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Autor Thema: Die westlichen Hänge  (Gelesen 4542 mal)

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Die westlichen Hänge
« am: 22. Sep 2017, 18:11 »
Córiel, Sabri und Jarbeorn aus Eregion


Vaicenya selbst hatte ihnen kaum Hinweise hinterlassen, doch die Orks, die der Dunkelelbin dienten, waren auf direktem Weg ins Gebirge hinaufgestiegen. Eine breite Spur aus niedergetrampelter Vegetation machte es den drei Gefährten allzu leicht, ihre Feinde zu verfolgen, während sie nun in immer höher gelegene Regionen auf der Westseite der Gipfel des Nebelgebirges kamen. Sie hatten nach einer kurzen Beratung beschlossen, den Orks zu folgen, in der Hoffnung, dass diese sie zu Vaicenya führen würden.
Die Luft wurde spürbar kälter, doch noch hatten sie die Schneegrenze nicht passiert. Das langgezogene Tal, durch das sie hintereinander ritten, stieg sanft nach Osten hin an und war von einem nicht allzu dichten Wald aus dunklen Tannen bewachsen. Die Pferde trugen Córiel, Jarbeorn und Sabri im Trab sicher auf den Spuren der Orks durch das Tal. Sie sprachen nur wenig. Ihr wichtigstes Ziel war es, mehr über Vaicenya und ihre Verbindung zu Saruman herauszufinden, und Sabris verlorene Karte zurückzuholen, damit der junge Krieger seinen Auftrag erfüllen konnte. Hin und wieder kamen sie an umgestürzten Bäumen vorbei, die wohl ein Sturm umgerissen hatte. Das Tal, durch das sie ritten, war nicht bewohnt, soweit sie wussten. Córiel vermutete, dass es hier zu wenig Nahrung für ein Dorf der Menschen oder Zwerge gab, und dass die Gefahr von Ork-Überfällen zu groß war.

Drei Tage folgten sie ihren Feinden, ohne dass sich die Landschaft allzusehr veränderte. Am vierten Tag jedoch begannen die Bäume, weniger zu werden und das Terrain wurde steiler und felsiger.
„Allzu weit werden uns unsere Pferde nicht mehr tragen können,“ stellte Jarbeorn fest.
„Wenn es soweit ist, gehen wir zu Fuß weiter,“ sagte Córiel entschlossen. Sie hatten sich mit Absicht immer einige Stunden hinter den Orks gehalten, obwohl sie sie dank der Geschwindigkeit ihrer Reittiere leicht hätten einholen können. Doch sie wollten, dass die Orks sie zu ihrer Herrin führten, und bislang schien das nicht geschehen zu sein. Außerdem sorgte das entspannte Reisetempo dafür, dass die Pferde ausgeruht und bereit für eine rasche Flucht waren, falls es dazu kommen sollte.
Sabri, der ein Stückchen vorausgeritten war, tauchte zwischen zwei Bäumen auf und winkte ihnen aufgeregt zu. „Sie haben angehalten,“ rief er atemlos. „Es gibt ein großes Lager, nicht weit von hier, das unter einer großen, vorhängenden Klippe errichtet ist. Sieht aus, als wäre dieser Ort ihr Ziel... oder sie rasten dort für den Augenblick.“ Der Südländer deutete über seine Schulter, ungefähr nach Norden. Dort war zwischen den Baumwipfeln tatsächlich eine große, graue Klippe zu erkennen, die wie ein von der Natur geschaffener Balkon weit über das darunter liegende Tal hinausragte.
„Wie ich die Orks dieses Gebirges kenne, gibt es dort einen Höhleneingang,“ mutmaßte Jarbeorn. „Sie haben überall solche Tunnelausgänge, um ihre Raubzüge durchzuführen.“
Sabri, dem man ansah, dass all das noch sehr neu für ihn war, strich sich über den Oberarm und blickte interessiert in Jarbeorns Richtung. „Dann gibt es Tunnel und Höhlen unterhalb dieses Gebirges?“
„Tausende und Abertausende davon,“ antwortete Jarbeorn. „Diese Orks sind wie Maden, die sich durch das Gestein wühlen.“
„Wir lassen die Pferde hier und sehen uns das Lager genauer an, wenn die Sonne am höchsten steht,“ entschied Córiel.
Die beiden Menschen nickten. Rasch banden sie die Pferde an und machten sich marschbereit.

Córiel lag auf einem breiten Felsen, der am südlichen Hang der großen Klippe aus dem Gestein des Berges herausragte und ihr einen ausgezeichneten Ausblick über das Ork-Lager und die Länder nordwestlich davon bot. Neben ihr verharrten Sabri und Jarbeorn in ähnlicher Position. Sie hatten sich dort hinaufgeschlichen, ohne von den Wachen des Lagers entdeckt zu werden, was wegen der fehlenden Bäume, die ihnen Deckung hätten geben können, kein leichtes Unterfangen gewesen war. Der Aussichtspunkt lag ungefähr einen Steinwurf von der Stelle entfernt, wo der südliche Holzpalisadenwall des Ork-Lagers am unteren Rand der Klippe endete. Sie befanden sich jedoch auf höherem Terrain - sogar höher als die Spitzen der Wachtürme, die das Lager umgaben; drei auf der Südseite, und drei auf der Nordseite.
Jenseits des Lagers lag ein Landstrich, den Córiel nach einiger Zeit als den Nordteil Eregions erkannte. Eine hohe Kette aus Gipfel erstreckte sich wie ein hinausragender Arm des Nebelgebirges inmitten dieses Gebietes direkt nach Westen. Auf Karten Eregions wurde dieses Gipfelkette als der Hulsten-Kamm bezeichnet. Und an mehreren Stellen sah die Hochelbin mit ihren weitsichtigen Augen Rauch aufsteigen. Rauch, wie er ebenso aus dem Lager der Orks direkt vor ihnen aufstieg...
In der Hoffnung, dass die Sonne die Beobachtungsposten auf den Türmen blenden würde, pirschten sie sich in aller Vorsicht näher heran. Als sie bis auf Bogenschussreichweite herangekommen waren, schaltete Córiel die Ork-Wächter auf dem ihnen am nächsten gelegenen Turm mit zwei gezielten Schüssen aus. Dann eilten sie ungesehen bis an das südöstliche Ende der Palisade heran. Der Hang der Klippe gab ihnen dabei etwas Deckung, da sie aus einer unvorhergesehenen Richtung kamen, dennoch gingen sie stets das Risiko ein, entdeckt zu werden. Doch Córiel vertraute darauf, dass die Orks sich weit weg von jeglichen Feinden und in Sicherheit wähnten.
Sabri, der ein Seil mit sich trug, warf dieses geschickt über die Spitzen der Palisaden, und es verfing sich dort an einem hölzernen Pfahl. Der Südländer kletterte flink daran hinauf und verschwand auf der anderen Seite. Eine lange Minute verging, ohne dass er ein Zeichen von sich gab, doch dann tauchte sein Gesicht wieder oberhalb der Palisaden auf. Lächelnd winkte er Córiel und Jarbeorn zu und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
Auf der anderen Seite angekommen gingen sie hinter einem großen Ork-Zelt in Deckung. Sabri reinigte sein langes Messer, das schwarz vom Blut eines Feindes war, auf den er bei seinem Eindringen in das Lager gestoßen war. Rasch ließen sie die Leiche unter dem losen Stoff des Zeltes verschwinden und schlichen sich weiter durch das Lager hindurch.
Es war ein sehr großes Lager, doch der Großteil davon stand leer. Sie sahen nur hin und wieder Orks, die im Schatten der Klippe herumlungerten oder anderen Beschäftigungen nachgingen. Die Orks des Nebelgebirges vertrugen das Licht der Sonne nicht, weshalb sich die meisten von ihnen entweder in den Zelten befinden mussten - oder unter der Erde. Denn als Córiel und ihre Gefährten den zentralen Bereich des Ork-Lagers erreicht hatten, sahen sie den großen Höhleneingang, der mitten in den glatten Fels der Klippe gehauen war und an dem einiges an Aktivität herrschte. Orks strömten hinein und heraus. Die meisten von ihnen trugen das Zeichen der Weißen Hand. Córiel fiel auf, dass die Orks, die Vaicenya dienten, das nicht getan hatten. Sie fragte sich, was wohl dahinterstecken mochte.
Hinter einem großen Zelt hervor spähend beobachteten die drei Gefährten einige Zeit das Treiben am Eingang in die Tiefen des Gebirges. Schon bald fiel ihnen auf, dass die meisten Orks, die die Höhlen verließen, zum Nordtor des Ork-Lagers eilten. Und als sie sich wenige Minuten später vorsichtig ebenfalls dorthin schlichen, stellten sie fest, dass sie nicht ohne Weiteres weiterkamen. In der Nordhälfte des Lagers waren deutlich mehr Orks unterwegs, und sie waren alle zum Kampf gerüstet. Immer wieder rotteten sich kleinere Trupps am Tor zusammen und verließen das Lager dann in nordwestlicher Richtung. Córiel konnte aus ihrem momentanen Versteck nicht sehen, wohin sie gingen, doch sie vermutete, dass sie zu den Stellen unterwegs waren, an denen sie den Rauch hatte aufsteigen sehen. Ihr gefiel überhaupt nicht, was sie hier sah. Vaicenya hatte davon gesprochen, dass sich die Dunländer mit den Orks des Gebirges verbünden würden, um das Reich von Eregion zu zerschmettern. Dank Calantos Ritt zur Hauptstadt würden die Elben darüber Bescheid wissen, dass sich die Orks im Gebirge, also östlich von Eregion, regten, doch würden sie auch mit einem Angriff aus dem Norden rechnen? Es sieht aus, als würden sie den Hulsten-Kamm als ihr Aufmarschgebiet benutzen, wurde es Córiel klar.

