Zarifa saß alleine auf ihrem Bett und dachte nach. Den letzten Nachmittag hatte Zarifa dafür genutzt, die nähere Umgebung des Anwesens ein wenig zu erkunden. Und ihr erster Eindruck hatte sich bestätigt: Gortharia und Umbar waren genau gleich. Bis auf das schlechte Wetter und die fremde Sprache, hatte Zarifa den Eindruck, sie würde durch eine beliebige Straße in Umbar laufen. Extremer Reichtum, extreme Armut und ein paar einfache Leute dazwischen. Und das alles nur Katzensprünge voneinander entfernt. Waren alle Städte so? Gab es etwa keine Städte der Menschen, in denen alle Leute einigermaßen in Wohlstand leben konnten? Endete das Zusammentreffen so vieler Menschen auf engstem Raum zwangsläufig darin, dass einige Leute am Ende als Verlierer dastanden? Wieso konnte der Reichtum nicht einfach verteilt werden?
Zarifa seufzte. Vielleicht waren Menschen einfach größtenteils Arschlöcher. Selbst hier in diesem Haus, in dem es keine Männer gab und Zarifa recht gut behandelt wurde, gefiel es ihr nicht. Auch diese Frauen strebten nicht danach, den einfachen Leuten zu helfen und etwas an der Situation der Gesellschaft zu verbessern. Sie strebten allesamt nur nach individueller Macht. Und wenn Salias Andeutung stimmte, waren sie auch bereit, dafür über Leichen zu gehen und diese anschließend still und heimlich zu verstecken. Zarifa behagte dieser Gedanke nicht. Sie selbst hatte zwar auch getötet, doch das war was anderes. Radomirs und Kazimirs Tod hatten nicht dazu gedient, die eigene Machtstellung auszuweiten oder sich selbst zu bereichern, sondern Rache zu üben. Ziads und Tekins Tod zu rächen war Zweck dieser Morde gewesen, ebenso wie der Versuch, das eigene Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Letzteres hatte zwar nur bedingt funktioniert, doch immerhin gab es in diese Welt nun zwei Arschlöcher weniger. Das war doch schonmal etwas.
Zarifa lauschte ein wenig, dem geschäftigen Treiben des Hauses. Ihre Schicht war gerade vorbeigegangen und sie war froh darum. Auch wenn die Arbeit hier in keiner Weise vergleichbar mit der Arbeit in Radomirs Anwesen vergleichbar war, behagte es Zarifa nicht, dass sie jeden Morgen gezwungen war zu einer festen Zeit zu arbeiten. Sie bemerkte, wie ihr dieser geregelte Tagesablauf Kopfschmerzen und Schwindel bereitete. Sie vermisste die Zeit, in der sie ihr eigener Vorgesetzter war und tun konnte, was sie wollte und wann sie es wollte. Außerdem war die Arbeit im Haus sterbenslangweilig. Zarifa vermisste den Nervenkitzel eines Einbruchs. Den Schweiß auf der Stirn, wenn man eine verschlossene Tür öffnet. Das schwere Atmen, während man versucht möglichst kein Geräusch zu machen. Das Herzrasen, wenn man einem reichen Bastard etwas stiehlt, was dieser ohnehin nicht braucht. Auch wenn sie es ungern zugab, vermisste sie diesen Teil ihres Lebens.
„Es war jedenfalls aufregender, als Geschirr abzuwaschen und den Boden zu wischen“, dachte Zarifa trübsinnig.
Erneut kam Zarifa der Gedanke, dass es ihr wohl besser gehen würde, wenn sie jemanden hätte, mit dem sie sich wirklich gut verstand. Auch wenn das Leben als Sklavin in Gorak in jeder Hinsicht schlimmer gewesen war, so hatte sie dort wenigstens Tekin gehabt, mit dem sie gemeinsam gelitten und zwischen durch gemeinsam gelacht hatte. Geteiltes Leid ist halbes Leid. In diesen Tagen verstand Zarifa diesen Satz erstmals wirklich.
