Zarifa wurde die Augenbinde unsanft heruntergerissen. Sie waren außerhalb der Stadt. Etwa dreißig gefesselte Männer und Frauen standen in einer Reihe vor einem edel gekleideten Mann, der von einer Leibgarde umgeben war. Dabei konnte es sich nur um einen Vertreter Hasaels handeln. Hinter dem Mann standen eine Reihe an Kutschen und etwas weiter links stand der Mann mit den langen, schwarzen Locken und dem verletzten Bein. Ein Gefühl des Hasses, wie Zarifa es noch nie zuvor verspürt hatte, überkam sie. Hier ging es nicht um Ungerechtigkeit oder soziale Missstände. Hier ging es um Verrat.
„Unsere Geschäftspartner aus Gorak werden bald hier sein. Zählt noch einmal durch!“, befahl der edel gekleidete Mann und sofort gehorchte einer seiner Wachen dem Befehl.
„Nochmal vielen Dank für die Einfädelung des Geschäfts, Yasin. Du hast dir deine Belohnung redlich verdient“, sagte er im Anschluss zu dem Mann mit den schwarzen Locken.
„Vielen Dank, Sir.“
„Ah, da sind sie ja endlich. Dann kann es also losgehen. Sind alle da?“
„Ja Sir, genau 30, wie abgesprochen.“
„Perfekt!“
Zarifa gefiel überhaupt nicht, worauf das hinauslief. Geschäftspartner aus Gorak? Von Gorak hatte sie noch nie etwas gehört. Wo lag das? Und warum interessierten sich Leute aus Gorak für Obdachlose aus Umbar? Um was für eine Art von Geschäft ging es dabei? So sehr Zarifa auch überlegte, ihr fiel nur eine Möglichkeit ein. Eine überaus schreckliche Möglichkeit. Sie sollten alle als Sklaven nach Gorak verkauft werden. Ihr graute es allein bei der Vorstellung. Eingesperrt, ohne Rechte und ohne Freiheit. Und das gerade jetzt, wo es so ausgesehen hatte, als würde sich alles zum Besseren wenden. Gerade jetzt, wo sie erstmals in ihrem Leben das Gefühl hatte, ein wirklich gutes Leben zu leben, sollte ihr das Einzige weggenommen werden, an das sie sich Jahre lange geklammert hatte. Was ihr jahrelang Hoffnung und Mut gemacht hatte: Ihre Freiheit. Ihre Freiheit stand auf dem Spiel, ebenso wie die Freiheit all dieser Leute, deren Hiersein sie allein zu verantworten hatte. Und wie musste es Ziad erst gehen? Er hatte seine Freiheit gerade erst wieder erlangt und jetzt wurde sie ihm wieder genommen.
Eine einsame Träne kullerte Zarifas Gesicht herunter, während sie beobachtete, wie die Geschäftsleute aus Gorak ankamen, Geld übergeben wurde und noch einmal geprüft wurde, ob alle da waren.
„Dann kann es ja sofort losgehen. Los, bringt sie in die Kutschen.“
„Hey, Moment mal. Ich hatte doch um eine
spezielle Belohnung gebeten“, warf der Mann namens Yasin ein.
„Das stimmt. Das ist der Mann, der unser Geschäft hier heute möglich gemacht hat. Ihr erinnert euch?“
„Achja... nun gut, ihr habt eine Stunde. So lange können wir warten. Um wen ging es nochmal?“
„Die kleine, braunhaarige da“, sagte Yasin und deutete mit einem gierigem, fast wahnsinnigem Blick auf Zarifa. Sofort wurde die junge Haradan gepackt und aus der Reihe gezogen.
„NEIN! LASST SIE IN RUHE!“, schrie Ziad, während der versucht sich von seinen Fesseln und den Wachen zu befreien. „IHR HABT KEIN RECHT DAZU.“
„Kein Recht? KEIN RECHT?!“, fragte Yasin lachend.
