Valion und Valirë aus Edrahils VersteckDie Zwillinge betraten die Straße und blickten sich um. Es war voll, voller noch als vor einer Stunde als Edrahil sie hier entlang geführt hatte. Der Junge, der Edrahil alamiert hatte, zog an Valirës Arm. "Hier, hier!" rief er und lief in Richtung einer der Seitengassen los. Eilig folgten sie ihm, die Waffen griffbereit. Es ging um mehrere Ecken, und je näher sie kamen, desto lauter hörten sie den Aufruhr von mehreren aufgeregten Stimmen.
"Lasst mich in Frieden, ihr Hunde!" Das war Bayyins Stimme. Sie umrundeten im Laufschritt die letzte Ecke, die Schwerter gezogen. Da war der Schreiber, von fünf vermummten Gestalten an die Wand gedrängt und. Seine Peiniger hatten Dolche und Krummsäbel auf ihn gerichtet und waren offensichtlich drauf und dran, Bayyin ernsthaft zu verletzen. Valion erfasste die Lage mit einem schnellen Blick, nickte seiner Schwester unmerklich zu und handelte dann, ohne zu zögern. Seine linke Klinge verließ dank einer gut geübten Bewegung des Handgelenks seinen Griff, drehte sich in der Luft und durchbohrte den Kopf des vordersten Banditen. Ehe sich die anderen von ihrem Schock erholt hatten waren die Zwillinge schon heran. Valirë schwang
Gilrist in einem geschwungenen Bogen nach oben und ein weiterer Mann brach tot zusammen, eine tiefrote Linie vertikal über seinen Körper. Valion parierte einen schlecht gezielten Schlag und verpasste dem Dritten einen heftigen Fausthieb, drehte sich um die eigene Achse und zog dabei sein zweites Schwert aus der Leiche seines ersten Opfers. Auch seine rechte Hand war nicht untätig geblieben und als er neben Bayyin zum Stehen kam fehlte dem dritten Banditen der Kopf.
Die letzten beiden Räuber nahmen Ausreiß.
"Sie haben meine Tasche! Da sind all meine wichtigsten Aufzeichnungen und Schriften drin!" rief Bayyin verzweifelt.
"Verfolge du diese Banditen weiter, kleiner Bruder," sagte Valirë. "Ich bringe unseren Freund hier in Sicherheit und
beschütze ihn."
Valion nickte und nahm die Verfolgung auf. Erst einige Meter später fiel ihm Valirës Betonung auf, doch er hatte nun wirklich keine Zeit um umzukehren.
"Komm, Schreiber," hörte er die Stimme seiner Schwester hinter sich verklingen. "Finden wir einen Ort, an dem es sicher ist."
Valion sah die beiden übrigen Banditen vor sich am Ende der Gasse nach rechts abbiegen. Er griff seine Schwerter fester und sprintete hinterher. Die Jagd ging weiter durch Hinterhöfe, über Leitern und Dächer, und Valion holte anfangs beständig auf. Doch er kam nie nah genug an die Fliehenden heran, um sie zu erwischen. Er hatte zwar den Vorteil, jung und ausdauernd zu sein, doch seine Gegner kannten sich in der Stadt aus und waren ausgeruht, während Valion seit der Ankunft in Umbar nicht geschlafen hatte. Die Gassen der Stadt waren wie ein Labyrinth, doch er konnte sich gerade keine Gedanken darüber machen, wie er den Weg zurück finden würde. Valion unterdrückte den Schmerz, der sich in seinen Seiten auszzubreiten begann, und verdoppelte seine Anstrengungen.
Erneut erkletterten die Räuber vor ihm eine wackelige Leiter und wollten gerade über den Rand des Daches verschwinden, als die letzte Sprosse unter dem zweiten Kerl abbrach und er mit einem Schrei abstürzte. Mehrere Meter tief fiel er und kam krachend unten an, keine Regung mehr von sich gebend. Seine Hand erschlaffte und ließ den Griff von Bayyins Tasche los, die Valion aufhob. Schnell hängt er sie sich um und suchte nach einem anderen Weg nach oben. Zu seiner Linken fand er eine Treppe, die auf ein nahegelegenes Dach führte. Drei Stufen auf einmal nehmend sprintete er nach oben, nahm Anlauf und überquerte die tief unter ihm liegende Gasse mit einem beherzten Sprung. Sein letzter Gegner erwartete ihn bereits, einen teils überraschten, teils abschätzenden Blick im Gesicht.
"Na komm schon, du gondorischer Hund," spie er aus und zog seinen Krummsäbel.
"Du willst die Tasche? Dann hol sie dir,
Südländer!" gab Valion zurück und ließ die kleinere seiner Klingen locker in der linken Hand kreisen.
Wie Raubtiere umkreisten sie einander vorsichtig auf dem breiten Dach unter den heißen Strahlen der Mittagssonne.
"Mein Name ist Mustqîm," prahlte der Bandit. "Meine Klinge wird heute dein Blut trinken!"
"Du irrst dich," konterte Valion, machte einen Ausfallschritt zur Seite und ließ beide Klingen auf Mustqîm zu schnellen. Doch dieser wich gewandt aus und nutze Valions Bewegung selbst zum Angriff. Valion konnte gerade noch den Arm hochreißen und den auf seinen Kopf gezielten Schlag parieren. Ohne innezuhalten presste er seine Klinge gegen die des Gegners und führte mit der zweiten einen niedrig gezielten Stich gegen die Beine des Banditen. Dieser sprang rückwärts, sammelte sich einen winzigen Augenblick und stürzte sich dann erneut auf Valion.
