Kapitel 26 markiert einen Höhe - und Wendepunkt in der Geschichte:
Das Schicksal Khamûls
„A Elbereth, Glithoniel!“
Der Ruf des Fürsten Hurin zerriss Khamûls Schatten und warf die Furcht, die er verbreitete auf ihn selbst zurück. Nun schien es so, als umgäbe den Fürsten von Dagorland eine Aura des Lichts, durch die seine Schatten ihm nichts anhaben konnten. Vor dem Namen Elbereth hatte er schon immer Angst gehabt, da man nach der Anrufung ihres Namens immer von so einer Aura des Lichts umgeben war. Khamûl hasste Licht, und er würde nie diesen Namen in den Mund nehmen! Die Furcht, die er verbreitete, war jetzt nutzlos, doch er war noch immer ein besserer Fechter als der Fürst von Dagorland! Für diese Worte würde er ihm einen äußerst grausamen Tod schenken – oder noch besser: gar keinen!
Fürst Hurin machte einen Satz nach Vorne, und schon kreuzten sich die Schwerter der Beiden. Hurin hatte beim Kämpfen einen Vorteil: Er hatte ein einhändiges Langschwert und einen Schild, während Khamûl seine Morgulklinge zweihändig führte. Dieser kleine Vorteil würde Hurin trotzdem nichts bringen, denn Khamûl hatte einige tausend Jahre mehr Kampferfahrung als sein Gegner.
Khamûl stieß Hurin von sich weg und setzte ihm sofort mit seiner Klinge nach. Hurin riss seinen Schild hoch, und Khamûls Schwert glitt Wirkungslos am Stahl des Schildes ab. Schon führte der Fürst von Dagorland wieder einen Hieb auf ihn aus. Ehe er den Hieb pariert hatte, fuhr das Schwert seines Gegners erneut auf ihn zu.
Hurin deckte Khamûl mit Hieben ein, sodass dieser in die Defensive gedrängt wurde. Khamûl wagte noch keinen Angriff, zuerst musste er eine Lücke in der Verteidigung seines Gegners finden. Nun wurde er an den Rand des Ringes seiner Verbündeten gedrängt. Jetzt musste er angreifen, ansonsten würde er sein Gesicht verlieren! Mit einem Hieb seiner Morgulklinge wehrte er das Schwert Hurins ab, mit einem weiteren attackierte er die Brust seines Gegenübers. Der Fürst von Dagorland war ein besserer Kämpfer, als Khamûl angenommen hatte. Er schaffte es tatsächlich noch, sich mit seinem Schild zu verteidigen! Und dieses Mal hatte Khamûl sogar noch Pech: Seine Morgulklinge durchstieß den Schild Hurins und blieb darin stecken.
Das war schlecht! Mit aller Kraft versuchte Khamûl, sein Schwert aus dem Schild seines Gegners zu ziehen, doch dieser nutzte die Gelegenheit und ließ sein Schwert hervorschnellen. Khamûl schaffte es gerade noch, sich ein wenig zur Seite zu drehen, um Hurins wütender Klinge zu entgehen. Dann kam ihm eine Finte in den Sinn: Mit seiner Linken packte er Hurins Schwertarm, während er mit seiner Rechten den Griff seiner Morgulklinge umklammerte. Hurin wehrte sich heftigst, aber Khamûl ließ nicht los. Er war stärker als sein Gegner! Mit einem Ruck versuchte er, Hurin aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch der Fürst von Dagorland blieb fest auf seinen beiden Beinen stehen. Er musste noch etwas anderes versuchen!
Khamûl drehte Hurin seinen rechten Arm um. Zuerst verzerrte der Fürst von Dagorland nur sein Gesicht vor Schmerz, schließlich verkrampfte sich auch seine Hand und er ließ sein Schwert fallen. Nun setzte Khamûl einen Fuß auf Hurins Brust und stieß ihn mit aller Kraft von sich. Endlich glitt sein Schwert aus dem Schild seines Gegners hinaus!
Nun stand Hurin Khamûl ohne Schwert gegenüber, dieses lag direkt neben Khamûl am Boden. Khamûl lachte. „Nun, Fürst von Dagorland? Du stehst mir ohne Schwert gegenüber! Glaubst du, dass du noch eine Chance gegen mich hast?“ Khamûl hätte am Liebsten all seine Schatten, die er aufbieten könnte, auf Hurin konzentriert, doch die Aura des Lichts umgab ihn noch immer. Daher musste er vorerst noch einmal auf direkten Kampf setzen. Er würde so oder so gewinnen, daran bestand kein Zweifel!