Wie sollte sie hier denn alleine klarkommen? In dieser Stadt, in der man das Gefühl hatte, jederzeit mit einem Messer an der Kehle aufwachen zu können? In dieser Stadt, in der sie sich kein bisschen auskannte? Umbar war Zarifa vertraut gewesen. Sie hatte die Stadt in- und auswendig gekannt. Sie hatte genau gewusst, welche Gegenden sie zu welcher Uhrzeit zu meiden hatte. Sie hatte gewusst, vor welchen Personen sie sich in Acht nehmen musste. Aber hier? Die ganze Stadt schien nur aus irgendwelchen Gruppierungen zu bestehen, die jederzeit bereit schienen, ihre Feinde kaltblütig zu ermorden. Die Goldröcke, die dem König dienten. Die Stahlblüten, die laut Salia gut darin waren, Leichen verschwinden zu lassen und danach strebten ihre eigene Macht auszuweiten. Und dann die schwarze Rose... Eine Organisation, die sich offensichtlich für das Leid der einfachen Leute eingesetzt hatte und deren Kopf nun abgeschlagen wurde, wie Zarifa bei ihrer Ankunft in Gortharia erfahren hatte. War dies die einzige Organisation gewesen, der Zarifa hätte trauen können? Gab es in dieser Stadt überhaupt irgendjemanden, dem sie trauen konnte?
“Was ist mit den Schattenläufern? Immerhin arbeitet Cyneric für sie und Cyneric kann ich doch vertrauen, oder?“, fragte sie sich selber hoffnungsvoll. Aber konnte sie das wirklich? Cyneric hatte sie einfach hier in dieses Haus abgeschoben, um sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern zu können. Und laut Salia war es deutlich besser für Zarifa, diesen mysteriösen Schattenläufern besser nicht zu nahezukommen. Was auch immer sie damit genau gemeint hatte.
Es schien hoffnungslos zu sein. Zarifa fühlte sich in dieser Stadt vollkommen fremd, verlassen und einsam. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Außerhalb dieses Hauses schwebte sie in ständiger Gefahr, an die falschen Leute zu geraten. Und innerhalb dieses Hauses schwebte sie in ständiger Gefahr, in ihrer Trauer und ihrer Hilflosigkeit einzugehen. Wenn es doch nur irgendjemanden gäbe, mit dem sie über all das reden konnte.
„Was ist mit Rhiannon?“ Sie schien sehr freundlich zu sein und hatte versprochen, dass sie sich eines Tages wiedersehen würden. Und sie schien genau zu wissen, wer Zarifa war: Die Mörderin ihres Bruders. Konnte Zarifa ihr vielleicht vertrauen?
Es klopfte. „Herein!“, gab Zarifa zurück und ein Dienstmädchen aus dem Haus trat in das Zimmer.
„Herrin Lilja wünscht euch zu sehen.“
„Was will sie denn von mir?“
„Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass sie euch im Speisesaal auf euch wartet.“
Zarifa seufzte und stand auf. „Also gut, ich komme.“
„So schlimm ist das doch gar nicht. Lilja ist immerhin freundlich zu mir und zurzeit ist jede Aktivität besser, als einfach nur herumzusitzen und zu grübeln. Grübeln bringt nichts. Es macht nur traurig“, dachte Zarifa, während sie sich auf dem Weg zum Speisesaal machte. Als sie die Tür erreichte hörte sie laute, aufgeregte Stimmen. Verwundert blieb sie stehen und lauschte erst einmal. Nicht weil es sie wirklich interessierte, was die Stahlblüten miteinander zu bereden hatten, sondern einfach aus Instinkt. Sie erkannte Liljas Stimme.
„Wir können es nicht riskieren, jemanden von uns in das Anwesen zu schicken. Es ist viel zu gut bewacht und wir haben keinerlei Kontakt zu der Familie.“
„Aber wir müssen wissen, was in dem Testament steht. Nur so haben wir eine Chance, die ganze Situation zu unserem Vorteil zu nutzen“, protestierte eine andere Frau.
„Willst du das Testament etwa fälschen?“
„Wenn es sein muss... Die Gelegenheit ist zu gut, um sie nicht zu ergreifen.“
„Vielleicht hast du Recht.“
Zarifa blieb nach dem Ende des Gesprächs noch einige Sekunden stehen und überlegte. Dann jedoch fiel ihr auf, dass das Ganze nichts mit ihr zu tun hatte und sie auch gar nicht wissen wollte, worum es da genau ging. Sie klopfte.
