Edrahil, Minûlîth und Thorongil von Minûlîths AnwesenWährend Edrahil noch hinter Minûlîth die Planke an Bord der Aglarbalak hinauf humpelte, rief Thorongil der Besatzung bereits Befehle entgegen. Oben angekommen lehnte Edrahil sich an die Reling des Schiffes, und massierte sein linkes Knie, das nach den heutigen Strapazen wie Feuer brannte. Nur wenige Augenblicke, nachdem er das Deck betreten hatte, wurde die Planke eingezogen, und von einer günstigen Windböe aus dem Osten getrieben, setzte sich das Schiff des Hauses Minluzîr in Bewegung. Während Thorongil sie durch den Hafen steuerte, beobachtete Edrahil von seinem Platz an der Reling aus das Chaos, das vom Rest der Stadt inzwischen auf den Hafen übergriffen zu haben schien. Auf einigen Schiffen wurde gekämpft, und andere strebten ebenso wie die Aglarbalak dem Ausgang des Hafens zu.
"Anscheinend sind wir nicht die einzigen, die die Stadt sehr eilig verlassen", sagte Edrahil zu Minûlîth, die neben ihm an der Reling stand und auf den Hafen blickte. "Ja...", erwiderte sie, und deutete auf die Schiffe mit schwarzen Segeln, die nach und nach ablegten, um die anderen zu verfolgen. "Ich hoffe nur, sie schaffen es."
"Und wir am besten auch", ächzte Edrahil, denn ein scharfer Schmerz schoss durch sein linkes Bein und zwang ihn, sich an einem nahen Tau festzuhalten. "Über uns mache ich mir keine Sorgen. Die Aglarbalak kann es an Geschwindigkeit locker mit den schnellsten Kriegsschiffen der Flotte aufnehmen, und ich vermute, dass sie sich erst auf die langsameren Schiffe konzentrieren werden", meinte Minûlîth. "Schlecht für sie, gut für uns", erwiderte Edrahil langsam, und erntete einen strafenden Blick von Minûlîth. "Wahrscheinlich sind einige dieser Leute meine Freunde und Verbündeten. Nur, weil du sie nicht kennst, heißt das nicht, dass..."
"Darum geht es nicht", unterbrach Edrahil sie ruhig, während sie unbehelligt die äußeren Kaimauern passierten und die Gewässer außerhalb des Hafens erreichten. Nur wenig entfernt wurde ein langsameres Handelsschiff von zwei schlanken Kriegsschiffen aufgebracht und geentert. "Es geht darum, dass wir entkommen können, weil sie zu langsam sind."
"Sie haben sicherlich nicht darum gebeten, für unser Wohl in Hasaels Hände zu geraten", sagte Minûlîth, und ihre Stimme klang bitter. Edrahil zuckte mit den Schultern. "Vermutlich nicht. Aber ich werde deswegen keine schlaflosen Nächte verbringen."
"Wie kannst du nur so... kalt sein?" Minûlîth wandte ihm das Gesicht zu, und zu Edrahils Überraschung erkannte er keine Tränen. "Es ist notwendig", antwortete er. "Auf dem Weg, den wir vor uns haben, müssen Opfer gebracht werden, und es bringt keine Vorteil, sinnlos zu trauern um Tote, auf deren Tod wir keinen Einfluss gehabt haben."
"Hatten wir nicht?", fragte Minûlîth, und in ihrer Stimme lag eine bestimmte Schärfe. "Wir haben Hasael nicht verfolgen lassen, und ihm ermöglicht, Unterstützung zu sammeln. Wäre er nicht entkommen..." Edrahil biss die Zähne zusammen, denn was Minûlîth sagte waren genau die Vorwürfe, die er sich selbst machte seit Valirë die Nachricht von Hasaels Rückkehr gebracht hatte. Doch derartige Vorwürfe würden sie jetzt keinen Schritt weiterbringen - wichtig war nur, dass sie einen solchen Fehler nicht wieder begingen, denn das nächste Mal könnte es tödlich enden.
"Und wir hätten... hätten..." Minûlîth sprach nicht weiter, denn Thorongil hatte seinen Platz am Steuer verlassen und stand nun hinter ihnen. "Gibt es ein Problem?", fragte er ruhig, und Edrahil war sich sicher, dass er ihn sofort über Bord werfen würde, wenn Minûlîth auch nur eine Andeutung in dieser Richtung machte. Minûlîth jedoch schüttelte nur langsam den Kopf.
"Abgesehen, dass Hasael Umbar wieder unter seine Kontrolle bringt und alle unsere Pläne gescheitert sind? Nein."
Wortlos zog Thorongil sie in seine Arme, und Edrahil wandte taktvoll den Blick ab. Im Osten verschwand langsam der Hafen von Umbar, im Norden war undeutlich die Küstenlinie von Kap Umbar zu erkennen, und im Süden und Westen gab es nur Wasser. "Nicht alle Pläne...", sagte er leise vor sich hin, während er nach Norden blickte. "Lóthiriel ist befreit, Bayyin hat gefunden was er gesucht hat, und deine Schwester und... Túor sind in Sicherheit."
"Túor ist aus Umbar entkommen?", fragte Thorongil, und obwohl sein Gesicht keine Regung erkennen ließ, lag Wärme in seiner Stimme. "Das freut mich, ich mag deinen Neffen." Edrahil wechselte einen raschen Blick mit Minûlîth, in deren Augen ein stummes Flehen lag, und fragte sich, wie ein solcher Mann so blind sein konnte.
Thorongil hatte den Blick offenbar bemerkt, denn er fragte: "Etwas, das ich wissen sollte?"