Während er auf den Fürsten Hurin zusprang, holte er weit mit seinem Schwert aus und führte einen Hieb von der Seite auf seinen Gegner aus. Wieder schaffte er es, sich mit seinem Schild zu schützen! Khamûl führte noch einen Hieb von der anderen Seite auf Hurin aus, doch dieser duckte sich unter Khamûls Morgulklinge weg und eilte geduckt an ihm vorbei. Damit hatte er nicht gerechnet! Er versuchte, Hurin noch einmal zu erwischen, doch der Fürst von Dagorland war zu schnell für ihn. Schon hatte er wieder sein Schwert vom Boden aufgehoben. „Nun, Schatten des Ostens!“, rief er: „Du hast mich unterschätzt! Wie du sehen kannst, bin ich wieder im Besitz meines Schwertes!“
Khamûl war zornig. Er hatte den Fürsten Hurin wirklich unterschätzt... Aber trotzdem würde sein Gegner nicht gewinnen! Sie sprangen beide gleichzeitig aufeinander zu, ihre Klingen fingen sich gegenseitig ab. Daraufhin waren sie in einen erbarmungslosen Zweikampf verwickelt. Immer wieder schlugen die Klingen der Beiden aufeinander, sodass die Luft erfüllt war vom metallischen Klirren ihrer Schwerter. Khamûl sah es Hurin an, dass ihn seine Kräfte verließen. Nun war seine Stunde gekommen! Während Hurins Bewegungen immer träger wurden, führte Khamûl einen Hieb nach dem anderen auf ihn aus. Noch hielt sich sein Gegner, doch nicht mehr lange, und er würde verlieren!
Khamûl holte weit mit seiner Klinge aus. In den darauf folgenden Hieb legte er all seine Kraft. Fürst Hurin riss seinen Schild hoch, und als Khamûls Morgulklinge auf den beschädigten Schild seines Gegners aufschlug, zerbarst dieser. Khamûl holte noch einmal weit aus, dieses Mal von der anderen Seite. Hurin stellte Khamûls Hieb sein Schwert entgegen, doch seine Hände waren so Kraftlos geworden, dass ihm seine Klinge aus der Hand glitt.
Nun stand der Fürst von Dagorland eindeutig waffenlos da. Khamûl fühlte, wie die Aura des Lichts um Hurin schwächer wurde. Darauf hatte er gewartet! Er ließ alle Schatten, die er aufbieten konnte, ausströmen und bündelte ihre Macht auf Hurin. Sein Gegner stand wie versteinert da, die Augen vor Schreck geweitet, kaum fähig zu Atmen. Nun war es zu Ende mit ihm!
Seine Morgulklinge wie einen Skorpionstachel haltend, zielte er auf Hurins Brust. Nun war der Fürst verloren! Khamûls Morgulklinge stach nach Vorne und durchbohrte die Kettenrüstung seines Gegenübers.
Einen Herzschlag lang blieb Hurin bewegungslos, als sei er versteinert worden, doch dann durchfuhr ein Beben seinen Körper und er hauchte seine Seele hinaus. Natürlich sah es für die Zuseher so aus, als würde der Fürst von Dagorland nur lange ausatmen, doch für Khamûl war die austretende Seele sichtbar. Je weiter die Seele Hurins ihren Körper verließ, umso magerer wurde dieser. Die Haut Hurins wurde dünn und faltig, seine Augen traten tief in ihre Höhlen hinein, und sein Haar wurde grau. Als die Seele Hurins vollständig ihrem Körper entstiegen war, war dieser nur noch Haut und Knochen. Khamûl zog seine Morgulklinge aus dem toten Körper des Fürsten, welcher sofort umkippte, wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren.