Vorsichtig traten sie den Rückzug an. Sie konnten den Nordteil des Lagers nicht durchsuchen, ohne entdeckt zu werden, so viel war ihnen klar. Doch das Glück, das ihnen so lange hold gewesen war, ließ sie nun im Stich, gerade als sie sich von dem Anblick am Nordtor des Lagers abgewendet hatten. Eine große Gruppe von Orks näherte sich direkt von Süden. Córiel und ihren Gefährten blieb keine andere Wahl, als sich hastig in eines der Zelte zu flüchten, aus dessen Schatten sie hervorgespäht hatten.
Drinnen war es dunkel und die Luft roch abgestanden. Das Zelt war groß genug, sodass selbst Jarbeorn darin aufrecht stehen konnte. Sie verharrten regungslos, während die Orks draußen mit großem Getöse vorbeimarschierten. Gerade als Córiel aufatmen wollte, regte sich etwas in den Schatten des hinteren Teil des Zeltes.
Sabri reagierte als erster und sprang mit blitzenden Klingen auf die schattenhafte Gestalt zu, doch ehe er zustoßen konnte, erklang eine Stimme, die ein einziges Wort wisperte: „Ayfanaa!
Der Südländer rollte sich ab und kam flink wieder auf die Beine. Dann antwortete er in derselben Sprache.
„Sabri?“ fragte Córiel verwirrt. „Was...“
Anstatt einer Antwort hob der junge Krieger die Hand und beugte sich vor. Sein Dolch zuckte vor, und die Gestalt sank in sich zusammen.
Jarbeorn und Córiel keuchten auf, doch da regte sich Sabris „Opfer“ wieder. Der Südländer zog die Gestalt vorsichtig näher zum Eingang des Zeltes, wo es heller war, dessen Arm vorsichtig über die Schulter gelegt. Córiel sah nun, dass es sich um einen Mann handelte, der weite Kleidung aus hellem Stoff trug, auf der vereinzelte Blutflecken zu sehen waren. Sein Gesicht war unter einer Kapuze verborgen. Sabri lehnte ihn gegen einen großen Sack, der nahe des Eingangs lag. Dann warf er etwas zu Boden: Es waren zerschnittene Fesseln.
„Danke,“ ächzte der befreite Gefangene. „Ich hätte nicht gedacht, so fern der Heimat einen Krieger des Silbernen Bogens zu treffen. Doch ich kann nicht behaupten, dass ich nicht erfreut darüber wäre.“ Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Dann wandte er sich Córiel und Jarbeorn zu. „Mein Name ist Níthrar. Wie eurer Freund hier stamme ich aus Harad.“
„Was macht Ihr hier, an diesem... ungemütlichen Ort, so fern der Heimat?“ fragte der Beorninger erstaunt.
„Nun, ich bin nicht ganz freiwillig hier,“ antwortete Níthrar. „Für gewöhnlich lebe ich bei einer Gruppe, die als die „Heimatlosen“ bekannt ist.“ Dabei blickte er Sabri an, der rasch nickte.
„Ich bin Sabri Ibn Eayan,““ stellte er sich vor. „Ich hatte schon mit Euren Leuten zu tun.“
„Ah, der Sohn des Falken höchstpersönlich kommt zu meiner Rettung? Dein Vater muss ja größere Stücke auf mich halten, als ich angenommen hatte.“
Sabri blickte etwas betreten beiseite, und Níthrar schien sofort zu verstehen. „Doch du bist wegen etwas Anderem hier, nicht wahr?“
„Wie lange seid Ihr schon ein Gefangener dieser Orks? Habt Ihr vielleicht hier eine Elbin gesehen, die sich Vaicenya nennt?“
„Ob ich sie gesehen habe...“ wiederholte Níthrar leise. Nach einer kurzen Pause fuhr er mit bitterer Stimme fort: „Oh, ich habe sie gesehen. Und wünsche mir nun, ich hätte es nicht. Ich hätte niemals nach Norden kommen sollen. Andere benötigen meine Hilfe im Süden.“
Seine blauen Augen strahlten eine tiefe Traurigkeit aus und er sank erneut in sich zusammen. Da legte ihm Jarbeorn mitfühlend die Hand auf die Schulter und sagte: „Uns hat sie auch schon ein paarmal zu oft an der Nase herumgeführt. Aber wir werden sie aufhalten. Soviel ist sicher.“
Der Optimismus des Beorningers schien ansteckend zu sein, denn Níthrar hob den Kopf und richtete sich wieder auf. „Nun, ich schätze, es ist nie zu spät, zu hoffen. Auch wenn ich fürchte, dass in diesem Fall nur ein Narr zu hoffen wagen würde.“
„Schluss damit,“ ging Córiel ungeduldig dazwischen. „Wir können uns in Ruhe darüber unterhalten, ob wir nun Narren sind oder nicht, wenn wir uns in sicherem Abstand von diesem Lager befinden.“
„Du hast Recht. Verschwinden wir von hier,“ meinte Sabri. „Könnt Ihr gehen, Heimatloser?“
Níthrar kam etwas holprig auf die Beine, doch dann nickte er. „Ich war sehr lange gefesselt. Doch ich denke, es wird gehen. Ich bin nicht allzu schwer verwundet und werde mich rasch erholen.“
Jarbeorn spähte vorsichtig durch den Eingang des Zeltes hinaus. „Noch immer viel zu viele Orks unterwegs,“ raunte er. „Ich fürchte, es werden ständig mehr.“
„Dann schneiden wir ein Loch in die Hinterwand des Zeltes und hoffen, dass der südliche Teil des Lagers noch immer recht leer ist,“ entschied Córiel.
Sie versammelten sich an der Rückseite, und Sabri setzte sein Messer an der dicken, aus Lederhäuten bestehenden Zeltwand an. Níthrar war zunächst an den Ort zurückgekehrt, wo er in der Dunkelheit gefesselt gewesen war, und tauchte mit einem kleinen Beutel in der Hand wieder auf. „Meine Habseligkeiten haben meine Gastgeber freundlicherweise direkt neben mir selbst gelagert,“ erklärte er zufrieden.

Sie gelangten ungesehen durch das Loch in der Zeltwand und durch das leerere Südlager bis zu der Stelle, an der sie auf dem Hinweg die Palisade überquert hatten. Níthrar hatte sich ihrem Tempo rasch angepasst und hatte die Gruppe nicht verlangsamt. Doch nun gab es ein Problem: Sabris Seil war verschwunden, und an seine Stelle waren fünf aufmerksame Orks getreten.
„Das kommt ungelegen,“ kommentierte Jarbeorn. Die Gefährten spähten hinter einem großen Stapel von gefällten Baumstämmen hervor und sahen zu, wie sich die Orks in ihrer Sprache unterhielten und ganz offensichtlich nach dem Besitzer des Seils suchten.
„Wahrscheinlich haben sie die toten Turmwächter noch nicht entdeckt, sonst hätten sie längst den Alarm ausgelöst,“ mutmaßte Córiel.
„Lange wird es nicht mehr dauern,“ wandte Sabri ein. „Wir müssen etwas unternehmen.“ Und er setzte seine Worte direkt in Taten um, als er hinter dem Holzstapel hervorsprang und mit zwei schnellen Sprüngen mitten unter den überraschten Orks landete. Sabris Klingen rauschten hervor und fällten einen von ihnen, doch die übrigen Orks stürzten sich auf ihnen, während ein Weiterer in Richtung des Südtores losrannte.
Córiel konnte ihn nicht entkommen lassen. Hastig spannte sie ihren Bogen, doch sie hatte sich zu wenig Zeit zum Zielen gelassen. Der Schuss ging daneben. Dennoch stürzte der Ork tot zu Boden. Es war Níthrar, der ihn mit einem eigenen Treffer getötet hatte, denn er hatte unterwegs einen orkischen Bogen und einige Pfeile aufgehoben.
„Meisterhafter Schuss,“ murmelte Córiel überrascht als sie erkannte, was geschehen war. Dann sprang sie auf und folgte Jarbeorn, der sich bereits zu Sabri ins Gefecht gestürzt hatte. Die Orks waren rasch besiegt, doch nun geriet das Lager in Aufruhr.
„Wir müssen sofort weg von hier,“ rief Jarbeorn und holte mit seiner Axt aus. Einmal, zweimal, dreimal ließ er sie mit mächtigen Hieben auf die nahe Palisade niedergehen, ehe einer der Stämme entzweibrach und ihnen eine schmale, aber ausreichende Lücke bot. Mit großer Hast zwängten sie sich hindurch und rannten, so schnell sie ihre Beine trugen, bis sie außer Sichtweite des Lagers waren.

