Cyneric, Salia und Zarifa aus den Gebieten westlich von Gortharia“Das erinnert mich an Umbar,” murmelte Zarifa, als sie Salia und Cyneric in die vollen Straßen der Hauptstadt des Ostling-Reiches folgte. Sie hatten ihre Pferde am Zügel durch das große Tor im Westen der Stadt geführt und waren am Platz des Goldenen Drachen vorbeigekommen, auf dem noch immer allzu deutlich die Spuren der öffentlichen Hinrichtungen der vergangenen Tage zu sehen waren. Man hatte die Galgen als allzu deutliche Drohung dort stehen lassen und nur die Leichen der Unruhestifter entfernt.
Zarifa hingegen schien sich auf das Gedränge auf dem Straßen und die deutlich sichtbare Ungleichheit zwischen Arm und Reich zu beziehen. Gortharia war, wie auch Umbar, ein wichtiger Handelspunkt und zog daher reiche Kaufleute an, die sich in den Straßen tummelten und ihre Güter zu den besten Preisen zu verkaufen suchten. Gleichzeitig gab es Sklaven beinahe an jeder Straßenecke zu sehen, genauso wie Bettler und andere arme Leute. Wo die Reichen mit Wohlstand und Luxus protzten, begegneten ihnen die neidischen und wütenden Blicke der Armen. Nun, da der Schwarzen Rose der Kopf abgeschlagen worden war, gab es niemanden mehr, der sich für die Rechte der Armen einsetzte. Cyneric sah die Hoffnungslosigkeit in den Augen jener, die am Straßenrand hockten und auf eine milde Gabe warteten.
Seit seiner Ankunft in Rhûn hatte ihn dieser Anblick zum Mitleid bewegt. In Rohan gab es keine Sklaven und der Unterschied zwischen Arm und Reich war längst nicht so groß wie hier im Reich der Ostlinge. Beinahe jeder Mensch von Rohan besaß mindestens ein Pferd, und wer ein Pferd besaß, konnte ein Reiter von Rohan werden und sich einen vernünftigen Lohn im Dienste der Königin verdienen. Und auch für jene, denen das Kämpfen nicht sonderlich lag, gab es genug Arbeit in der Riddermark, denn die Felder mussten bestellt und das Korn gemahlen werden. In Rhûn hingegen schien es diesen Bedarf an Arbeit nicht zu geben. Es kam Cyneric eher so vor, als gäbe es im Königreich von Gortharia an sich zu viele Menschen. Denn immer wenn die Könige des Ostens einen Krieg gewannen, führten sie einen Teil der besiegten Bevölkerung als Sklaven mit sich nach Hause. Und mit dem Sieg über Thal und den Erebor waren viele neue Ketten für neue Sklaven geschmiedet worden.
Cyneric wusste, dass er ihnen nicht allen helfen konnte. Zu dieser Entscheidung war er bereits früh gekommen. Er musste sich auf das konzentrieren, bei dem er tatsächlich etwas bewegen konnte. Stürzten die Fürsten Rhûns, so wie Radomir, würden durch die Manipulationen der Schattenläufer bessere Menschen in die herrschende Schicht nachfolgen. Zumindest war das die Theorie, an die Cyneric eine Zeit lang geglaubt hatte. Doch in den letzten Tagen hatte sich sein Fokus mehr und mehr darauf verschoben, endlich seine Tochter zu finden und sie in Sicherheit zu bringen.
Wo wir gerade bei “in Sicherheit bringen” sind... dachte Cyneric und räusperte sich. Salia und Zarifa, die voran gegangen waren, blieben stehen und drehten sich zu ihm um.
“Jetzt, wo wir in der Hauptstadt angekommen sind, wird es Zeit, eine Unterkunft für dich zu suchen, Zarifa.”
Die junge Frau nickte, und blickte ihn erwartungsvoll an.
“Nun, also, ich schätze, im Palast wird wohl kein Platz für dich sein,” fuhr Cyneric etwas unsicher fort. So weit hatte er nicht vorausgedacht. Sein bisheriger Plan war gewesen, Zarifa sicher aus Gorak heraus zu bringen und sie bis nach Gortharia zu begleiten, wo sich hoffentlich alles schon irgendwie von selbst ergeben würde. Angestrengt dachte er nach, was es abgesehen vom Palast für Orte geben könnte, an denen Zarifa in Sicherheit sein würde. Ihm fiel Tianas Taverne ein, doch er verwarf den Gedanken sogleich wieder. Dort ging es viel zu rau für ein traumatisiertes Mädchen vor. Er warf einen raschen Blick auf Salia, als ihm einfiel, dass diese ihm vor einiger Zeit das Haus gezeigt hatte, in dem sie mit Ryltha wohnte. „Salia, denkst du sie könnte in Rylthas Haus...“
“Das ist keine gute Idee,” unterbrach Salia ihn prompt. “Sie sollte sich von den Schattenläufern fern halten.” Sie machte ein ernstes Gesicht und schien sich tatsächlich Sorgen um Zarifa zu machen. Cyneric verwarf also auch Rylthas Haus als Möglichkeit.