Stille herrschte unter Khamûls Verbündeten, welche den Kampf beobachtet hatten. Er riss sein blutbeflecktes Schwert in die Höhe und verkündete: „Dagorland ist gefallen!“ Sofort brach tosender Jubel unter den Ostlingen und Orks aus. Khamûl flüsterte der Seele Hurins: „Folge mir“, zu und eilte zu seinem Pferd. Es befand sich am selben Ort, an dem er es verlassen hatte, angebunden an einen Holzpflock. Er löste die Zügel vom Holz und schwang sich auf den braunen Hengst. Mit einem tritt in die Seiten gab er ihm den Pefehl, loszulaufen, und kurz darauf jagte er in vollem Galopp auf die Mulde, in der sie gelagert hatten, zu. Bald würde sich sein Schicksal erfüllen!
Während Khamûl über die Ebene von Dagorland ritt, flatterte seine Kutte im Wind. Von weitem sähe er bestimmt so aus, wie ein lebendig gewordenes Stück Nebel. Er blickte sich um und sah den für normale Augen unsichtbaren Geist Hurins, der ihm folgte. Khamûl war von tiefem Glück erfüllt. Alle seine Pläne waren bis jetzt aufgegangen!
Er galoppierte durch den Eingang der Mulde, vorbei am Zelt von Saurons Mund, bis in die hinterste Ecke. Dort, an den Trümmern des Schwarzen Tores war er – Ulfang! Nach seiner Verletzung hatte er verlangt, in sein Zelt gebracht zu werden, dort war er Khamûl hilflos ausgeliefert! Er sah, wie gerade zwei Ostlinge aus der Leibgarde des Königs eiligst dessen Zelt verließen. Schnell schwang er sich von seinem Pferd und tat so, als würde er zum Zelt von Saurons Mund wollen. Als die beiden Krieger dann endlich außer Sichtweite waren, machte sich Khamûl daran, seinen Plan auszuführen. Leichtfüßig durchschritt er den Weg bis zum Zelt des Königs von Rhûn – dem ehemaligen! Bald würde er nur noch ein Sklave Khamûls sein, und Khamûl würde über das Reich, dessen König er einst gewesen war, herrschen!
Er betrat das Zelt von König Ulfang. Es war prunkvoll eingerichtet: Überall war Gold zu sehen, und er hatte auf einem kleinen Tisch in der Mitte sogar die edelsten Früchte. Schon hallte ihm die unhöfliche Stimme des Königs entgegen: „Verschwinde! Ich wünsche, in Ruhe gelassen zu werden!“
Khamûl machte keine Anstalten, das Zelt zu verlassen. Ulfang war auf seiner Schlafstätte und stand gerade auf. „Was willst du von mir, Khamûl?“, sagte er zu ihm in einem bemüht freundlichen Ton.
Nun war es an der Zeit, ihn aus dem Weg zu schaffen! Khamûl zog seine Morgulklinge und antwortete Ulfang: „Ich will deinen Thron!“
„NEIN!“ Der König sprang auf Khamûl zu, mit seiner Hand hielt er Khamûls Schwertarm, mit seinem Armstummel wollte er Khamûl ins Gesicht schlagen. Dieser Angriff war etwas zu plötzlich für den Nazgûl gekommen. Der Stummel von König Ulfang schlug Khamûls Maske von seinem Gesicht. Nun blickten sich beide gegenseitig in die Augen. Ulfang stand der Schreck im Gesicht geschrieben. Der König hatte wohl erwartet, dass Khamûl ein Mensch war. Wie naiv! Khamûl befreite seinen Schwertarm aus Ulfangs Griff und stach sofort darauf zu. Es geschah dasselbe wie mit Hurin: Er hauchte seine Seele hinaus, seine Haut zog sich zusammen, und er wurde immer dürrer, bis er nur noch Fleisch und Knochen war. Khamûl zog seine Morgulklinge aus Ulfangs Brust und legte seinen Körper wieder auf seine Schlafstätte zurück. Dann blickte er zu den beiden Seelen, die er versklavt hatte.
Er sprach zu den Beiden Geistern: „Hurin, ab jetzt bist du Hurgûl, der Geist des Hurin! Ulfang, ab jetzt bist du Ulfgûl, der Geist des Ulfang! Ihr beide seid ab Sofort meine Sklaven!“ Hurgûl und Ulfgûl verneigten sich und sagten mit gehauchten Stimmen: „Ja, Meister!“
Alles war perfekt. Khamûl würde der neue Herrscher Rhûns werden, er war schon in Gondor eingedrungen, und Hurin und Ulfang waren seine Sklaven!
Jetzt konnte nichts mehr schief gehen!