In einem kleinen Wäldchen hielten sie an und blieben schwer atmend stehen. „Sie werden unsere Spur schon bald aufgenommen haben,“ warnte Jarbeorn, der sich am besten mit den Orks des Nebelgebirges auskannte. „Wir müssen zu den Pferden, und uns in Sicherheit bringen!“
„Oh, ich glaube nicht, dass sie uns verfolgen werden,“ warf Níthrar ein. „Sie haben dringlichere Befehle. Bis sie feststellen, dass ihr geschätzter Gast“ - er deutete auf sich selbst - „entkommen ist, wird wahrscheinlich noch viel Zeit vergehen.
Córiel entspannte sich bei seinen Worte ein wenig. „Nun, dann schlage ich vor, wir finden die Pferde und sorgen dann für ein Abendessen. Ich für meinen Teil bin nach abenteuerlichen Befreiungen wie dieser immer besonders hungrig.“
Das entlockte Jarbeorn ein schallendes Lachen, und auch Sabri und Níthrar grinsten. „Das ist eine hervorragende Idee,“ lobte der Südländer.
Und wenn wir gegessen haben, werden wir uns unterhalten, Níthrar, dachte Córiel. Der Mann schien deutlich mehr zu wissen, als er preisgab. Und sie hatte vor, all das herauszufinden.
« Letzte Änderung: 23. Sep 2017, 08:49 von Fine »
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Des Falken Auftrag
« Antwort #1 am: 23. Sep 2017, 23:13 »
Sie beschlossen, ihr Lager für die Nacht auf der gegenüberliegenden Seite des Tales aufzuschlagen, also so weit entfernt vom Lager der Orks wie möglich. Nachdem sie die Pferde abgeholt hatten, führten sie die Tiere am Zügel und Sabri, der als letzter ging, verwischte ihre Spuren, so gut es ging. Die Gruppe überquerte drei kleine Bäche und hoffte dadurch, noch schwerer zu verfolgen zu sein. Obwohl Níthrar ihnen versichert hatte, dass ihnen bis auf Weiteres keine Gefahr von den Orks drohte, waren sie dennoch vorsichtig. Am südlichen Rand des Tals angekommen richteten sie sich für die Nacht ein, als die Sonne langsam im Westen über den weiten, fernen Landen versank, über die man von hier aus einen spektakulären Ausblick hatte. Ein Feuer zu entfachen wagten sie nicht, und so mussten sie sich mit kaltem Abendessen begnügen.
Córiel saß neben Jarbeorn auf einem umgestürzten Baumstamm und kaute lustlos auf einem Stück Trockenfleisch herum. Sie fror. Etwas abseits standen Níthrar und Sabri nebeneinander und unterhielten sich in der Sprache der Haradrim. Córiel hatte vorgehabt, ein paar Antworten aus dem ehemaligen Gefangenen der Orks herauszuholen, doch das Gespräch, dass er mit dem jungen Krieger führte, schien sehr wichtig zu sein. Also übte sich die Hochelbin in Geduld. Auch Jarbeorn war ungewöhnlich still. Nachdenklich starrte der Beorninger in den dunklen Wald, der sie umgab. Da fasste sich Córiel ein Herz und legte ihre Hand auf seine, und er blickte auf.
"Warum so trübsinnig, Schwarzpelz?" fragte sie.
"Ich bin nicht trübsinnig. Ich denke nach," antwortete er.
"Das solltest du lassen. Der Gesichtsausdruck, den du dabei machst, sieht aus, als wärst du in Brennesseln getreten."
Jarbeorn schmunzelte. "Sehr witzig, Stikke." Dann wurde er rasch wieder ernst. "Weißt du, ich verstehe es einfach nicht. Ich dachte, ich kenne die Orks dieses Gebirges. In meines Vaters Diensten habe ich oft genug gegen sie gekämpft, als mein Volk den Hohen Pass für Reisende freihielt. Aber heute haben sie sich wirklich merkwürdig verhalten."
"Wovon sprichst du?" hakte Córiel nach.
"Findest du nicht auch, dass uns das Eindringen in das Ork-Lager und die erfolgreiche Flucht daraus viel zu einfach gefallen ist? Wir haben kaum kämpfen müssen. Und dann behauptet dieser Níthrar auch noch, dass die Orks uns nicht verfolgen werden? Normalerweise setzen sie einem Feind, der unerlaubt ihr Gebiet betritt, bis weit in die Ebene nach und sind äußerst nachtragend und rachsüchtig. Es ist sehr ungewöhnlich, dass sie ein Lager an der Oberfläche errichten, geschweige denn mehrere. Und wenn sie es tun, bewachen sie es so scharf, dass nicht einmal eine Ratte ungesehen hineinschlüpfen könnte. Einzeln mögen die Orks aus dem Nebelgebirge keine große Gefahr darstellen, schwächlich und feige wie sie sind. Aber wo ein Ork ist, sind immer noch mindestens ein Dutzend mehr. Ich sage dir, noch nie in meinem Leben habe ich ein so mies bewachtes und leeres Ork-Lager gesehen. Diese Orks... ich fürchte, sie haben irgendetwas vor, irgendetwas, das wichtiger ist als Eindringlinge und befreite Gefangene. Und das macht mir große Sorge."
Córiel nickte. "Mir geht es ähnlich. Ich glaube, hinter dem veränderten Verhalten dieser Orks steckt unser guter Freund Saruman. Es sieht ganz so aus, als ließe er eine Streitmacht auf dem Hulsten-Kamm, nordwestlich von hier aufmarschieren. Die Elben von Eregion erwarten einen Angriff aus dem Osten, doch die wahre Gefahr wird sich im Norden befinden."
"Ah, ihr habt das Rätsel also bereits gelöst," lobte Níthrar, der zu ihnen hinüber kam. "In der Tat ist dies der Befehl, den die Orks erhalten haben. Ich habe sie oft genug davon reden hören, während meiner Gefangenschaft."
"Nun, ich wünschte mir, dass es anders wäre," meinte Córiel. "Jedenfalls steht fest, dass wir die Avari-Königin warnen müssen."
"Wenn wir jetzt nach Eregion zurückreiten, riskieren wir, Vaicenyas Spur vollständig zu verlieren," warf Jarbeorn ein.
"Er hat recht. Deshalb werde nur ich gehen. Ihr drei folgt Vaicenya weiter." Sabri hielt sein Pferd bereits am Zügel. Und in der anderen Hand trug er Níthrars Bündel. "Ich habe meinen Auftrag erfüllt und kann zu meinem Vater zurückkehren."
"Wovon sprichst du?" fragte Córiel verwundert.
"Der Heimatlose wird es euch erklären," sagte Sabri und schwang sich in den Sattel. "Córiel, Jarbeorn, es war mir eine Ehre, mit euch zu reiten und zu kämpfen. Mögen euch eure Wege sicher an euer Ziel führen, und wir uns in besseren Zeiten wiedersehen." Der junge Krieger sprach mit ernster Stimme, doch dann stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. "Und lasst euch nicht umbringen."
"Gute Reise," wünschte Jarbeorn, doch Córiel fand nicht die richtigen Worte. Also blieb sie stumm und machte eine Abschiedsgeste, als Sabri talabwärts davonpreschte.

"Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für ein paar Erklärungen," sagte Jarbeorn, als die Hufschläge in der Ferne verklungen waren.
"Eigentlich gibt es da nicht sonderlich viel zu sagen," antwortete Níthrar. "Die Karte, die Vaicenya Sabri gestohlen hatte, hatte sie mir gegeben, um sie für sie zu übersetzen, denn die Beschriftung war mit haradischen Schriftzeichen eingezeichnet worden. Als ich mich weigerte, legte sie die Karte zu meinen Habseligkeiten und versprach, sie würde mich schon noch dazu bringen. Ich vermute, dass eure Zusammenstöße mit ihr sie daran gehindert haben, ihre Worte bislang wahr zu machen." Sein Blick wechselte zwischen Jarbeorn und der Hochelbin hin und her, blieb jedoch schließlich an Córiel hängen. Níthrar fuhr leise fort: "Und ich glaube, ich sehe jetzt auch den Grund dafür."
"Schluss mit den Rätseln," sagte Córiel aufbrausend. "Ich verlange Antworten, Níthrar. Wie gerät einer vom Volke Harads so weit in den Norden? Was weißt du über Vaicenya und ihre Absichten? Und weshalb hatte es Sabri plötzlich so eilig, was hast du ihm eingeredet?"
"Eines nach dem anderen," erwiderte Níthrar mit einem gütigen Lächeln und hob abwehrend die Hände. Dann ließ er sich ihnen gegenüber nieder. "Meinen Namen kennt ihr beiden ja bereits: ich bin Níthrar von den Heimatlosen. Die Heimatlosen sind eine Gruppe von Nomaden, die in Harad leben und sich der Hilfe derjeniger verschrieben haben, die sich nicht selbst helfen können. Ich war ihr Anführer. Doch ursprünglich stamme ich selbst nicht aus dem Süden. Ich hörte ein Gerücht über Avari-Elben, die im Verborgenen nach Westen zogen, und wollte mehr darüber heraus finden. Also reiste ich mit großer Heimlichkeit nordwärts, bis ich nach Rohan kam. Da ich annahm, Lothlórien einen Zwischenstopp einlegen zu können, machte ich mich von dort aus zum Goldenen Wald auf. Doch dort fand ich nur Verwüstung vor - und die Schergen Sarumans, die mich gefangennahmen. Und zu Vaicenya brachten."
"Hast du irgendetwas über ihre Pläne herausfinden können?" fragte Jarbeorn.
"Nicht viel. Im Augenblick scheint sie tatsächlich Sarumans Vorhaben im Nebelgebirge umzusetzen, doch mir kam es nicht so vor, als wäre sie eine treue Dienerin des Zauberers. Es ist gut, dass Sabri eine Warnung nach Eregion bringen wird, denn die Gefahr, die dem Land droht, ist leider nur allzu real. Die Ork-Horden sammeln sich im Norden, um unvorhergesehen zuschlagen zu können."
"Sabri ist doch nicht nur wegen dieser Botschaft so hastig aufgebrochen. Was hast du ihm erzählt, als ihr in eurer Sprache miteinander geredet habt?"
"Ich habe ihm einige Nachrichten eingeschärft, die er seinem Vater und dessen Verbündeten mitteilen soll, wenn er in den Süden zurückkehrt, was bald geschehen wird. Er sagte, dass er im Schwanenfleet am Oberlauf des Gwathlós ein Boot versteckt hat. Der Fluss wird ihn rasch zu Meer tragen. Abgesehen davon habe ich seine... Hoffnungen bezüglich einer gemeinsamen Freundin etwas entschärft." Níthrar grinste. "Vielleicht hat er euch davon erzählt, aber es gibt da ein Mädchen mit weißen Haaren, das..."
Córiel hob die Hand. "Ich will es gar nicht wissen."