„Offensichtlich besteht hier ein Missverständnis, was eure Position angeht. Lass es mich erklären: Ihr seid Nichts. Ihr seid Maden. Ihr seid Gesindel, das unsere schöne Stadt besudelt. Kein Mensch schert sich um euch. Niemand wird euch vermissen. Und niemand wird euch nachtrauern. Ich kann mit euch machen, was immer ich will. Wir alle können mit euch machen, was immer wir wollen. Denn wir besitzen etwas, das ihr niemals haben werdet: Geld. Euer einziger Nutzen besteht darin, den Leuten mit Geld zu dienen. Und das werdet ihr alle tun. Und die Kleine hier wird das jetzt schon auf besondere Weise tun.“
„DU DRECKIGER BASTARD! DAS LASSE ICH NICHT ZU!“, schrie Ziad und es gelang ihm tatsächlich, dem Griff der Wache, die ihn gepackt hatte, zu entkommen und auf Yasin zuzustürzen. Allerdings war er immer noch gefesselt, doch er versuchte alles, um Zarifa irgendwie von Yasin wegzubekommen.
„PACKT IHN!“, schrie Yasin und sofort kamen drei weitere Wachen herbei und zogen Ziad zurück. Die Szene hatte inzwischen auch die Aufmerksamkeit des Geschäftsmanns aus Gorak erregt, der nun langsam, auf einen Gehstock gestützt auf Ziad zuging.
„Soso, was haben wir denn hier? Wird hier etwa jemand aufmüpfig?“
„Und was geht dich das an?“
„Nun, eine ganze Menge. Immerhin habe ich euch soeben im Namen meines Herrn für eine ganze Menge Geld erworben. Ihr seid daher das Eigentum meines Herrn und ich bin für euch verantwortlich. Aber mein Herr schätzt es überhaupt nicht, wenn sein Eigentum aufmüpfig ist, versteht ihr?“
„Nun, dann wird ihm das hier wohl auch nicht gefallen.“
Ziad spuckte dem Mann ins Gesicht und versuchte sich im Anschluss wieder von den Wachen zu befreien. Doch es gelang ihm nicht. Es waren zu viele. Der Mann aus Gorak blieb indes ganz ruhig, wischte die Spucke mit einem Tuch aus seinem Gesicht und sprach ganz ruhig weiter:
„Nein, das würde ihm in der Tat überhaupt nicht gefallen. Und ich denke, dies ist der perfekte Zeitpunkt, um einmal ganz deutlich klarzustellen, um was es hier geht. Ihr seid unsere Sklaven. Ihr gehört uns. Das bedeutet, ihr habt unseren Befehlen zu gehorchen. Ihr redet nur, wenn ihr dazu aufgefordert werdet. Und ihr werdet euch niemals... ich wiederhole: NIEMALS gegen uns auflehnen. Ist das klar?“, fragte er mit bedrohlicher Miene zu Ziad gewandt? Ziad sagte nichts. Er blieb einige Sekunden lang ruhig stehen, bevor er dem Mann erneut ins Gesicht spuckte.
„Wie bedauerlich. Nun, dann wollen wir doch mal sehen. Du bist bereits über vierzig. Dein Temperament ist offensichtlich nicht im Zaum zu halten. Und du siehst ziemlich abgemagert aus. Damit bist du geradezu prädestiniert für...“
„NEIN!“ Diesmal war es Zarifa, die geschrien hatte. Sie hatte das Geschehen an der Seite von Yasin beobachtet und jetzt hatte sie eine schreckliche Ahnung wo das hinführen würde. Sie riss sich von Yasin los, der sie nur ganz locker festgehalten und selber gespannt zugesehen hatte und versucht irgendwie Ziad zu helfen, doch aufgrund ihrer Fesseln erreicht sie dabei überhaupt nichts und wurde schließlich von einer der drei Wachen, die Ziad im Zaum hielten, gepackt.
„Ach nein, wie rührend. Ist das dein Vater?“, fragte der Mann zu Zarifa gewandt. Sie schüttelte den Kopf. Mehr brachte sie im Moment nicht zustande. Die Wache tat ihr mit einem sehr festen Griff weh.
„Nun, hier scheint offensichtlich dennoch eine emotionale Beziehung zu bestehen. Stellt die beiden einander gegenüber und haltet sie fest. Führt die anderen Sklaven wieder aus den Kutschen und stellt sie in einer Reihe auf, sodass sie das hier mitansehen können. Sorgt dafür, dass keiner von ihnen sich vom Fleck bewegt. Das wird ihnen allen eine Lehre sein.“
Sofort wurde den Befehlen des Mannes Folge geleistet. Wachen aus Umbar und Wachen aus Gorak arbeiteten zusammen, um alle festhalten zu können. Der Geschäftsmann aus Umbar und Yasin sahen dem Schauspiel gespannt zu.
