapp.
Cyneric nickte. „Ich habe in meinem Leben nur wenig mit Elben und ihrer Lebensweise zu tun gehabt“, fuhr er fort. „Deshalb maße ich mir nicht an zu verstehen, was dieser Schritt für dich bedeuten mag...“
Das wurde Zarifa nun zu viel. Es gefiel ihr nicht, die einzige hier am Feuer zu sein, die keine Ahnung hatte, was vor sich ging. Und noch bevor sie sich selbst bremsen konnte, warf sie ein: „Welcher Schritt? Wovon sprecht ihr überhaupt?“ Sie bemühte sich dabei freundlich zu bleiben, doch so ganz gelang es ihr nicht ihren Ärger aus der Stimme herauszuhalten.
„Oronêl hat vor, diese Welt zu verlassen und nach Westen zu fahren,“ entgegnete Déorwyn und auch ihr gelang es nicht, den Ärger in ihrer Stimme zu verbergen. „Von dort kehrt niemand jemals wieder zurück.“
Zarifa war auf vieles vorbereitet gewesen, doch diese Antwort hatte sie nicht erwartet. Schweigend nahm sie die Information auf und blickte ins Feuer, während die anderen weiterdiskutierten. Was war dieser „Westen“ von dem niemand jemals zurückkehrte? Und wieso wollte der Mann, der sie vor noch nicht einmal einer Stunde gepackt und gewürgt hatte, dort hin? Hatte er keine Lust mehr auf diese Welt? War im Westen etwa alles besser?
Zarifa hatte bereits von der Unsterblichkeit der Elben gehört und sich gefragt, warum es nicht eigentlich viel mehr von ihnen gab. War das etwa die Antwort? Gab es im Westen einen Ort, wo man hinkonnte, um seine Sorgen zu vergessen? Würde Oronêl sie eventuell mitnehmen?
Zarifa verwarf diesen Gedanken. Sie wusste überhaupt nichts über diesen „Westen“, den Déorwyn gerade erwähnt hatte. Vielleicht war es ja auch ein sehr gefährlicher Ort, von dem niemand je zurückkehrte, weil jeder der diesen Ort besuchte, starb. Ihre Vorstellung war kindisch gewesen. Sie hatte sich einen Ort gewünscht, an dem sie all ihr Leid und all ihre Sorgen einfach vergessen können würde und ihn sich deshalb vorgestellt. Doch ein solcher Ort existierte nicht. Sonst würde ihn ja einfach jeder aufsuchen.
„Wie albern“, dachte Zarifa und wandte sich wieder dem Gespräch zu, das sie in der Zwischenzeit vollkommen vernachlässigt hatte.
Bitte denkt beide noch einmal über eure Beziehung zueinander nach und entscheidet, ob diese Meinungsverschiedenheit es wert ist, eure Freundschaft zu riskieren."
"Ja," sagte Zarifa bekräftigend. "Äh... genau was er gesagt hat. Ihr habt Zeit, bis Cyneric seine Geschichte zu Ende erzählt hat." Nachdenklich aß sie den letzten Rest von ihrem Brot auf und versuchte den Moment zu überspielen. Sie wollte diesen Augenblick nicht kaputt machen.

Und so setzte Cyneric seinen Bericht fort. Den Großteil der Geschichte kannte Zarifa bereits, doch einige Details waren neu. Insbesondere fiel ihr die häufige Erwähnung von Milva auf. War diese arrogante Kuh für ihn etwa mehr als nur eine Freundin? Ein unerträglicher Gedanke, den Zarifa in diesem Moment nicht weiter verfolgen wollte.
Schließlich gelangte der rohirrische Gardist zu den Geschehnissen in Gorak. Als er schließlich die Geschichte um die Ermordung Radomirs und die Verstrickung Alvars in die ganze Sache erwähnte, wollte Zarifa ihn schon unterbrechen, denn ihrer Meinung nach stellte er das Geschehene nicht ganz richtig dar. Doch sie besann sich anders, als sie überlegte, dass niemand die grauenhaften Details dieser Geschichte unbedingt hören musste. Es war schlimm genug, dass sie jede Nacht erneut die Ereignisse durchlebte. Das musste sie niemand anderem aufbürden. Zumindest noch nicht.