Sie verfielen für einen Augenblick in brütendes Schweigen. Es war Jarbeorn, der die Stille mit einer Frage beendete. "Was wollte Vaicenya denn von dir? Es kommt mir sonderbar vor, dass sie einen Gefangenen bis auf die andere Seite des Gebirges mitschleppen würde."
Níthrar blickte dem Beorninger einen Moment stumm in die Augen, ehe er antwortete. "Das habe ich mich auch gefragt," sagte er leise. "Vielleicht wollte sie, dass ich sehe, wie sehr sie sich verändert hat. Was aus ihr geworden ist. Doch dafür brauchte es nicht mehr als eine kurze Unterhaltung. Die Frau, die ich einst kannte, ist schon lange fort."
"Du hast sie also schon gekannt?" fragte Córiel rasch nach.
Ihr Gegenüber schenkte der Hochelbin einen seltsamen, schwer zu deutenden Blick. "Das habe ich." Mehr schien er jedoch im Augenblick nicht dazu sagen zu wollen.
"Und was sollten wir deiner Meinung nun tun? Wie gehen wir weiter vor?" wollte Jarbeorn wissen. "Wir brauchen einen neuen Plan."
"Oh, wir werden Vaicenya natürlich folgen - falls ihr dazu bereit seid, meine neuen Freunde," meinte Níthrar mit einem schwachen Lächeln. "Glücklicherweise weiß ich, wo sie sich gerade aufhält, und wohin sie bald gehen wird. Morgen machen wir uns auf den Weg dorthin. Ich rate euch, die Zeit bis zum Sonnenaufgang gut zu nutzen. Es liegt eine anstrengende Reise vor uns."
"Wovon sprichst du? Wohin werden wir gehen?"
"Nach Nordosten," antwortete Níthrar. "Zum Herzen des Gebirges." Dann wandte er sich ab und legte sich schlafen.
Den Kopf voller unbeantworteter Fragen taten es Córiel und Jarbeorn ihm einige Minuten später gleich.
« Letzte Änderung: 12. Jun 2019, 10:25 von Fine »
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Das Herz des Gebirges
« Antwort #2 am: 26. Sep 2017, 15:58 »
Córiel, Jarbeorn und Níthrar standen auf einem schmalen, steinigen Gebirgspfad und sahen ihren Pferden dabei zu, wie sie langsam das Tal hinab verschwanden. Sie hatten die Tiere nicht weiter mitnehmen können, denn nun hatten sie das obere Ende des langgezogenen Tales erreicht und kamen in die höher gelegenen Regionen des westlichen Nebelgebirges. Die Tragelast, die ihnen die Pferde bislang abgenommen hatten, hatten sie unter sich aufgeteilt, doch einige Sachen hatten sie zurücklassen müssen. Córiel schätzte, dass sie noch für gute drei Wochen ausreichend Vorräte besaßen. Viel würde es im Hochgebirge nicht zu jagen oder zu sammeln geben, weshalb ihnen nun langsam die Zeit davonlief.
Wenn wir Vaicenya nicht bald erwischen, werden wir die Verfolgung abbrechen müssen, dachte Córiel. Sie konnte nicht zulassen, dass es dazu kam; zu viel stand auf dem Spiel. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits Eregion brennen und Eriador erneut unter Sarumans Kontrolle fallen. Nein. Wir setzen diesen Plänen ein Ende.
Der schmale Pfad, dem sie nun folgten, führte nach Nordosten und stieg steil an. Zunächst folgten sie dem Weg eine steinige Rinne hinauf und kamen an deren oberem Rand auf ein kleines Plateau, wo sie die Überreste eines Lagerfeuers fanden. Sie schätzten, dass das Feuer mindestens drei Tage alt war. Der Pfad zog sich von hier aus am Rande einer großen Schlucht entlang, sodass die drei Gefährten nun zu ihrer Linken einen gähnenden Abgrund und zur Rechten eine hohe Felswand hatten, während sie dem Weg tiefer ins Gebirge hinein folgten.

Ein ferner Schrei ließ Córiel aufblicken, und Jarbeorn und Níthrar folgten ihrem Blick. In großer Höhe zog ein Adler über sie hinweg, kreiste zweimal, und verschwand dann in Richtung Osten hinter den hohen, schneebedeckten Gipfeln, die sich dort wie eine Mauer auftürmten. Ihnen war klar, dass der große Vogel sie gesehen hatte.
"Die Vasallen des Herrn der Winde haben noch immer ein wachsames Auge auf diese Region," sagte Jarbeorn.
"Ich hörte Geschichten über diese majestätischen Kreaturen," sagte Níthrar. "Dass sie so groß sind, hätte ich allerdings nicht gedacht."
Córiel musterte den Südländer misstrauisch. Der Adler war in großer Höhe geflogen, und selbst ihre scharfen Elbenaugen hatten seine Spannweite kaum einschätzen können.
"Sie haben nur wenig für die Orks übrig," erklärte Jarbeorn, der selbst schon Kontakt mit den großen Adlern des Nebelgebirges gehabt hatte. "Doch allzu freundlich halten sie es dennoch auch mit meinem Volk nicht."
"Wenn die Menschen deines Volkes dir ähnlich sind, Jarbeorn, kann ich das nur allzu gut verstehen," meinte Córiel trocken.
Jarbeorn lachte. "Die Höhenluft scheint deiner Laune ja gut zu bekommen, Stikke."
"Sieht ganz so aus."

Drei Tage folgten sie dem Pfad, der sie weiter und weiter ins Herz des Gebirges führte. Sie hielten die grobe nordöstliche Reiserichtung ein, die Níthrar ihnen vorgegeben hatte. Es boten sich sowieso nur selten Gelegenheiten, vom Weg abzuweichen. Die Gruppe war nun umgeben von Berggipfeln und der Pfad wand sich entlang der Flanke einer schier endlosen Bergkette, mal hoch hinauf steigend, dann wieder in die Tiefe wandernd. Die Landschaft bot nur wenig Abwechslung. Das graue Gestein des Gebirges war in dieser Höhe nur von vereinzelten Büschen und Moosen bewachsen, und der Nebel, der der Region ihren Namen gegeben hatte, lag die meiste Zeit über wie eine dichte Schicht Watte zwischen den Tälern und Schluchten verteilt. Am dritten Tag ihrer Reise begann es zu schneien. Auch wenn der Schnee bei Bodenkontakt zu schmelzen begann, wurde es den Gefährten spätestens jetzt dennoch klar, dass der Winter nahte.
Der Mittag des vierten Tages seit Sabris Abschied kam, und endlich brach die Sonne durch die dicken Wolkenschichten, die sie seit Tagen verdeckt hatte. Auch der Nebel begann sich in Richtung der tiefer gelegenen Gebiete zurückzuziehen. Der Pfad vor ihnen wand sich um eine großen Felsen herum, der auf der Bergflanke ruhte und aussah, als könnte er jeden Moment abstürzen. Córiel, die voraus ging, umrundete den Felsen und blieb erstaunt stehen. Ein unerwarteter Anblick bot sich ihr.
Rasch schlossen ihre Gefährten zu ihr auf, und Jarbeorn entfuhr ein überraschtes Wort in seiner Muttersprache. Níthrar hingegen sagte: "Ich hatte nicht damit gerechnet, das dies der Grund für ihre Eile war..."
Sie standen am oberen Ende eines kleinen, ovalförmigen Tales, in das der Pfad in Serpentinen hinab führte. Es war auf allen Seiten von hohen Gipfeln umgeben. Bäume wuchsen auf dem Grund des Tales, und ein Wasserfall stürzte südlich ihrer Position hinab, um unten einen kleinen See zu bilden. Doch was ihre Blicke sofort anzog, waren die Befestigungsanlagen, die am nordöstlichen Ende in die Klippen hinein geschlagen waren; ganz offensichtlich stammten sie von Zwergenhand. Nun jedoch wehte ein unverwechselbares Banner über dem höchsten Turm, der sich auf gleicher Höhe mit den drei Gefährten befand: Die weiße Hand Sarumans.
Schwarze Gestalten schwärmten rings um die Mauern der alten Burg aus. Kampfgeräusche und Kriegshörner drangen von fern an Córiels Ohr. Der Außenposten Sarumans wurde belagert. Die Angreifer trugen kein Feldzeichen und strömten aus dem Nordosten, wo der schmale Pfad das Tal wieder verließ, hervor. Noch während die Gefährten zusahen, wurde die Burg von ihren Feinden eingeschlossen. Von den Mauern regnete ein Pfeilhagel herab und große Steine und andere Wurfgeschosse flogen den Angreifern entgegen.
"Ich denke nicht, dass das ein guter Zeitpunkt ist, um in diesem Chaos nach Vaicenya zu suchen," mutmaßte Jarbeorn.
"Sie muss dort unten sein," erwiderte Níthrar. "Dieser Vorposten war seit ihrem letzten Gespräch mit mir ihr Ziel, denn ihre Kundschafter hatten ihr von dem bevorstehenden Angriff aus dem Norden berichtet."
"Aus dem Norden?" fragte Córiel. "Nördlich von hier liegt der Hohe Pass, und noch weiter nördlich davon nur..."
"...Gundabad," ergänzte Jarbeorn. "Ich dachte, das gesamte Gebirge steht unter Sarumans Herrschaft. Wieso bekämpfen sich seine Orks gegenseitig?"
Níthrar schien sich nicht ganz sicher zu sein, als er antwortete: "Ich kenne mich in diesen Landen nicht aus, und habe nur einige Dinge mitanhören können, während ich Vaicenyas Gefangener war. Es wurde einige Male davon gesprochen, dass ein Teil der Nebelberge Saruman verraten hat und nun Mordor die Treue geschworen hat."
Córiel verschränkte die Arme und lehnte sich mit dem Rücken gegen die nahe Felswand. "Nun, ich habe kein Problem damit, dass sich unsere Feinde gegenseitig abschlachten."
"Wenn wir Vaicenya hier nicht stellen, wird sie spurlos verschwinden, fürchte ich," erwiderte Níthrar. "Dieser Vorposten war der einzige Anhaltspunkt, den ich hatte." Er deutete nach unten, auf die laufende Schlacht. Der Angriff aus dem Norden hatte an Schwung verloren, und noch war es keinem Ork gelungen, die Mauern zu überwinden. Offenbar behielten die Verteidiger Sarumans die Oberhand.
"Eine ziemliche Zwickmühle," kommentierte Jarbeorn. "Warten wir zu lange, geht die Schlacht zuende und Vaicenya verschwindet. Aber wenn wir zu früh eingreifen, stehen wir gleich zwei Sorten von Orks gegenüber, die uns liebend gerne bei lebendigem Leib häuten würden."
"Wir schleichen uns näher 'ran und halten uns bedeckt, bis der richtige Augenblick gekommen ist," schlug Córiel vor. "Vaicenya darf auf keinen Fall entkommen."