„Hier bekommt ihr nun eine kleine Kostprobe von dem zu sehen, was euch blüht, wenn ihr Widerstand leistet. Denkt an diese kleine Szene zurück, wenn euch mal wieder nach Freiheit sehnt und ihr die Flucht ergreifen wollt. Oder wenn ihr versuchen wollt, zu fliehen“, sagte der Mann aus Gorak und stellte sich nun direkt hinter Ziad, während er Zarifa direkt in die Augen blickte. Zahlreiche Tränen quollen nun aus ihren Augen. Sie fühlte sich hilflos. Sie war wütend, traurig und resigniert zugleich.
„Sieh genau hin, meine Hübsche. Dein Freund hier hat seinen Rang überschätzt. Wenn du nicht das gleiche Schicksal erleiden willst, wirst du von jetzt an gefälligst alles tun, was dir Befohlen wird, ist da klar?“
Zarifa antwortete nicht. Sie konnte nicht hinsehen. Stattdessen blickte sie auf ihr weißes Tuch, dass sie sich selber zu einem Kleid zurechtgeschnitten hatte.
Sie hörte, wie der Mann aus Gorak einen Dolch zog. Nach einer kurzen Pause folgte ekelerregendes Geräusch. Ziad keuchte und rote Blutflecken breiteten sich auf Zarifas Kleidung aus.
„SIEH HIN!“, brüllte der Mann aus Gorak und augenblicklich zog die Wache, die sie festhielt ihren Kopf an den Haaren nach oben. Sie sah den Dolch aus Ziads Brust hervorstechen. Und anschließend sah sie ihrem Freund in die Augen. Dem Mann, der sie gerettet hatte. Dem Mann, der wie ein Vater zu ihr gewesen war. Eine einzelne Träne floss aus seinem Auge und seine Wange herunter.
„Gib nicht auf. Niemals“, hauchte er. Dann zog der Mann aus Gorak den Dolch heraus und Ziad wurde losgelassen. Er fiel augenblicklich zu Boden.
„Nein... bitte nicht... ZIAD ANTOWORTE MIR“, kreischte Zarifa hysterisch. Sie wusste eigentlich, dass es keinen Zweck hatte, doch sie wollte es nicht wahr haben. Ziad konnte einfach nicht Tod sein. Das konnte er einfach nicht.
„Wie bedauerlich“, sagte der Mann aus Gorak. „Jetzt ist mein Dolch völlig mit Blut verdreckt. Du, Mädchen. Du wirst ihn säubern.“ Er kam auf Zarifa zu. Ihr war schlecht. Ihre Verachtung für diesen Mann war nicht in Worte zu fassen.
„Mach deinen Mund auf.“
Zarifa rührte sich nicht.
„Mach deinen Mund auf, habe ich gesagt. Oder soll ich diesen Dolch auch noch in deine Brust rammen?“
Zarifa öffnete ihren Mund. Was sollte das jetzt? Wieso konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Der Mann legte den Dolch in Zarifas Mund.
„Und jetzt... mach ihn sauber.“ Zarifa erstarrte. „Du hast mich verstanden. Mach ihn sauber oder ich stecke den Dolch doch noch woanders hin“, sagte er mit einem fiesen Grinsen im Gesicht.
Sie hatte keine Wahl. Ihr Hass auf die gesamte Situation war auf ein so immenses Maß angestiegen, dass sie fast vergaß, um Ziad zu trauern. Als sie jedoch den Geschmack seinen Blutes auf der Zunge spürte, viel es ihr jedoch schlagartig wieder ein, und sie musste sich fast übergeben. Sie wollte hier weg. Einfach nur weg. Sie wollte so lange rennen, bis ihr Körper aufgab. Sie wollte sich ins Gras legen und dort für immer liegen bleiben. Sie wollte einfach alles vergessen. Für immer schlafen, ohne zu träumen. Sie wollte... Sterben?
„Na also, geht doch. Du bist also doch ein braves Mädchen. Und jetzt wirst du mit Yasin mitgehen und alles tun, was er sagt. Anschließend wirst du wieder hierherkommen. Yasin? Du hast eine Stunde Zeit. Keine schweren oder gar tödlichen Verletzungen. Viel Spaß.“
Yasin packte Zarifa und schleifte sie mit. Sie wehrte sich nicht.
Zarifa nach Harondor