“Dann... könnte sie vielleicht irgendwo als Dienstmädchen anfangen? Kennst du irgendwelche Adelige, die gerade jemanden suchen?”
Salia schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. “Willst du, dass ihr dieselben Sachen noch einmal passieren? Jedes Kind weiß doch, dass gerade junge Dienstmädchen beliebte Ziele von widerlichen alten Adeligen sind, die sich an ihrer Ehefrau satt gesehen haben.”
“Ihr tut es schon wieder,” mischte sich Zarifa ungehalten ein.
“Was?” fragten Cyneric und Salia gleichzeitig.
“Ihr redet über mich, als wäre ich gar nicht da. Das ist nicht sehr höflich.”
“Oh, entschuldige,” sagte Cyneric. “Es ist nur so, dass...”
“...du gar nicht weißt, wohin ich jetzt soll,” ergänzte Zarifa. “Das macht nichts. Ich komme schon alleine irgendwie zurecht.” Sie klang verstimmt, als hätte sie mehr von ihm erwartet.
“Zum Glück weiß ich Rat,” sagte Salia triumphierend. “Cyneric, du solltest sie zu Lilja Vorlas bringen. Soweit ich weiß, schuldet sie dir einen Gefallen, nicht wahr?”
Cyneric brauchte einen Augenblick, um sich an die Hofdame zu erinnern, die bei seinem ersten Auftrag für die Schattenläufer dabei geholfen hatte, die Leiche eines von Rylthas Opfern verschwinden zu lassen. Bei seiner zweiten und letzten Begegnung mit Lilja hatte sie ihn darum gebeten, einen Gegenstand in die persönliche Truhe eines seiner Mitgardisten zu schmuggeln, was er auch getan hatte. Der betroffene Gardist war später vom Rat der Zehn ins Exil verbannt worden.
“Ja, ich erinnere mich. Und wie kann Lilja Zarifa helfen?”
“Sie gehört zu einer Gruppe von Frauen aus Dervesalend, die man die
Stahlblüten nennt. Kennst du das Sprichwort? “Hinter jedem mächtigen Mann steht eine starke Frau, die ihm seine Entscheidungen einflüstert.” Die Stahlblüten sind Hofdamen von edler Geburt, die es sich zum Ziel gesetzt haben, eine solche starke Frau zu werden, die insgeheim die Geschicke des Reiches lenkt. Viele der Königinnen Rhûns gehörten zu ihnen. Sie besitzen ein großes Haus im Nordosten der Stadt, direkt oberhalb der Klippe, an der Gortharia an das Meer grenzt. Und das Besondere an diesem Haus ist, dass es Männern per königlichem Dekret verboten ist, es zu betreten.”
Zarifas Interesse war eindeutig geweckt worden, doch sie sagte zweifelnd: “Und was soll ich unter lauter reichen, verwöhnten Frauen?”
“Du bist doch ein schlaues Mädchen,” meinte Cyneric. “Sicherlich kannst du dort lernen, wie du auf dich selbst aufpassen kannst. Außerdem wärst du dort in Sicherheit.”
Salia schien noch nicht fertig zu sein. “Die Stahlblüten - oder zumindest Lilja - sind mit den Schattenläufern verbündet, aber das war nicht immer so. Oft genug ist es in unserer langen Geschichte schon vorgekommen, dass wir Schatten den hoch gesteckten Zielen der Blüten im Wege standen. Ihr dürft nicht glauben, dass Worte und Manipulation der Mächtigen ihre einzigen Waffen sind. Wenn die Gerüchte wahr sind, dann sollte niemand eine der Stahlblüten im Kampf unterschätzen. Jedenfalls wissen sie, wie man eine Leiche spurlos verschwinden lässt.”
Zarifa blickte nachdenklich drein. Man sah ihr an, dass sie angestrengt nachdachte.
“Es wäre ja nicht für immer,” sagte Cyneric. “Doch wenn es stimmt, was Salia sagt, gäbe es bei den Blüten einen Ort für dich, an dem du dich ausruhen kannst und in Sicherheit bist, bis du dich bereit fühlst, dich der Welt wieder selbstständig zu stellen.”