Nachdem die Entscheidung gefallen war, machten sie sich hastig auf den Weg ins Tal hinunter. Unten würden sie die Bäume vor den meisten Blicken bewahren, doch auf den Serpentinen wären sie leicht zu entdecken gewesen, wenn Wachen auf dem Turm der Burg gestanden hätten. Noch nahmen diese Wachen glücklicherweise an der Verteidigung der Mauern teil und waren abgelenkt. So gelangten die Gefährten ungesehen hinunter und durchquerten den Talboden, der feucht und uneben war. Offenbar lief das Wasser, das in großen Mengen von den Klippen herabstürzte, nur schlecht in den felsigen Boden ab, was dazu führte, dass ein Großteil des Talbodens aus weichem Morast bestand. Hohes Schilf bot Córiel und ihren Gefährten Deckung, während sie sich mühsam näher und näher an die Festung heranarbeiteten.
Der Lärm der Schlacht begann bereits zu verebben, als sie den Sumpf hinter sich ließen und zwischen den Bäumen hervortraten. Die zwergischen Erbauer der Burg hatten den Boden rings um die Mauern mit flachen Steinen gepflastert, weshalb hier weder Bäume wuchsen noch Morast ihre Schritte behinderte. Überall lagen gefallene Orks herum, insbesondere am Tor des Vorpostens, das aus nicht mehr als einer verstärkten, einen Meter breiten Tür bestand, die nun aus den Angeln gerissen worden war. Den Belagerern war es offenbar auf dem Höhepunkt des Gefechts gelungen, schließlich doch noch ins Innere vorzudringen. Außerhalb der Mauern lebte nichts mehr, und eine trügerische Stille senkte sich über das Tal, als die drei Gefährten sich mit größter Vorsicht dem Tor näherten.
"Das gefällt mir gar nicht", wisperte Córiel, die ihren Speer kampfbereit in der rechten Hand hielt. Auch Jarbeorn hatte seine Großaxt gezogen. Níthrar hatte einen orkischen Dolch aufgehoben und war mit Pfeil und Bogen aus dem Lager, in dem er gefangen gewesen war, bewaffnet.
Sie kamen in den Innenhof der Festung, wo sich ihnen ein grausamer Anblick bot. Blutüberströmte Leichen türmten sich aufeinander. Manche Orks waren regelrecht in Stücke gehauen worden. Doch auch hier schien der Ansturm noch nicht vorbei gewesen zu sein. Die Tür zum Turm der Burg stand offen, und die dahinter liegende Treppe, die von Fackeln erhellt wurde, war mit schwarzem Blut bespritzt. Das Klirren von Stahl auf Stahl ertönte aus dem Durchgang. Offensichtlich wurde noch immer gekämpft.
"Viele Orks können wohl auf beiden Seiten nicht mehr übrig sein," vermutete Níthrar, der nun einen Pfeil griffbereit hielt. "Wir sollten uns beeilen."
Jarbeorn übernahm die Führung und stapfte kurzenschlossen die gewundene Treppe hinauf. Córiel war direkt hinter ihm, und Níthrar bildete das Schlusslicht. Drei Stockwerke ließen sie hinter sich, bis sie in eine große Halle kamen, die offenbar in den Berg, an dessen Flanke der Turm lehnte, hineingegraben worden war. Erschrocken blieben die Gefährten stehen, denn hier nun trafen sie auf eine große Gruppe von Feinden. Die Orks, die die Halle anscheinend gerade nach Beute durchsucht hatten, fuhren herum und johlten bösartig, als sie sahen, dass sie weit in der Überzahl waren. Keiner von ihnen trug das Zeichen der Weißen Hand; es musste sich also um den Rest der Angreifer aus dem Norden handeln. Es waren mindestens zwei Dutzend von ihnen.
"Rückzug, Rückzug!" rief Níthrar und eilte zurück zur Treppe, doch dann blieb er erschrocken stehen. Von unten waren schwere Schritte zu hören, und ein weiteres Dutzend Orks strömte hinauf.
"Wir hätten jedes Stockwerk durchsuchen sollen," ärgerte sich Córiel, als sie mit ihren Gefährten in eine der Ecken der Halle gedrängt wurde. Ehe einer der beiden antworten konnte, stürzten sich die Orks auf sie.

