Milva vom KönigspalastBeinahe den gesamten nächsten Tag hatte Milva erneut auf der Jagd verbracht, und entsprechend erschöpft war sie, als sie am Abend das Haus von Ronvid und Ana betrat. Der Schuhmacher und seine Frau saßen in der kleinen Küche, aus der es verführerisch nach Eintopf duftete. Milva lehnte Bogen und Köcher vorsichtig an die Wand und trat dann ein wenig zögerlich durch die Tür. Im Raum knisterte einladend das niedrige Feuer im Ofen, das ein schwaches flackerndes Licht warf.
Als sie eintrat, hob Ronvid den Kopf und lächelte. "Milva! Komm, setz dich zu uns und iss etwas, Mädchen." Milva schüttelte den Kopf, und erwiderte: "Nein, danke. Ich möchte euch nichts wegessen, und..."
Ana unterbrach sie kurzerhand. Die Frau des Schuhmachers hatte im Gegensatz zu ihrem Mann noch volles braunes Haar, auch wenn es von einigen grauen Fäden durchzogen war. "Ach, Unsinn." Sie schob den dritten Stuhl an dem kleinen Tisch mit dem Fuß zurück, und nahm eine dritte hölzerne Schale samt Löffel aus dem Regal und stellte sie davor. "Du siehst hungrig aus und wir haben genug, also iss."
Milva setzte sich gehorsam, und Ana füllte die Schüssel aus dem eisernen Kessel, der über dem Feuer hing. "Ich habe zwei Rehkeulen mitgebracht, die die Herrin nicht wollte", sagte Milva. "Ihr sollt sie haben."
"Kommt nicht in Frage", antwortete Ronvid. "Du schuldest uns nichts, abgesehen von der Miete für das Zimmer."
"Ich schenke sie euch", gab Milva zurück, und ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Die beiden Alten wechselten einen bedeutsamen Blick, und schließlich meinte Ronvid: "Also schön... es muss Ewigkeiten her sein, dass ich Wildbret gegessen habe." "Aber nur, wenn du jeden Abend mit uns isst, solange du hier wohnst", ergänzte Ana, während Milva vorsichtig den dampfend heißen Eintopf probierte. "Und nicht in irgendein Gasthaus gehst, wo sie dir wer weiß was für einen Fraß vorsetzen."
Der Eintopf gehörte zum Besten, was Milva seit langer Zeit gegessen hatte. Sie war zwar normalerweise genügsam und kümmerte sich nicht groß darum, was genau sie zu Essen bekam, doch wenn das Essen gut war, konnte sie es zu schätzen wissen. Nach zwei weiteren Löffeln warf sie einen Blick durch den kleinen Raum, und stellte fest, dass sie sich wohlfühlte. Das Gefühl war ihr in der letzten Zeit beinahe unbekannt geworden, und sie konnte gerade noch einen zufriedenen Seufzer unterdrücken.
Nach einiger Zeit, in der sie schweigend gegessen hatte, fragte Milva: "Ronvid... Kannst du eigentlich lesen?"
Der Schuhmacher schnaubte amüsiert. "Natürlich kann ich lesen. Was glaubst du, wie ich meine Bücher führe?"
"Nun ja, ich dachte mir..." Milva starrte auf ihre Schüssel, und spürte, wie sie errötete. "Ich wollte fragen... vielleicht kannst du mir ein wenig davon beibringen? Ich kann auch dafür bezahlen!", fügte sie hastig hinzu.
"Bezahlen, willst du mich beleidigen?", fragte Ronvid, doch seine Augen funkelten amüsiert. "Wieso willst du lesen lernen? Ich kann mir kaum vorstellen, dass man das im Wald braucht." Er zwinkerte ihr zu, was der Frage ein wenig die Schärfe nahm, und so erwiderte Milva nur: "Ich habe festgestellt, dass es ziemlich nützlich sein kann. Und was kann schon so schwer daran sein?" Der eigentliche Grund war natürlich ein anderer. Ihr war klar geworden, dass der Auftrag, den Ryltha ihr erteilt hatte, nur ausführbar war, wenn sie einigermaßen lesen konnte. Anders würde sie das Testament der Herrin Velmira nicht erkennen können, und auch nicht, wer dort als Erbe eingesetzt war.