“Ich... könnte es mir ja mal ansehen,” meinte Zarifa zögerlich. “Aber wenn es mir nicht gefällt, verschwinde ich wieder.”
“Ich werde dich dort zwar nicht besuchen können, aber wenn du meine Hilfe brauchst, werde ich zur Stelle sein,” versprach Cyneric ihr. “Zumindest bis ich losziehe, um meine Tochter zu finden.”
Zarifa warf ihm bei diesen Worten einen Blick zu, den Cyneric nicht deuten konnte. Er fragte sich, was sie wohl gedacht hatte, als er angedeutet hatte, dass er die Stadt bald wieder verlassen würde.
Salia verabschiedete sich kurz darauf von ihnen und sie machten sich auf den Weg zum Anwesen der Stahlblüten, das mitten im Adelsviertel von Gortharia lag. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, als sie in die schon deutlich leereren und saubereren Straßen des Nordostviertels Gortharias kamen. Als das Anwesen der Blüten gerade in Sicht kam, sah Cyneric aus dem Augenwinkel, wie eine bekannte Gestalt aus einem der ganz in der Nähe liegenden großen Häuser kam und die Straße betrat, auf der Cyneric und Zarifa gerade unterwegs waren.
“Heda, Milva!” rief er, um die Aufmerksamkeit seiner weiblichen Bekanntschaft zu erwecken.
Milva schien sich in einer Art Tagtraum befunden zu haben, denn sie schreckte mit einem recht undamenhaften “Häh?” hoch und brauchte einen Augenblick, bis sie Cyneric erkannte. Rasch kam sie zu ihnen herüber und blieb vor Zarifa stehen. Die blonde Dorwinierin musterte die junge Südländerin kritisch und ihr Blick huschte dabei mehrfach zwischen Zarifa und Cyneric hin und her.
“Irgendwie hatte ich erwartet, dass deine Tochter dir etwas ähnlicher sieht,” kommentierte sie. “Ich freu’ mich aber trotzdem für dich, dass du sie gefunden hast.”
Zarifa schien das Ganze nicht lustig zu finden und machte ein beleidigtes Gesicht.
“Das... das ist nicht meine Tochter,” sagte Cyneric betreten. “Ihr Name ist Zarifa.”
Milva machte große Augen. “Sie ist doch wohl nicht etwa eine...”
“HE!” Zarifa war nun wirklich sauer.
“Das war nicht gerade freundlich, Milva,” meinte Cyneric mit etwas Tadel in der Stimme. “Ich dachte, du kennst mich inzwischen. Zarifa ist eine ehemalige Sklavin Fürst Radomirs.”
“Radomir, der inzwischen tot ist, wie ich höre,” beeilte Milva sich zu sagen, um ihre Peinlichkeit zu überspielen. “Gut gemacht.”
“Da kannst du dich bei Zarifa bedanken,” erklärte Cyneric und fasste in einigen wenigen Sätzen zusammen, was in Gorak geschehen war. “Und wie ist es dir in meiner Abwesenheit ergangen, Milva?”
“Oh, also... eigentlich hatte ich eine ruhige Zeit,” druckste Milva herum.
Das glaube ich eher weniger, dachte Cyneric.
Vermutlich will sie vor Zarifa nicht mit der Wahrheit herausrücken.“Ich habe noch einige Vorbereitungen für das Fest von Herrin Velmira vorzubereiten,” fuhr Milva rasch fort. “Anscheinend soll die Königsgarde dort Wache stehen. Vielleicht sehen wir uns ja dann dort, Cyneric.”
Sie ließ Cyneric und Zarifa stehen und eilte davon.
“Was für eine merkwürdige Frau,” kommentierte Zarifa misstrauisch.
“Cyneric der Gardist. Was für eine angenehme Überraschung,” sagte Lilja Vorlas, die ein dunkelgrünes Kleid trug und deren blonde Haare zu einer Frisur aufgetürmt waren, die auf Cyneric wirkte, als würde sie Lilja andauernde körperliche Schmerzen bereiten. Doch der Dame war nichts dergleichen anzumerken. Sie hatte Cyneric und Zarifa im Garten außerhalb des Anwesens der Stahblüten empfangen, nachdem sie bei den Wächterinnen am Tor nach ihr gefragt hatten.
“Sicherlich könnt Ihr Euch denken, worum es geht,” sagte Cyneric, der die Angelegenheit rasch hinter sich bringen wollte.
“Oh, bitte. Wir sind hier unter uns. Nicht so förmlich! Also. Wer will einen Tee? Du?” Sie fixierte Zarifa mit ihren Augen, die Cyneric an tiefblaue Eiszapfen erinnerten.