"Der Rest unserer Gruppe sollte ein Schiff nördlich von Umbar aufsuchen", erklärte Edrahil rasch. "Wir fragen uns, ob sie es erreicht haben, und ob sie vielleicht verfolgt werden."
"Wir könnten einen Tag hier kreuzen, bevor wir nach Süden weitersegeln", schlug Thorongil vor. "Beobachten, ob die Flotte nach Norden ausläuft. Allerdings werden wir beim ersten Anzeichen von schwarzen Segeln, die in unsere Richtung kommen, verschwinden." Edrahil neigte dankbar den Kopf. "Das würde mich sehr erleichtern."
Oder auch nicht, wenn wir kein Zeichen von ihnen sehen...Die Sonne stand allmählich tief im Westen, und das Meer war so ruhig, dass Thorongil drei Stühle an Deck geschafft hatte, auf denen sie sich nun unter dem Hauptmast niedergelassen hatten.
"Wir haben uns einander noch nicht vorgestellt", eröffnete Thorongil das Gespräch. "Man nennt mich Thorongil, aus dem Haus der Turmherren." "Oder Tayyad", ergänzte Edrahil mit einem wissenden Lächeln, und Thorongil warf Minûlîth einen kurzen Blick zu. "Nun, die Herrin Minûlîth hatte einiges über euch zu erzählen - nur Gutes, selbstverständlich", erklärte Edrahil weiter. "Mein Name ist Edrahil, Herr der Spione von Dol Amroth - ich habe euren Onkel einmal gesehen, wenn ich richtig liege. Elendar."
"Ihr wart beim Angriff auf Umbar dabei?", fragte Thorongil verwundert, und Edrahil nickte. "Allerdings."
"Davon hast du nie etwas erwähnt", warf Minûlîth ein. "Ich bin nicht unbedingt stolz auf das, was ich dort getan habe", meinte Edrahil, und verzog das Gesicht. Tatsächlich erinnerte er sich an wenig, nur an Rauch, Feuer und einen Kampfrausch, wie er ihn nie wieder verspürt hatte.
"Lassen wir die Vergangenheit ruhen", sagte Thorongil nach einem Augenblick. "Oder zumindest die ferne Vergangenheit. Ich wüsste nämlich gerne, was bei allen Sternen ein Spion aus Dol Amroth in Umbar zu tun hatte, wie er mit Melíril in Kontakt gekommen ist, und was das alles mit dem Chaos in der Stadt zu tun hat."
"Das ist...", begann Minûlîth, und Edrahil beendete den Satz: "... eine lange und verwickelte Geschichte. Aber ich werde..." Er wurde unterbrochen, als eine Stimme von der Spitze des Mastes rief: "Tayyad!"
"Er kennt mich noch von früher, als ich unter diesem Namen lebte", erklärte Thorongil, bevor er zurückrief: "Was siehst du?"
"Segel im Norden!"
Thorongil, Edrahil und Minûlîth wechselten besorgte Blicke, bevor Thorongil die entscheidende Frage hinaufrief: "Welche Farbe?"
"Blau. Hellblau", kam es von oben zurück. Und dann noch: "Es segelt unter gelber Flagge."
Edrahil lächelte. "Tut mir Leid, Thorongil. Ihr werdet auf eure Geschichte noch ein bisschen länger warten müssen... denn dieses Schiff ist die Súlrohír, und wenn alles gut gelaufen ist, bringt sie unsere Freunde mit."
"Noch mehr Segel, diesmal aus Richtung Umbar. Schwarze Segel!", ertönte erneut die Stimme es Ausgucks, und alle Augen richteten sich nach Osten.
"Das sind... viele Schiffe", sagte Thorongil langsam. "Hasael muss seine gesamte verbliebene Flotte auf uns angesetzt haben", meinte Minûlîth. "Was machen wir jetzt?"
Edrahil stieß einen Fluch aus, und schlug mit der Faust gegen die Reling. Dann sagte er mühsam: "Was Thorongil gesagt hat: Wir verschwinden."
"Was?", stieß Minûlîth hervor, und der Schrecken war ihr deutlich anzuhören. "Aber... wir können sie doch nicht einfach im Stich lassen."
"Wir können ihnen aber auch nicht helfen", erwiderte Edrahil, und jedes einzelne Wort war schmerzhaft. Wie um ihm die Entscheidung zu erleichtern, hatte der Wind inzwischen gedreht und eine frische Brise wehte von Nordosten heran. "Nicht gegen so viele Schiffe."
"Er hat recht, Melíril", sagte Thorongil leise. "Wir können nur hoffen, dass sie ebenfalls im Schutz der Dunkelheit entkommen." Die Sonne war inzwischen beinahe vollständig verschwunden, ein roter Halbkreis, der allmählich im Meer versank.
"Aber auf diesem Schiff sind Valion, Valirë, meine Schwester und mein... Neffe." Minûlîth wirkte verzweifelt, doch der Eindruck schwand, als sie die Hände hob. "Nein, sagt nichts. Ich verstehe. Wir können nichts tun, also können wir uns ebenso gut selbst retten. Ich hoffe nur, wir können mit dieser Entscheidung leben." Mit diesen Worten eilte sie über das Deck davon und schlug die Tür, die zu den Kabinen hinunterführte, hinter sich zu. Edrahil und Thorongil wechselten einen betretenen Blick, bevor Thorongil begann, Befehle zu geben und Edrahil den Blick wieder nach Nordosten wandte, den allmählich mit der Dämmerung verschwimmenden schwarzen Segeln zu. Er hatte die Wahrheit gesagt, das Schicksal der Schiffe im Hafen hatte ihn kein bisschen berührt. Doch dieses hier war etwas anderes.
Ich hoffe nur, wir können mit dieser Entscheidung leben."Verdammter Mist."
Die Aglarbalak nach Tol Thelyn