Córiel beschloss, so viele von ihnen mitzunehmen, ehe sie von der Übermacht überrollt wurden, doch kaum hatte sie den ersten Ork mit einem raschen Speerstich getötet, geriet der Ansturm ins Stocken. Hinter ihnen, am Durchgang zur Treppe, waren die Orks in Unordnung geraten und Kampfgeräusche drangen durch die Türe hindurch. Zwei große Uruk-hai machten die Orks am Durchgang mit ihren Breitschwertern nieder, und hinter ihnen betrat eine schlanke, in silberne Rüstung gehüllte Gestalt die Halle, die zwei lange, fahl schimmernde Elbenklingen führte. Vaicenya, schoss es Córiel durch den Kopf.
Mehr Orks der weißen Hand drängten sich durch den Durchgang, und ein blutiges Gefecht entbrannte. Obwohl die Sarumantreuen Orks in der Unterzahl waren, besaßen sie offenbar bessere Rüstung und Waffen, was für ausgeglichene Verhältnisse sorgte. Außerdem hatten die Orks aus dem Norden Córiel, Jarbeorn und Níthrar zu berücksichtigen. Níthrar hatte bereits zwei Feinde mit gut gezielten Schüssen gefällt, und Córiel hatte nicht vor, diese Gelegenheit für einen Kampf auszulassen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Vaicenya einem silbernen Blitz gleich auf einen Ork stürzte. Da sprang die Hochelbin ebenfalls vorwärts und trieb ihren Speer durch den ungeschützten Nacken eines Orks, der den Fehler gemacht hatte, seine Aufmerksamkeit auf den Durchgang zur Treppe zu richten. Córiel hörte noch, wie Jarbeorns Axt auf etwas Stählernes niederging, dann verfiel sie dem Kampfrausch.
Immer wieder sah Córiel Vaicenyas Rüstung silbern vor sich aufflackern, während sie sich durch das Gefecht treiben ließ. Dann endlich öffnete sich zwischen den kämpfenden Orks eine Lücke, und Córiel sprang mit einem großen Satz hindurch. den Schwung mitnehmend führte sie einen tödlichen Stich, der auf Vaicenyas Gesicht zielte. Doch die Dunkelelbin hatte sie kommen sehen und wich mit erschreckender Einfachheit aus. Sie versetzte Córiel einen Hieb mit dem Griff eines ihrer Schwerter, der sie rückwärts gegen einen der beiden Uruk-hai taumeln ließ. Ehe dieser Córiels Unachtsamkeit ausnutzen konnte, bohrte sich ein Pfeil Níthrars durch die Sehschlitze seines Helms und fällte ihn.
Córiel blickte sich um, als sie die Orientierung wieder gefunden hatte. Der Großteil der Orks war inzwischen tot; beide Seiten hatten sich nahezu vollständig aufgerieben. Jarbeorn erschlug einen der letzten Orks aus dem Norden. Den letzten Anhänger der weißen Hand erschoss Níthrar beinahe gleichzeitig.
Die Hochelbin spannte sich an und schwang den Speer dann in einem weiten, tiefen Bogen, um Vaicenya von den Füßen zu reißen. Anstatt auszuweichen hob diese jedoch nur das Bein und ließ ihren eisernen Stiefel mit großer Kraft auf den Schaft des Speeres niederfahren, sodass die Waffe Córiel aus der Hand gerissen wurde. Hastig zog sie ihren Dolch, doch da war Vaicenya bereits bei ihr, und hielt ihr ihre beiden Klingen an den Hals. Im Hintergrund starb der letzte Ork durch einen mächtigen Hieb des Beorningers. Und das Schimmern der Elbenklingen flackerte, und erlosch.
Vaicenya steckte eines ihrer beiden Schwerter weg und legte Córiel ihren gepanzerten Arm um den Hals, sodass die Hochelbin ihr den Rücken zuwenden musste. Dann drehte Vaicenya sie herum, als Níthrar und Jarbeorn heran kamen.
"Nehmt die Waffen runter, wenn ihr nicht wollt, dass ich eurer Freundin die Kehle aufschlitze," drohte die Dunkelelbin. "Ich denke, wir sollten uns... unterhalten."
« Letzte Änderung: 17. Nov 2017, 07:20 von Fine »
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Auf der Turmspitze
« Antwort #3 am: 27. Sep 2017, 11:56 »
Níthrar und Jarbeorn zögerten einen Augenblick, ehe sie tatsächlich die Waffen senkten. "Also schön," sagte der Beorninger. "Reden wir. Was hast du zu sagen, Vaicenya?"
Der Arm, der um Córiels Oberkörper lag und sie fest im Griff hielt, bewegte sich leicht, als die Dunkelelbin auf die vielen toten Orks deutete. "Seht sie euch an. Diese abscheulichen Kreaturen. Eine Perversion des Lebens. Sie haben bekommen, was sie verdient haben. Sie alle."
"Wovon redest du da?" stieß Córiel hervor. "Lass' mich los und sieh mir ins Gesicht, wenn du wirklich verhandeln willst."
"Vielleicht tue ich das," hauchte Vaicenya in ihr Ohr. "Wenn du brav bist, meine Liebe." Sie zog Córiel mehrere Schritte mit sich, in Richtung des Durchgangs, und bis zur Treppe. Dann ließ Vaicenya sie tatsächlich los, drohte ihr allerdings noch für einen Augenblick mit der Klinge, als Jarbeorn und Níthrar hinterher kamen. "Kommt. Wir sprechen oben miteinander. Ohne Waffen." Sie wandte sich um und eilte anmutig die Stufen hinauf. Córiel, die ihren Speer verloren hatte, hob den Dolch zu einem raschen Wurf, doch Níthrars Hand packte sie am Arm. Der Südländer schüttelte den Kopf. "Wir sollten uns anhören, was sie zu sagen hat."
Der Turm besaß drei weitere Stockwerke, die sie auf Vaicenyas Spuren rasch hinter sich ließen. Die Treppe führte bis zur Spitze des Turmes, einer achteckigen Plattform von ungefähr drei Metern Durchmesser, die von flachen Zinnen umgeben war. Dort stand die Dunkelelbin und ließ ihren Blick über das kleine Tal schweifen. Die tief stehende Sonne ließ ihre silberne Rüstung einen rötlichen Glanz annehmen. Auf sonderbare Art und Weise fühlte sich Córiel von diesem Anblick gleichzeitig berührt und angezogen. Doch dann wurde ihr klar, dass Vaicenya ihr Feind war, und sie wappnete sich für das, was nun kommen würde.
Die drei Gefährten traten nebeneinander an die Dunkelelbin heran, und warteten ab. Eine Minute des Schweigens verging, dann eine weitere. Córiel hielt noch immer den Dolch umklammert und war voller Anspannung. Was hatte Vaicenya bloß vor?
"Ich erinnere mich an den Augenblick, an dem die Sonne zum ersten Mal am Horizont emporstieg," sagte Vaicenya unerwartet. Langsam drehte sie sich zu ihnen herum, einen schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht. Córiel glaubte, Sehnsucht darin zu erkennen, vermischt mit Wehmut und... Entschlossenheit. "Sie ging im Westen auf, so wie sie jetzt dort untergeht. Es war ein beeindruckender Anblick. Alle Kreaturen der Finsternis erstarrten vor Furcht oder krochen zurück in die Löcher, aus denen sie gekommen waren." Sie machte eine weite Bewegung mit dem linken Arm, als wolle sie das ganze Tal damit einschließen. "So viele dieser Scheusale sind heute gefallen. Es ist... wunderbar." Ein heimtückisches Grinsen stahl sich auf ihr hübsches Gesicht, das alle anderen Emotionen beiseite wischte. "Besser hätte ich es nicht planen können."
"Wovon sprichst du denn da?" wunderte sich Jarbeorn. "Sind die Orks, die hier stationiert waren, nicht deine Verbündeten gewesen?"
Vaicenya spuckte aus. "Das waren sie nie. Sie sind nur ein Mittel zum Zweck. Der Anblick, wie sich diese verdorbene Rasse gegenseitig abschlachtete... oh, ich kann gar nicht genug davon bekommen. Keine Sorge, es wird mehr davon geben. Viel mehr. Bis kein einziger von ihnen mehr übrig ist."
"Und was ist mit der Streitmacht, die sich im Norden Eregions auf dem Hulsten-Kamm sammelt?" warf Córiel ungehalten ein.
"Hast du wirklich geglaubt, dieser Angriff wäre nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen?" lachte die Dunkelelbin. "Schon möglich, dass es diesen Orks dank der überraschenden Richtung, aus der sie angreifen, anfänglich gelingen wird, etwas Verwüstung zu verursachen. Aber am Ende werden sie alle unter den Klingen der Avari fallen. Jeder einzelne von ihnen."
"Also verrätst du Saruman," stellte Níthrar fest.
"Ich stand nie wirklich auf seiner Seite," entgegnete Vaicenya. "Er ist für mich nur ein Mittel zum Zweck."
"Zu welchem Zweck?" fragte Jarbeorn. "Die Welt von allen Orks zu befreien?"
"Du sagst es, Pelzwechsler. Diese verdorbene Brut ist für so viel Leid und Tod verantwortlich. Ich habe so viele Jahre in meiner Heimat gegen sie gekämpft, bis das Rote Gebirge endlich frei von ihnen war. Und als diese Aufgabe erfüllt war, ging ich nach Westen und trat in Sarumans Dienste. Der Krieg der Orks im Nebelgebirge ist mein Werk, und es ist von großem Erfolg gekrönt. Zwischen Carn Dûm, Gundabad und Moria sterben täglich hunderte von ihnen."
"Was hat das alles mit Dunland und Eregion zu tun?" warf Córiel ein. "Dort gibt es keine Orks. Weshalb wolltest du wirklich einen Krieg dort auslösen?"
"Dieser neue Wolfskönig ist ein friedensliebender Schwächling. Er würde niemals zulassen, dass die Krieger seines Volkes sich an einem Angriff auf die Minen beteiligen. Er muss durch jemanden ersetzt werden, der mehr Mut hat. Durch einen echten Eroberer. Jemand, der so geblendet von Ruhm ist, dass er ohne Rücksicht auf Verluste angreifen wird. Und ich denke, ich habe bereits einen vielversprechenden Kandidaten gefunden. Und was die Elben betrifft... Ihr Schicksal ist mir egal. Vielleicht kann man sie ebenfalls zu einem Vorstoß auf Moria bewegen, vielleicht nicht. Ihre Rolle in dem Ganzen beschränkt sich im Augenblick darauf, für die Absetzung des Dunländerkönigs zu sorgen."
"Du verstehst bestimmt, dass wir das nicht zulassen können," sagte Jarbeorn. "Mal ganz davon abgesehen, dass all diese Pläne ziemlich irrsinnig klingen."
"Ein einfacher Mensch wie du kann das nicht nachvollziehen," erwiderte Vaicenya kalt. Sie fixierte Córiel und ihr Blick wurde weicher, als sie fortfuhrt: "Doch du, Córyeldë, hast dein Leben lang gegen diese Brut gekämpft. Du hasst sie ebensosehr wie ich. Und du, Níthrar, solltest ebenfalls nur allzu gut verstehen, weshalb ich tue, was ich tue."
"Nein, Vaicenya. Ich verstehe schon lange nicht mehr, warum du tust, was du tust. Ich weiß nur, was aus dir geworden ist: eine Lügnerin und Verräterin."
Die Dunkelelbin schien diese Anschuldigung schwer zu treffen, denn ihre Selbstsicherheit verflog bei Níthrars Worten. Sie erhob anklagend den Finger, und ihre Worte waren von Schmerz durchsetzt, als sie rief: "Du bist es, der mich verraten hat. Du hast deiner Heimat und deinem Volk den Rücken gekehrt und bist vor deiner Verantwortung geflohen! Hast dich all die Jahre im Süden verkrochen und versucht, deine Fehler durch "gute Taten" auszugleichen. Oh, sieh mich nicht so an. Ich weiß ganz genau, wohin du gegangen bist und was du dort getan hast. Es war alles nur allzu vorhersehbar."
"Ich bereue es nicht, meinen eigenen Pfad beschritten zu haben," erwiderte Níthrar. "Doch darum geht es jetzt nicht. Wir haben zu genüge darüber gesprochen, als ich dein Gefangener war. Es geht um das Hier und Jetzt."
Córiel hatte langsam genug davon. Sie erhob ihren Dolch und ließ die Spitze auf Vaicenya zeigen. "Das reicht jetzt. Ergib dich, Vaicenya, und leiste keinen Widerstand. Dann werden wir vielleicht beim Rat der Freien Völker ein gutes Wort für dich einlegen können."
Die Augen der Dunkelelbin blitzten vor Wut und Enttäuschung auf. "Dummes, verblendetes Mädchen," zischte sie. "Du weißt gar nichts, Córyeldë. Ich werde mich niemals dem Urteil irgendeines Rates beugen. Ich tue, was getan werden muss, um diese Welt von den abscheulichen Kreaturen des Schattens zu befreien. Ich dachte törichterweise, du würdest dich mir anschließen."
"Mich dir anschließen? Nein, Vaicenya. Es ist, wie Níthrar gesagt hat. Du bist eine Lügnerin. Dreimal schon hast du mir die Gründe deines Handeln erklärt, und dreimal hast du vermutlich gelogen. Ergib dich und sage vor dem Rat aus. Erkläre ihnen deine wahren Beweggründe. Oder stirb."
Sie hatte eine weitere, zornige Antwort Vaicenyas erwartet, doch die Dunkelelbin stand nur regungslos da und suchte Córiels Blick. "Nein," wisperte sie nach einem langen Augenblick des Schweigens. "Ich bekomme, was ich will. Koste es, was es wolle." Blitzend fuhren ihre Schwerter aus den Scheiden, und sie ging wie ein Wirbelwind zum Angriff über.