Valion kam der Zweikampf lange vor, doch in Wirklichkeit tauschten sie nur wenige Minuten lang Hiebe und Paraden aus. Beide mussten sie diverse kleinere Schnitte und Schürfwunden hinnehmen, doch schließlich gelang es Valion, Mustqîms Säbel mit seinem linken Schwert festzunageln und ihm mit der flachen Seite seiner zweiten Klinge einen heftigen Schlag auf den Unterarm zu versetzen, sodass dieser schmerzerfüllt aufschrie und reflexartig seine Waffe fallen ließ. Sofort richtete Valion beide Schwertspitzen auf Mustqîms Gesicht und drängte ihn rückwärts, bis zum Rand des Daches.
"Du bist geschlagen, Umbar-Abschaum," stieß er schwer atmend hervor.
"Ich sagte doch, mein Name ist
Mustqîm, nordländischer Barbar," gab der Bandit ebenso angestrengt zurück.
"Rede! Was wollten deine Spießgesellen und du von Bayyin?"
"Einem Hund aus Gondor muss ich nicht antworten," sagte Mustqîm und spuckte aus.
"Das werden wir ja sehen," antwortete Valion, doch da machte der Bandit unvermittelt einen Schritt rückwärts - über den Rand des Daches hinweg. Als Valion eilig nach unten blickte, sah er wie Mustqîm auf dem von dickem Stoff überdeckten Dach eines der vielen Stände an der Straße landete, dieses mit sich riss und sich unten angekommen geschickt abrollte. Zu allem Unglück grenzte die Straße direkt an einen sehr belebten Marktplatz und der Bandit warf Valion ein gehässiges Nicken zu, eher er in der Menge verschwand.
Valion atmete schwer aus. Immerhin, die Tasche hatte er zurückerlangt und der Schreiber war gerettet worden. Doch er würde keine Antworten oder Gründe des Angriffs für Edrahil haben und konnte sich bereits gut vorstellen, dass der Herr der Spione darüber nicht allzu erfreut sein würde. Er sprang zurück auf das angrenzende Dach und nahm die Treppe nach unten in die Gassen. Mehrere Minuten irrte er dort umher und versuchte, sich an den Weg zu erinnern, den er während der Jagd genommen hatte, doch es war zwecklos. Gerade als er aufgeben und sich irgendwie einen Weg zum Hafen bahnen wollte fiel ihm ein bekanntes Gesicht am Straßenrand ins Auge. Es war der Junge, der sie zu Bayyin geführt hatte.
"He, du da!" rief er und ging zum dem Jungen, der an einer Wand lehnte, hinüber. "Weißt du, wo ich Bayyin und meine Schwester finde?"
"Ja, weiß ich," sagte der Junge, doch dann hielt er inne und blickte Valion erwartungsvoll an. Mehrere Augenblicke vergingen, doch erst als er die Hand ausstreckte verstand dieser und ließ eine Münze hineinfallen. Der Junge nickte und fuhr dann fort, als hätte es die kleine Pause nie gegeben. "Komm mit!" rief er und lief los, gefolgt von Valion.
Sie mussten nur um wenige Ecken biegen bis sie vor einer Tür standen. Der Junge warf Valion einen seltsamen Blick zu und verschwand wieder im Gewimmel der Straße. Verwundert trat Valion ein und fand im Inneren seine Schwester in einem weichen Sessel sitzend vor, in kaum mehr als eine Pelzdecke und mehrere Leinentücher gehüllt. Er verdrehte die Augen.
"Bei allen sieben Sternen, Valirë, was hast du dir dabei gedacht?"
Sie lachte zur Antwort. "Entspann' dich, kleiner Bruder. Alles ist gut."
"Wo ist Bayyin?" verlangte Valion zu wissen.
Valirë deutete auf die zweite Tür im Raum, die in einen weiteres Zimmer führte und offen stand. "Er schläft. Es geht ihm gut, den Umständen entsprechend. Keine Sorge: Edrahil wird nichts davon erfahren."
Valion seufzte. "Natürlich wird er davon erfahren. Komm schon, es ist
Edrahil. Er findet es
immer heraus."
Seine Schwester ließ die Schultern unmerklich ein wenig sinken. "Nun... vielleicht wird er das. Aber es ist mir egal."
Valion setzten sich zu ihr an den Tisch. "Hast du wenigstens bekommen, was du wolltest?," was seine Schwester mit einem Nicken beantwortete. "Also gut. Hier ist Bayyins Tasche. Wir warten, bis er sich erholt hat, und dann bringen wir ihn und seinen Besitz zurück zu Edrahil."
Er schloss für einen Moment die Augen und spürte nun die Schmerzen und Strapazen der Jagd, als das Adrenalin nachließ. Während Valirë seine Wunden verband dachte Valion über den Feind nach, den er heute kennengelernt hatte. Er fragte sich, ob er vielleicht eines Tages erneut die Klingen mit Mustqîm kreuzen würde....
Ungefähr eine halbe Stunde später erwachte Bayyin. Den ganzen Weg zurück zu Edrahils Versteck blieb sein Kopf hochrot und er vermied es, Valirë in die Augen zu sehen, die ein Lächeln im Gesicht trug. An ihrem Ziel angekommen öffnete der Schreiber die Tür mit dem geheimen Signal und sie traten ein.
Valion, Valirë und Bayyin zu Edrahils Versteck