Als Cyneric schließlich mit seiner Geschichte fertig war, stand Déorwyn – oder Kerry, wie sie von Oronêl genannt wurde, unvermittelt auf und ging in die Dunkelheit davon. Zarifa glaubte zu sehen, wie sie eine Träne von ihrer Wange wischte. „Ich glaube sie ist auf dem Weg zum Grab eurer Frau. Ihr solltet ihr nachlaufen, Cyneric“, meinte Oronêl mit einem Blick, den Zarifa nicht deuten konnte.  Cyneric ließ sich das ganze nicht zweimal sagen und ließ Zarifa allein mit dem Elben zurück, der sie nun mit zusammengekniffenen Augen ansah. Zarifa wusste nicht, was sie sagen sollte und wich seinem Blick aus. Sie wusste immer noch nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Das erste, was sie von diesem Elben gesehen hatte, war sein Arm, der sie am Hals gepackt hatte. Gleichzeitig hatte er noch ein Messer in ihren Rücken gedrückt, nur um sie dann beim Anblick Cynerics fallen zu lassen wie ein Stück Holz. Genau wie Radomir, Kazimir und Yasin, schien er sie keineswegs als gleichberechtigtes lebendes Wesen wahrzunehmen. Zwar hatte er sich kurz bei ihr entschuldigt, kurz bevor sie zu Déorwyn und Cyneric gegangen waren, doch für besonders wichtig schien er die Sache nicht gehalten zu haben. Wusste er denn nicht, wie Zarifa sich jedes mal fühlte, wenn sie gegen ihren Willen berührt wurde? Wenn ihr Gewalt angetan wurde?
Doch andererseits schien Cynerics Tochter, die auf Zarifa bisher einen durch und durch freundlichen Eindruck gemacht hatte, sehr an diesem Elben zu hängen. So sehr, dass sie ihn auf eine potenziell gefährliche Reise begleitet hatte, nur um ihn irgendwie von seinem Entschluss, in den Westen zu reisen, abhalten zu können. Zarifa beschloss schließlich, die Stille zu durchbrechen und zum Angriff überzugehen.

„Also, ist es unter Elben eigentlich so üblich, einander zur Begrüßung zu würgen und mit einem Dolch zu bedrohen? Oder machst du sowas nur bei Menschen?“, wollte sie wissen und bemühte sich dabei in keiner Weise, den Ärger in ihrer Stimme zu unterdrücken. Oronêl schien von dieser Frage ziemlich überrumpelt und entgegnete eine Weile lang nichts, sondern blickte Zarifa nur an. „Ich versichere euch, es war nichts Persönliches“, sagte er schließlich. „Man kann dieser Tage nicht vorsichtig genug sein. Ich wollte bloß sichergehen, dass Kerry in Sicherheit ist. Da konnte ich einen bewaffneten Mann im Dorf nun einmal nicht gebrauchen.“ Zarifa schnaubte. Der Elb hatte sie gerade tatsächlich mit „euch“ angeredet. Er hatte wirklich Nerven.
„Und anstatt dich direkt dem bewaffneten Mann zu stellen, dachtest du dir, es wäre deutlich einfacher, die unbewaffnete Frau zu bedrohen? Das sagt ziemlich viel über deinen Charakter aus. Feigling!“ Noch bevor sie diese Worte zu Ende gesprochen hatte, wusste sie, dass sie gesessen hatten. Oronêl öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, schloss ihn dann jedoch wieder. Er senkte den Blick Richtung Boden und wandte sich schließlich komplett von Zarifa ab. Das hatte sie so nicht erwartet. Ein wenig verwirrt, doch auch erleichtert und froh darüber, Oronêl die Meinung gegeigt zu haben, beobachtete sie, wie Cyneric und Kerry zurückkehrten. Kerry lief zielstrebig auf Oronêl zu und schloss ihn fest in ihre Arme. Vermutlich hatte dieser Elb auch seine guten Seiten. Nur hatte Zarifa diese bisher noch nicht zu Sehen bekommen. Das Gesicht eines kleinen Jungens, der beobachtet, wie sein Vater ermordet wird, kam Zarifa in den Sinn. Und nun senkte auch sie den Blick.