Córiel riss den Dolch hoch, um Vaicenyas Hiebe zu parieren. Sie war deutlich im Nachteil, denn die Schwerter der Dunkelelbin besaßen eine größere Reichweite, und sie führte gleich zwei davon mit großer Geschwindkeit und Kraft. Doch Córiel war nicht allein. Níthrar hatte sein eigenes Schwert gezogen und bedrängte Vaicenya von der Seite, und Jarbeorn machte sich im Hintergrund bereit, mit seiner Großaxt auszuholen. Allerdings hielt sich Vaicenya immer nahe genug an Córiel, sodass der Beorninger nicht zuschlagen konnte, ohne Gefahr zu laufen, seine Verbündeten zu treffen. Jarbeorn fluchte und wechselte seine Position, jedoch ohne Erfolg. Auf der Turmspitze gab es einfach nicht genügend Platz. Während Córiel sich unter einem heftigen Hieb Vaicenyas hinweg duckte, ließ der Beorninger die Axt fallen und ballte die Hände zu Fäusten. Dann sprang er vorwärts und traf Vaicenya in den Rücken. Die Dunkelelbin taumelte vorwärts, verwandelte jedoch rasch ihren Sturz in eine Rolle und kam hinter Níthrar wieder auf die Beine. Zweimal blitzten die Elbenklingen auf, als dem Südländer das Schwert aus der Hand geschlagen wurde und er mit einem langen Schnitt am Oberarm zurückgestoßen wurde. Vaicenya wich einem weiteren Fausthieb Jarbeorns aus und stellte dem Beorninger ein Bein, sodass er stürzte. Dann wandte sie sich wieder Córiel zu. Ohne die Unterstützung ihrer Gefährten geriet die Hochelbin rasch in die Defensive. Sie wich zurück - und stieß gegen die flachen Zinnen, die die Turmspitze umgaben. Unter ihr lag der Wald, der im Tal wuchs.
Mit erschreckender Einfachheit schlug Vaicenya ihr den Dolch aus der Hand und ihre linke Klinge legte sich an Córiels Hals. Das zweite Schwert ließ sie fallen und die nun freie Hand strich über Córiels Wange.
"Ich muss das tun," hauchte Vaicenya. "Denn sonst tut es niemand. Versteh' das doch, melvendë." Sie machte eine Pause. Aus den Augenwinkeln sah Córiel, wie Jarbeorn und Níthrar mühsam wieder auf die Beine kamen. "Ich hoffe, du kannst mir verzeihen," fuhr Vaicenya traurig fort. Dann stieß sie Córiel über die Zinne hinweg in den Abgrund.

Sie hörte Jarbeorn ihren Namen rufen, als der Boden in hohem Tempo heranrauschte. Dann durchbrach sie das Geäst der oberen Baumkronen, sah einen breiten Ast auf sich zukommen, und dann - nichts mehr.
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Ein zerbrochener Speer
« Antwort #4 am: 17. Okt 2017, 11:59 »
Die Schwärze, die Córiel umgab, flackerte in einem rötlichen, unscharfen Licht auf. Gedämpfte, unverständliche Stimmen drangen an ihr Ohr. Sie konnte sich nicht bewegen und spürte ihren Körper nicht. Das Rot, das vor ihren Augen in der Dunkelheit wie eine schwache, sterbende Flamme flackerte, nahm an Intensivität ab und sandte dabei kleine, heiße Wellen des Schmerzes, der Córiels Inneres durchdrang, ihr jedoch kein Gespür für ihre Gliedmaßen gewährte. Eine Zeitspanne verging - sie konnte nicht sagen, wie lange. Dann kehrte das Rot zurück, heller als je zuvor. Stetig wuchs es an, bis es Córiels gesamtes Blickfeld ausfüllte. Die Schmerzen verschwanden und sie hatte das Gefühl, zu schweben. Das Rot wandelte sich in strahlend helles Weiß, das die Dunkelheit verbannte und Córiel blendete. Sie kniff die Augen zusammen und wartete ab, was nun geschehen würde. Eine weitere Zeitspanne verging, bis sie mit einem Mal eine Berührung an ihren Füßen registrierte. Und nach und nach kehrten Gespür und Kontrolle in ihre Gliedmaßen zurück. Ebenso wie die Schmerzen am gesamten Körper, doch Córiel nahm sie nur als ein entferntes Echo wahr. Ihre Füße waren kalt, denn sie stand barfuß auf glattem, steinernem Boden.
Córiel öffnete vorsichtig die Augen. Sie stand inmitten einer gewaltigen Halle, deren Wände aus reinem Silber zu bestehen schienen. Der Raum war unglaublich groß und weit, und weckte eine tiefe Ehrfurcht in Córiel. An den Rändern ihres Sichtfelds sah sie nur verschwommen, und hin und wieder waren für Sekundenbruchteile Dinge zu sehen, die, wenn sie sich konzentrierte und hinsah, gar nicht vorhanden waren. Ein helles Licht fiel hinter ihr in die Halle hinein, die sich am gegenüberliegenden Ende verdunkelte. Dort war ein erhöhter Sitz in den Schatten zu sehen. Córiel machte einen Schritt in die Richtung, wobei ihr auffiel, dass sie ein weißes Kleid trug. Ihre Waffen und Rüstung waren fort. Der kalte Boden ließ ihre nackten Füße bei jedem Schritt erschauern, als sie vorsichtig durch die Halle ging. Je weiter sie kam, desto mehr fiel ihr auf, dass sie nicht alleine war. Andere Gestalten tauchten auf, die ähnliche Kleidung wie sie selbst trugen, doch niemand schien Córiel wahrzunehmen. Bis sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
Die Elbin fuhr herum. Zwei hochgewachsene Elben standen vor ihr. Zwei Gesichter musterten sie. Gesichter, die sie seit vielen Jahrzehnten nicht gesehen hatte.
"Mintië," sagte Morëvanya vom Flügel. Córiels Mutter nahm die Hand von der Schulter ihrer Tochter und betrachtete sie mit einem liebevollen, von Traurigkeit durchsetzten Blick.
"Du bist also gefallen," sagte Russohtar Arheston, Córiels Vater, dessen strenger Gesichtsausdruck sie an die vielen, unbarmherzigen Lektionen erinnerte, die ihre frühe Jugend geprägt hatten. Russohtars Arme waren verschränkt und sein Blick zeugte von Enttäuschung und Missbilligung.
"Ich... ich habe mein Bestes gegeben," versuchte Córiel sich zu rechtfertigen.
"Ich hatte mehr von dir erwartet. Du bist die Letzte von Haus Arheston, und mit deinem Ende ist diese einst mächtige Linie nun vollständig aus Mittelerde verschwunden."
Die Anschuldigung traf Córiel unvorbereitet, und sie riss die Augen auf. Sie hatte keine Geschwister, und ihre Eltern hatten im Dritten Zeitalter ein ruhiges Leben an der stillen Küste Forlindons geführt, abseits vom Trubel Mithlonds. Hin und wieder hatte ihr Vater Córiel gefragt, ob sie inzwischen einen Mann gefunden hatte, doch erst jetzt erkannte Córiel den wahren Grund dahinter: Er hatte einen Erben gewollt - und nicht etwa seiner Tochter ein erfülltes Liebesleben gewünscht.
Ihr fiel etwas anderes ein. "Wenn ich hier bin, und ihr ebenfalls, bedeutet das etwa..."
Morëvanya brachte ihre Tochter mit einer Berührung zum Schweigen. "Darüber musst du dir jetzt keine Gedanken machen. Sieh auf deine Fehler, Kind. Du hast dich ablenken lassen. Der wahre Feind war die ganze Zeit in Mordor."
"Und anstatt ihn ohne Unterlass zu bekämpfen, wie wir es dich lehrten, hast du dich wieder und wieder dem Belanglosen zugewandt," ergänzte ihr Vater kalt.
Córiel wusste, wovon ihre Eltern sprachen. "Die See hat mir den Frieden gegeben, den mir Kampf und Krieg verweigert hatten," erklärte sie.
"Solange die Bedrohung durch Sauron besteht, wird es in Mittelerde niemals Frieden geben." Russohtar zog mit einem missbilligenden Blick einen Speer hervor - Córiels Speer. "Du hast deine Waffe verloren und Schande über dich und dein Haus gebracht." Mit einem grausamen Knacken zerbrach er den Speer über seinem Knie.
"Ich musste versuchen, Vaicenya aufzuhalten," stieß Córiel hervor. Ihr Inneres schien in Flammen zu stehen und das sanfte, weiße Licht in der Halle begann, sich wieder rötlich zu färben.
"Mintië... du bist auf ihre Tricks hereingefallen. Sie hat dich von dem einzigen Kampf abgelenkt, der zählt," sagte Morëvanya traurig.
"Du hast versagt." Russohtar versetzte Córiel eine Ohrfeige, die sie zurücktaumeln ließ. Das Rot vor ihren Augen nahm zu. Die Temperatur schien rapide anzusteißen. Eine weitere Ohrfeige folgte, und gleich darauf eine dritte. Córiel wurde zu Boden geschleudert und wand sich vor Schmerzen. Nicht nur ihre Wangen brannten vor Pein, ihr gesamter Körper fühlte sich nun zerschlagen und geschunden an. Ein Schatten wuchs vor ihr in die Höhe, und erneut traf sie ein schallender Schlag, der einen weißen Blitz vor ihren Augen auslöste.