"Also schön", sagte Ronvid schließlich. "Ich werde versuchen, es dir beizubringen. Bezahlen musst du dafür nichts, abends ist es hier manchmal ziemlich langweilig und ich kann die Ablenkung gut brauchen. Aber wenn du dir keine Mühe gibst, werde ich aufhören."
Milva konnte sich über seinen Tonfall ein Grinsen nicht verkneifen, und neigte ein wenig übertrieben den Kopf. "Ja, Meister." Ronvid ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und schüttelte den spärlich behaarten Kopf. "Und nenn mich bloß nicht Meister, dann fühle ich mich älter als ich bin."
Später in der Nacht erwachte Milva plötzlich, als sie ein leises Kratzen an der Hauswand unter ihrem Fenster hörte. Das Geräusch war zwar nur leise, doch ein halbes Leben auf der Flucht vor den königlichen Soldaten hatte sie gelehrt, auf jedes ungewöhnliche Geräusch zu hören. Das Rufen einer Eule riss sie nicht aus dem Schlaf, ein Zweig der unter einem Stiefel brach, jedoch schon - und das Kratzen an der Hauswand war gehörte ebenso wenig zu den üblichen Nachtgeräuschen.
Sie richtete sich im Bett auf, griff zu dem Dolch der neben ihr auf dem kleinen Holztischchen lag, und lauschte. Wieder ein Kratzen. Es hörte sich an, als würde jemand an der Hauswand hinaufklettern. Milvas atmete möglichst ruhig, als ob sie schliefe. Den Dolch vor sich auf den Knien, nahm sie mit sparsamen Bewegungen ihr Hemd vom Boden und zog es sich über den nackten Oberkörper, ohne dabei das geschlossene Fenster aus den Augen zu lassen. In der Wildnis schlief sie normalerweise vollständig angekleidet, doch hier hatte sie sich angewöhnt, nur eine Hose zu tragen - ansonsten war es in dem kleinen Raum unter dem Dach einfach zu warm zum Schlafen.
Von der Straße drangen gedämpft die Laute einiger Zecher, die spät unterwegs waren, hinauf. Im nächsten Augenblick schwang die geschlossenen Fensterläden lautlos nach außen auf, und eine schmächtige Gestalt mit schulterlangen, schwarzen Haaren sprang hindurch.
Der Eindringling landete ebenso lautlos auf dem Boden wie er die Fensterläden aufgezogen hatte, und war sofort wieder auf den Beinen - ebenso wie Milva, die aus dem Bett gesprungen war und ihr Jagdmesser drohend vor sich hielt. Die Gestalt hob den Kopf, und zwischen den schwarzen Haaren war das schmale Gesicht einer Frau mit funkelnden grünen Augen zu sehen.
"Du hast mich gehört, sehr gut", sagte die Frau anerkennend. "Noch viel besser wäre es, wenn du mir erzählst, wer du bist und was dieser Auftritt bedeuten soll", gab Milva feindselig zurück. Sie war müde von dem Tag und ihr Körper sehnte sich nach Ruhe - die diese Frau ihr aus was für Gründen auch immer offensichtlich zu nehmen gedachte.
"Du kannst mich Teressa nennen", antwortete der Eindringling, ohne sich von dem feindseligen Tonfall abschrecken zu lassen. "Ich bin eine... Freundin von Ryltha."
"Also gehörst du zu den Schattenläufern", sagte Milva leise, um Ronvid und Ana im Nebenraum nicht zu wecken. "Was willst du hier?"
"Sie... wir haben einen Auftrag für dich", erklärte Teressa. "Zieh dich an, nimm deine Waffe, und komm mit."
"Nein", entgegnete Milva und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich habe den ganzen Tag lang einen eurer Aufträge ausgeführt, und jetzt werde ich schlafen."
Ohne eine Regung zu zeigen, meinte Teressa: "Du hast deine Entscheidung bereits getroffen, sie lässt sich nicht einfach rückgängig machen. Ich werde dich vor der Tür erwarten, aber nicht lange." Mit diesen Worten sprang sie so lautlos wie sie gekommen war aus dem Fenster.
Milva stand ein, zwei Herzschläge reglos in der Dunkelheit. Dann stieß sie einen Fluch zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, zog sich an und warf sich ihren Bogen und den Köcher über die Schulter. Leise öffnete sie die Tür, schlich die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße.