„Herein!“, ertönte Liljas Stimme und Zarifa öffnete die Tür.
„Ah Zarifa, schön dich zu sehen. Komm, setz dich zu uns“, wurde sie von Lilja begrüßt. In dem Raum befanden sich inklusive Lilja vier Frauen der Stahlblüten, wobei Zarifa die anderen drei bisher nur vom sehen her kannte. Sie alle lächelten sie freundlich an. Vorsichtig ging Zarifa auf den Tisch zu und setzte sich.
„Möchtest du etwas trinken? Vielleicht einen Tee?“, fragte Lilja.
„Ähh... Ja gerne“, entgegnete Zarifa und Lilja klatschte in die Hände, woraufhin einige Sekunden später eine Bedienstete mit einem Tablett hereinkam und Zarifa einen Tee servierte. Es fühlte sich seltsam an so bedient zu werden. Normalerweise war Zarifa auf der anderen Seite einer solchen Interaktion. Sie begann zu trinken und wartete darauf, dass Lilja oder eine der anderen anfing zu sprechen und zu erklären, was das ganze hier eigentlich sollte. Als könnte Lilja ihre Gedanken lesen, begann sie augenblicklich zu sprechen, als Zarifas Lippen die Teetasse berührten.
„Du fragst dich sicher, warum ich dich habe rufen lassen. Nun, ich habe ein Angebot für dich. Du bist hier, weil du Schutz suchst, nicht wahr?“
Zarifa nickte. Sie hatte keine Ahnung, worauf das ganze hinauslaufen sollte.
„Nun, wie wäre es, wenn du zukünftig keinen Schutz mehr bräuchtest, sondern dich selber verteidigen könntest? Zora hier ist eine unserer besten Kämpferinnen und hat angeboten, dir ein paar Tricks beizubringen.“
Zarifa staunte. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Es konnte sicherlich nicht schaden, ein wenig was über Selbstverteidigung zu lernen. Zora, eine Frau mit langen, glatten schwarzen Haaren, die sie mit einigen Perlen verziert hatte, lächelte sie freundlich an.
„Also, was sagst du dazu?“, fragte sie, ohne dabei mit dem Lächeln aufzuhören. Irgendwie gefiel Zarifa dieses dauerhafte Lächeln nicht. Dennoch willigte sie ein.
„Also gut, dann komm mal mit nach draußen“, sagte Zora und stand auf. Zarifa folgte ihr. Auf dem Weg nach draußen fragte Zora die junge Frau ein wenig über ihre bisherige Kampferfahrung aus und Zarifa berichtet, dass sie nie irgendwas darüber gelernt. Sie versuchte Kämpfen lieber durch unauffälliges Verhalten und unbemerkt bleiben aus dem Weg zu gehen, was auch jahrelang sehr gut funktioniert hatte. Zora nickte bei dieser Erklärung nur und ging schweigend weiter in Richtung des weitläufigen Gartens des Anwesens. Dort angekommen, drehte Zora sich zu der jungen Frau um und fragte, ob sie schonmal einen Dolch benutzt hatte. Zarifa bejahte und Zora nickte zufrieden.
„Es ist immer von Vorteil, einen kleinen Dolch bei sich zu haben. Gegen einen unbewaffneten Gegner ist das ein riesiger Vorteil und oft reicht schon das Zücken des Dolches, um den Gegner zur Aufgabe zu zwingen. Besitzt du denn zurzeit einen Dolch?“
„Nein“
„Nun, das solltest du ändern. Am besten solltest du von jetzt an immer einen kleinen Dolch bei dir haben. Wir werden dir etwas in die Richtung besorgen.“
„Das kann ich auch selber machen“, entgegnete Zarifa unwillkürlich und bereute es direkt ein wenig.
„Wie meinst du das?“, fragte Zora verwundert.
„Nun... ich habe schon früher mal einen Dolch gestohlen. Für mich ist das nicht so eine große Sache“, meinte Zarifa etwas kleinlaut.