“Äh... warum nicht,” gab Zarifa etwas perplex zurück.
Lilja klatschte zweimal in die Hände, und eine Dienerin trat hinter der Hecke hervor, die die beiden Bänke und den Tisch umgaben, an denen sie saßen. Cyneric hätte die junge Frau nicht als Dienerin erkannt, wenn sie sich nicht so offensichtlich wie eine Bedienstete verhalten hätte. Kleidung und Frisur waren beinahe genauso aufwändig wie bei Lilja. Sie goss drei Tassen Tee ein und verschwand wieder so rasch wie sie gekommen war.
“
Natürlich weiß ich längst, weshalb ihr beiden hier seid,” fuhr Lilja fort und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie nippte an ihrer Tasse und legte dann die Fingerspitzen aneinander. “Du willst deinen Gefallen einfordern, nicht wahr, Cyneric?”
“Ihr...
du sagst es,” antwortete er. “Zarifa hier hat mehrere... ungute Begegnungen mit Männern gehabt und braucht einen Ort, an dem sie in Sicherheit ist.”
Zarifa verschränkte die Arme vor der Brust, sagte jedoch nichts.
“Nun, in diesem Haus gibt es keine Männer, Zarifa,” sagte Lilja sanft, ehe sie sich wieder Cyneric zuwendete. “Dennoch wüsste ich nicht, weshalb ich sie aufnehmen sollte. Sie sieht mir nicht gerade nach einer Hochgeborenen aus.”
“Sie ist eine ehemalige Sklavin Radomirs.” Das Brandmal an Zarifas linkem Armgelenk machte diese Tatsache nur allzu deutlich.
“Ich habe ihn selbst getötet,” warf Zarifa ein.
Lilja zog die linke Augenbraue hoch. “Ist das so? Nun, an Mut scheint es dir nicht zu fehlen. Radomir war ein Scheusal. Doch mit seiner Schwester, Rhiannon, hegen wir gute Beziehungen. Sie ist ein gern gesehener Gast in diesem Haus.” Lilja machte eine dramatische Pause, ehe sie fortfuhr. “Dennoch denke ich nicht, dass der kleine Gefallen, den ich dir schulde, dafür ausreicht, Zarifa ab sofort mit durchzufüttern, so abgemagert wie sie ausschaut. Wir haben auch so schon genügend hungrige Mäuler zu stopfen.”
Das hatte Cyneric befürchtet. Bestürzt blickte er zu Zarifa hinüber, die so aussah, als wäre sie drauf und dran, wütend aufzuspringen. Doch da sprach Lilja bereits weiter.
“Ich werde Zarifa aufnehmen. Doch solange sie in diesem Anwesen wohnt, wird sie bei den Aufgaben der Bediensteten mithelfen und sich so ihren Unterhalt verdienen. Keine Sorge, dabei kannst du nicht viel falschmachen,” wendete sich Lilja nun direkt an Zarifa. “Hier wird jede Frau und jedes Mädchen gut behandelt und bekommt genügend Essen und Kleidung. Vormittags wirst du arbeiten und nachmittags kannst du tun, was du möchtest. Ich schlage allerdings als Allererstes einen vernünftigen Haarschnitt vor.”
Auf Zarifas Gesicht wechselten sich Erleichterung und Verärgerung in rasender Geschwindigkeit ab. Schließlich kam sie offenbar mit sich überein, ein klein wenig beleidigt drein zu blicken und ihre Haare zu betasten.
“Und du, Cyneric, wirst etwas für mich erledigen müssen, damit wir quitt sind,” fuhr Lilja kurz darauf fort. “In wenigen Tagen findet eine Feier zu Ehren des Königs im Anwesen von Haus Bozhidar statt. Ich werde dafür sorgen, dass du den Gardisten zugeteilt wirst, die dort Wache stehen. Und dann...”
“Und dann?” wiederholte Cyneric verblüfft.
“Oh, alles Weitere erfährst du dann vor Ort,” sagte Lilja mit einem Augenzwinkern, das Cyneric gar nicht gefiel.
Kaum bin ich wieder zurück in Gortharia, schon überschlagen sich die Ereignisse, dachte er. Dennoch war er froh, dass Zarifa für den Augenblick in Sicherheit sein würde.
Er verabschiedete sich von Lilja und Zarifa, die im Garten sitzen blieben und machte sich auf den Rückweg zum Königspalast.
Es wird Zeit, mit Morrandir über einen weiteren Blick in den geheimnisvollen Brunnen zu sprechen, dachte er.
Cyneric zum Königspalast
Zarifa ins Haus der Stahlblüten