Teressa erwartete sie bereits, und sagte ohne eine Spur von Spott in der Stimme: "Das hat nicht lange gedauert."
Milva zuckte mit den Schultern. "Wie du sagtest, ich habe meine Entscheidung getroffen", erwiderte sie kühl. Teressa betrachtete sie einen Augenblick mit einem Ausdruck in den Augen, der Neugierde sein konnte, und sagte dann: "Also schön. Komm mit."
Milva folgte Teressa einige Zeit schweigend durch beinahe ausgestorbene Nebengassen und betrachtete hin und wieder verstohlen das noch beinahe jugendliche Profil der Schattenläuferin. "Wie lange gehörst du schon zu... deinen Freunden?", fragte sie schließlich, das Wort
Schattenläufer in der Öffentlichkeit vermeidend. Man wusste nie, wer gerade zuhörte. Als Teressa nicht antwortete, vermutete sie: "Allzu lange kann es noch nicht sein - du bist ja höchstens so alt wie ich eher jünger."
Teressas Gesicht wurde verschlossen, und sie erwiderte kühl: "Das braucht dich nichts anzugehen. Du musst nichts über mich wissen."
"Mhm", machte Milva nur, und schwieg für eine Weile. Sie war nicht oft neugierig, schließlich erzählte sie selbst nicht gerne mehr als das nötigste über sich. Doch ihr Verstand sagte ihr, dass es klug wäre, mehr über ihre Auftraggeber in Erfahrung zu bringen. Je mehr sie wusste, desto geringer die Gefahr unliebsamer Überraschungen, und unliebsame Überraschungen waren das letzte, was sie gebrauchen konnte.
Milva dachte im Gehen nach, denn etwas an Teressas Sprechweise kam ihr vertraut vor, ohne dass sie wirklich wusste, was es war. Es hatte etwas mit ihrer Betonung und der Aussprache einzelner Wörter zu tun... "Ah", sagte sie schließlich, als es ihr einfiel. Sie umrundeten gerade einen beinahe menschenleeren Platz, in dessen Mitte die Statue irgendeines ehemaligen Königs von Rhûn stand. "Du kommst aus Thal oder vom Langen See, nicht wahr?"
Teressa reagierte anders als erwartet. Anstatt schweigend stur geradeaus zu Blicken und Milvas Frage zu überhören, blieb sie plötzlich stehen, fuhr herum und drückte Milva mit einer blitzschnellen Bewegung unsanft gegen eine Hauswand. "Woher willst du das wissen?", zischte sie, sichtlich aufgebracht. In einer anderen Situation hätte Milva sich vielleicht gefreut, eine der so kalten und beherrschten Schattenläuferinnen in Verlegenheit gebraucht zu haben, doch die Panik in Teressas Augen machte ihr Sorgen.
"Es ist... wie du sprichst", erklärte sie ein wenig mühsam, denn die Schattenläuferin presste sie mit erstaunlicher Kraft gegen die Wand. "Ich habe ein bisschen gebraucht, weil es eine andere Sprache ist, aber deine Betonung ist ähnlich wie die der Händler aus Thal, und manche Worte sprichst du ähnlich aus."
Auf dem Markt hatte sie oft mit Händlern aus dem Westen gesprochen und verhandelt, und der Akzent war ihr im Gedächtnis geblieben.
Teressa ließ sie los, und trat einen Schritt zurück. "Ich darf nicht...", murmelte sie mit gesenktem Blick. "Ich muss Teressa sein, um..." Sie hob wieder den Kopf und sah Milva ins Gesicht. "Erzähl niemandem davon - von dem ganzen Gespräch." Ein wenig verwirrt nickte Milva. Sie wusste wie es wahr, Geheimnisse vor jedem bewahren zu müssen. Dennoch fragte sie: "Nicht einmal Ryltha?"
Erneut trat ein beinahe panischer Ausdruck in Teressas grüne Augen. "Erst recht nicht Ryltha. Wenn sie erfährt, dass..." Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf. "Versprich mir einfach, dass du mit niemandem darüber sprichst. Schwöre es."
"Also gut, ich verspreche mit niemandem darüber zu sprechen... was auch immer das hier war", erwiderte Milva.