Cyneric und Déorwyn setzten sich zurück ans Feuer und Déorwyn begann mit ihrer Geschichte. Einer Geschichte, die mit der Flucht aus eben diesem Dorf hier begann und damit endete, dass sie einem Elben ausreden wollte, Mittelerde zu verlassen. Es war also doch so, wie Zarifa vermutet hatte. Es gab einen Ort außerhalb Mittelerdes, an dem man gehen konnte, wenn man des Lebens überdrüssig war. Und für Oronêl war dieser Moment anscheinend gekommen. Zarifa empfand nun deutlich positivere Gefühle für den Elben. Er hatte Kerry mehrmals das Leben gerettet und trotz seines hohen Alters und seiner Verluste immer weiter gekämpft. Doch inzwischen konnte er nicht mehr. Das Leid war ihm zu viel geworden und er wollte nur noch weg. An einen Ort, wo er sich endlich zur Ruhe setzen und sich nicht mehr ständig sorgen müsste – ein Gedanke, den Zarifa sehr gut nachvollziehen konnte.

„Jedenfalls war das der Grund, weshalb wir nun hier sind. Ich frage mich, ob es Schicksal war, das mich dazu gebracht hat, gerade jetzt nach Rohan heimzukehren, wo mein Vater sich auf die Suche nach mir gemacht hat“, schloss Déorwyn ihren Bericht.
„Schicksal oder nicht - ich bin froh, dass du jetzt hier bist, Déorwyn“, entgegnete Cyneric warmherzig und Zarifa sah erneut das Glück in seinen Augen. Sie konnte nicht anders und lächelte ebenfalls.
„Das bin ich auch“, fügte Zarifa schließlich hinzu. „Ehrlich gesagt hatte ich bis zu unserem Eintreffen im Düsterwald nur wenig Hoffnung, dass wir dich wirklich finden würden, Kerry. Umso schöner ist es, dass ich mich getäuscht habe.“
„Danke dir“, erwiderte Déorwyn und lächelte Zarifa an. Etwas unsicher lächelte Zarifa zurück. Sie war in ihrem Leben nur auf wenige Menschen getroffen, die ohne großes Kennenlernen und ohne Bedingungen freundlich zu ihr gewesen waren. Und zwei dieser Personen saßen aktuell hier gemeinsam mit ihr am Feuer. Und während Zarifa so darüber nachdachte, was für ein Glück es gewesen war, dass sie in einem Augenblick voller Verzweiflung auf Cyneric getroffen war, kam Déorwyn unvermittelt auf sie zu und schloss die junge Südländerin fest in ihre Arme. Ein wenig verdutzt erwiderte Zarifa die Umarmung, freute sich jedoch insgeheim sehr darüber.
„Schon gut“, meinte die Südländerun schließlich und Déorwyn ließ sie los. Zarifas Magen knurrte.
„Ist noch etwas von dem Wegbrot übrig, dass uns die Elbenkönigin mitgegeben hat?“
„Bedaure“, sagte Cyneric schmunzelnd. „Eine gewisse Zarifa hat vorhin, bei unserer Pause in Edoras die letzte Portion verspeist.“ Bei diesem Kommentar musste Zarifa nun ebenfalls schmunzeln. Sie hatte in letzter Zeit tatsächlich ziemlich großzügig gegessen, wenn man es mit den äußerst dürftigen Tagesrationen in der Sklaverei verglich. Oder mit den Mengen, die sie sich früher jeden Tag in Umbar mühsam erstohlen hatte. Bei diesem Gedanken wurde ihr erstmals so richtig bewusst, welch ein Privileg sie inzwischen genoss, nun da sie sich nicht mehr jeden Tag ums Überleben sorgen musste. „Auch das habe ich Cyneric zu verdanken“, dachte sie und blickte ihren Körper hinab, der inzwischen längst nicht mehr so abgemagert wie noch vor ein paar Monaten in Gorak war.
„Es freut mich, dass er jetzt auch endlich glücklich ist.“

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