„Das ist... interessant“, entgegnete Zora nachdenklich. „Aber vermutlich ist es trotzdem sicherer, wenn wir dir einen Dolch besorgen. Für dieses Training kannst du erst einmal einen meiner Dolche benutzen. Aber zunächst fangen wir mit den Grundlagen ohne Waffen an. Schließlich kann es immer passieren, dass man überrascht wird und gerade keine Waffe dabei hat oder sie einfach nicht schnell genug zücken kann. In dem Fall ist es auf jeden Fall wichtig zu lernen, sich aus einem Griff zu befreien.“
Ohne Vorwarnung packte Zora die junge Frau recht kräftig am Handgelenk. Es tat nicht wirklich weh und dennoch fuhr Zarifa zusammen. Andere Bilder von unangenehmen Berührungen kamen ihr in den Sinn, doch bevor ihre Gedanken zu stark abschweiften, holte Zoras Stimme sie zurück in die Gegenwart.
„Los, versuch dich zu befreien“, sagte sie ohne ihren Griff zu lockern. Zarifa zog mit aller Kraft und versuchte sich loszureißen, doch Zoras Griff war einfach zu kräftig.
„Ich kann das nicht. Ich bin einfach zu schwach für sowas“, gab Zarifa schließlich resigniert auf.
„Du bist nicht zu schwach. Es gibt bei so Etwas kein zu schwach. Nur die falsche Technik“, sagte Zora aufmunternd. Du darfst nicht versuchen dich aus seinem Griff loszureißen. Versuche stattdessen ihn zu brechen. Ich zeige dir, wie das geht. Los, pack mich so kräftig du kannst am Handgelenk.“
Zarifa tat wie ihr geheißen. Eine Sekunde später hatte Zora mithilfe ihres Ellenbogens den Griff gebrochen.
„Dein Handgelenk und damit auch deine Hand sind bei einem solchen Griff unbrauchbar. Dein Gegner wird jedoch in der Regel fälschlicherweise davon ausgehen, dass er deinen gesamten Arm ausgeschaltet hat und nur auf deinen anderen Arm oder deine Beine achten. Mit deinem Ellenbogen hast du jedoch immer noch eine Waffe, auf die dein Gegner nicht achten wird. So kannst du einen Griff am Handgelenk ganz einfach brechen. Los, versuch es.“
Erneut packte Zora Zarifa kräftig am Handgelenk. Zarifa überlegte, was genau Zora eben getan hatte.
„Zieh deinen Ellenbogen nach oben“, versuchte Zora ihr zu helfen. Zarifa erinnerte sich. Und tatsächlich. Es funktionierte. Sie bewegte ihren Ellenbogen zunächst nach oben und schlug anschließend damit auf Zoras Unterarm ein, deren Griff sofort gebrochen war.
„Sehr gut. Wie du siehst, hast du damit nicht nur meinen Griff, sondern gleichzeitig auch meine Deckung gebrochen. Der Weg wäre frei, für einen Schlag ins Gesicht.“
„Wäre es nicht das Beste, an dieser Stelle direkt abzuhauen. Immerhin bin ich in so gut wie jeder Schlägerei körperlich unterlegen. Da wäre es mir lieber, einfach abzuhauen, sobald ich mich aus einem Griff befreit habe“, überlegte Zarifa.
„Aber zu diesem Zeitpunkt ist dein Gegner doch noch komplett unverletzt. Er würde dir einfach hinterherlaufen.“
„Aber ich habe doch das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Außerdem habe ich nur selten Leute getroffen, die schneller sind als ich.“
„Aha...“, meinte Zora nachdenklich. „Nun, und was ist, wenn du in einer Sackgasse bist oder versehentlich in eine rennst?“
„Es gibt fast keine echten Sackgassen. So gut wie jede Wand kann man hochklettern. Bei manchen ist es nur etwas schwieriger.“
„Verstehe...“, entgegnete Zora und wirkte immer nachdenklicher. Ihr schien eine Idee gekommen zu sein.
„Wie dem auch sei, es ist immer besser noch einen Plan B in der Hinterhand zu haben. Was ist, wenn dein Bein leicht verletzt ist und du nicht richtig rennen und klettern kannst. Oder wenn du es mit mehreren Gegnern zu tun hast? Machen wir daher noch ein bisschen weiter. Ein paar kleine Tricks und nützliche Tricks kann ich dir sicherlich noch zeigen.“
Zarifa in die Straßen von Gortharia