"Es ist besser für dich - und für mich - wenn du es nicht genauer weißt", sagte Teressa, wieder ein wenig ruhiger. "Lass uns weitergehen, wir sind beinahe dort."
Tatsächlich erreichten sie nur wenig später das Ende einer Sackgasse, in der Teressa eine eine Leiter hinter einigen Kisten hervor zog. Sie stellte sie an eines der umliegenden Dächer und kletterte behände hinauf. Milva folgte ihr ein wenig langsamer.
Oben angekommen verharrte sie neben Teressa in geduckter Haltung. "Siehst du das erleuchtete Fenster direkt auf der anderen Straßenseite?", fragte die Schattenläuferin, und Milva nickte. Die Gebäude auf der anderen Straßenseite waren ein wenig höher als das, auf dessen Dach sie standen, und das fragliche Fenster befand sich direkt auf ihrer Höhe. Durch das Fenster sah Milva ein Bett, in dem eine schlafende Gestalt - offenbar ein Mann - im Licht einer einzelnen Kerze lag.
"Gut", flüsterte Teressa. "Erschieß' ihn."
"Was?", zischte Milva zurück. "Einfach so? Wer ist das überhaupt?"
"Das muss du nicht wissen", erwiderte Teressa. "Wichtig ist nur, dass wir wollen, dass du ihn tötest. Wirst du es tun?"
Milva schwieg einen Moment. Sie hatte kein Problem damit, einen Menschen zu töten - sie hatte es in ihrem Leben oft genug getan. Sie hatte auch keine Schwierigkeiten, es aus dem Hinterhalt zu tun, oft war es gar nicht anders möglich gewesen. Doch das hier... das war kalter Mord, an einem Schlafenden noch dazu.
Trotzdem nickte sie schließlich und sagte: "Ich werde es tun. Aber warum muss er sterben?" Die Schattenläufer hatten das Ziel, den König und die Fürsten zu töten. Dieses Ziel hatte sie ebenfalls, und dafür mussten Opfer gebracht werden.
"Auch das musst du nicht wissen", antwortete Teressa, und hielt ihr einen Pfeil aus grauem Holz und mit schwarzer Befiederung hin. "Hier, benutz den."
Milva nahm den Pfeil entgegen, und wog ihn einen Moment in der Hand. Der Schaft war ein wenig leichter als sie es gewohnt war, die Befiederung ein wenig schwerer und etwas anders angebracht. Sie nahm den Bogen vom Rücken ohne die offensichtliche Frage zu stellen - warum dieser Pfeil und keiner von ihren eigenen - und legte den Pfeil auf die Sehne. Dann zog sie die Sehne zurück, bis sie ihren salzigen Geschmack im Mundwinkel spürte, zielte und schoss in einer einzigen fließenden Bewegung.
Der Pfeil flog lautlos durch die Dunkelheit, durch das geöffnete Fenster und traf mit einem auf diese Entfernung unhörbaren Aufschlag auf den schlafenden Mann. Dessen Gestalt zuckte einmal kurz, schien sich zu verkrampfen und lag dann still.
"Du bist gut", flüsterte Teressa mit unhörbarer Anerkennung. "Aber wir sollten sofort verschwinden."
Lautlos huschte sie, gefolgt von Milva, die Leiter wieder hinunter und durch die Sackgasse zurück auf die Straße. Nebeneinander gingen sie langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren. Irgendwann fragte Milva: "Also, wer war er? Jetzt, wo er tot ist, wird es wohl nicht mehr schaden, wenn ich es weiß."
Doch Teressa schüttelte den Kopf. "Vielleicht wird Ryltha es dir morgen erklären, aber nicht ich. Ich muss jetzt gehen."
"Warum?", fragte Milva verwirrt. "Und was ist morgen?"
"Morgen ist ein wichtiger Tag", erwiderte Teressa mit einem Lächeln, das auf unbestimmte Weise traurig wirkte. "Geh jetzt nach Hause, Milva."
Damit war sie in einer Gasse, deren Öffnung Milva gar nicht bemerkt hatte, verschwunden. "Mein Zuhause ist in Dorwinion", murmelte sie leise vor sich hin, und seufzte. Dann machte sie sich auf den Weg zurück - in der Hoffnung, dass sie sich in der dunklen Stadt nicht verirren würde.