Córiel riss die Augen auf und schrie, bis sich eine große Hand auf ihren Mund legte.
"Ich sagte, du sollst ihr einen sanften Klaps auf die Wange geben, nicht auf sie einprügeln wie ein Wilder," ertönte Níthrars Stimme. Córiels Sichtfeld wurde von Jarbeorns kräftiger Gestalt ausgefüllt, der sich über sie beugte und eine halb erschrockene, halb erleichterte Miene machte.
"Es hat funktioniert, oder nicht? Sie ist bei Bewusstsein."
"Das war sie schon nach der ersten Ohrfeige, Jarbeorn," sagte Níthrar, der nun von links in Sicht kam und Córiels Wangen mit einem feuchten, nach Kräutern duftenden Tuch abtupfte.
Sie versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein lautloses Hauchen hervor. Níthrar schob Jarbeorn sanft, aber bestimmt beiseite und hielt Córiel ein Fläschchen an die Lippen. "Trink," sagte er. "Es ist Tee. Er wird dich nicht heilen, aber dir Wärme schenken und deinen Durst löschen."
Nachdem die Hochelbin den Tee getrunken hatte, stand Níthrar auf und Córiel gelang es, den Kopf leicht anzuheben und sich umzusehen. Sie lag in einer Spalte zwischen zwei Felsen, die mit Moos und Blättern ausgelegt und weich gepolstert war. Der Großteil ihres Körpers war unter einer dünnen Decke verborgen. Als sie versuchte, Arme und Beine zu bewegen, antwortete ihr nur Schmerz.
"Ich kann mich nicht bewegen," flüsterte sie.
Níthrar nickte mit sorgenvollem Blick. "Dass du den Sturz von Vaicenyas Turm überlebt hast, ist ein Wunder. Doch das, was die Landung dir angetan hat, übersteigt meine Fertigkeiten. Ich bin kein Heiler."
"Wie seid ihr... entkommen?"
"Vaicenya hat dafür gesorgt, dass im Tal keine Orks mehr am Leben waren," antwortete Jarbeorn grimmig. "Wir haben sie nicht verfolgt, weil wir uns um dich gekümmert haben. Du hingst in der Krone eines der Bäume unterhalb der Festung. Ich fürchtete das Schlimmste, als ich dich dort fand, Stikke. Dennoch haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben, während wir dich verbunden und bis hierher getragen haben."
"Wo sind wir?"
"Drei Tagesreisen nordwestlich von Vaicenyas Turm," sagte Níthrar.
"Níthrar mag kein Heiler sein, und ich schon gar nicht, doch ich kenne einen, der diese Kunst wie kaum ein Anderer gemeistert hat. Halte durch, Stikke, bis wir dich zu ihm gebracht haben. Es ist nicht mehr weit."
"Elrond," stieß Córiel hervor. “Ist er wieder in... in Imladris?” An den Rändern ihres Sichtsfeldes dräute Schwärze. Die Schmerzen begannen, ihr zuzusetzen. Doch sie biss die Zähne zusammen und ließ keine Schmerzenslaute bis auf angestrengtes Atmen hören.
“Wir werden es sehen, wenn wir dort ankommen,” sagte Jarbeorn. “Ihn zu finden ist sowieso Teil unseres Auftrages.”

Sie schlief in den folgenden Tagen viel. Doch wenn sie wach war, haderte sie mit ihrem Schicksal und grübelte darüber nach, was sie nach ihrem Sturz gesehen hatte. Córiels Eltern lebten noch immer in Forlindon, soweit sie wusste. Wieso also waren sie ihr in jener geheimnisvollen Halle erschienen? Was war das für ein Ort gewesen, und weshalb war Córiel dort aufgewacht? War dies etwa eine Vision aus dem Alten Westen gewesen?
Die Schmerzen an ihrem gesamten Körper ließen nicht nach, wurden allerdings auch nicht stärker, während ihre Gefährten Córiel gemeinsam trugen und sich ihren Weg durch das Nebelgebirge suchten. Jarbeorn, der sich in dieser Gegend relativ gut auskannte, ging voran, getrieben von Sorge und Eile. Von Orks sahen sie kein Zeichen, doch am dritten Tag seit ihrem Aufbruch aus Vaicenyas Tal sahen sie einen der großen Adler, der ungewöhnlich niedrig flog. Der majestätische Vogel kreiste dreimal über ihnen, ehe er mit einem Schrei in westlicher Richtung verschwand.
Am folgenden Tag ließen sie das Gebirge hinter sich.


Córiel, Níthrar und Jarbeorn nach Imladris
« Letzte Änderung: 15. Nov 2017, 12:54 von Fine »
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Curanthor

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Ankunft im Gebirge
« Antwort #5 am: 18. Okt 2019, 19:00 »
Mathan aus Forna Ascira

Es dauerte einen Moment, bis Mathan sich orientiert hatte. Er befand sich auf einem flachen Plateau, das von einigen scharfkantigen Felsen dominiert wurde. Vor ihm türmten sich machtvoll die Nebelberge aus und zeichneten sich scharf gegen den Sternenhimmel ab. Der Sichelmond versteckte sich hinter einer einzelnen Wolke, woraufhin er tief einatmete. Sein Blick ging höher zu den Sternen. Seine vergangenen Reisen gingen ihm durch den Sinn. Dort hatte er auch oft in der Nacht auf dem Boden gesessen und in die Sterne geblickt. Der Anblick wurde nie ermüdend für ihn, doch mischte sich Wehmut dazu. Er vermisste sie. Jetzt, da er Gewissheit über seine Mutter hatte, war ein Kapitel seines Lebens abgeschlossen und der Sog zu seiner Geliebten kehrte mit Macht zurück. Etwas Feuchtes benetzte sein Gesicht. Mathan wischte sich langsam über die Wangen und schluckte mehrmals. Er schämte sich nicht. Niemals hätte er sie zu dieser Zeit alleine gelassen, doch war die Macht, die ihn zu seiner Mutter gerufen hatte zu stark, um ihr zu wiederstehen. Ohne die Macht des Nordens fühlte er sich frei. Kein nagendes Ungewissen mehr. Kein Zweifel, oder bangendes Hoffen mehr. Ihm war klar, dass er nicht alles über seine Eltern wusste, aber das war ihm nicht mehr wichtig. Er wollte zurück zu seiner Familie. Sein eigenes Leben leben und niemanden mehr hinterherjagen. Es war auch nicht mehr nötig

Mathan senkte wieder den Kopf und blickte nach Westen, dort wo alle auf ihn warten. Dort, wo sie auf ihn wartete. Vor ihm breitete sich ein unwegsames, bergiges Gelände aus. Den Fuß des Gebirges konnte er selbst mit seinen scharfen Elbenaugen nicht erkennen, also musste er weiter oben angekommen sein, als er gedacht hatte. Er untersuchte die nähere Umgebung und kam zu dem Schluss, dass er sich an den westlichen Hängen des Nebelgebirges befand. Das erkannte er an der Art der Mineralien - einige wurden auch für den Bau von Häusern abgebaut -, die Moosarten, die nur hier wuchsen und vor allem der unverkennbare Geruch, der aus dem Westen her zu ihm wehte. Der Geruch nach Heimat. Unwissentlich rümpfte er die Nase. Irgendwas lag jedoch in der Luft, das ihn beunruhigte. Sorgen schlichen sich in seine Gedanken, die zuvor melanchonisch um seine Heimat gekreist waren. Dann war da noch etwas Anderes. Jemand anderes.
Helcion.
Instinktiv wusste er, war dort in seinen Gedanken sprach. Die Stimme hatte sanft und freundlich gesprochen - aber auch mit einer Spur von Anerkennung.
Geehrte Erste, antwortete er respektvoll und wusste, dass sie ihn gehört hatte.
Die kalten Winde des Winters kündigten von deiner Ankunft, jetzt, da der erste Schnee niederging. Wie ich es gesehen habe. Wende dich nach Nordwesten, kein Schwert wird dich aufhalten. Dafür ist die Zeit noch nicht gekommen. Eile dich.
Dann war sie auch schon wieder fort. Mathan fasste sich kurz an die Stirn. Er wusste, dass einige Elben oft so kommunizierten, aber selbst hatte er es noch nie erfahren. Es war befremdlich, aber zu einem Teil hat es sich natürlich angefühlt. Irgendwo weit oben im Himmel krächzte ein Adler und holte Mathan wieder zurück in die Wirklichkeit. Er beschloss nicht über die Worte, die er eben vernommen hatte groß nachzudenken, sondern wandte sich entschlossen nach Nordwesten. Mit großen Schritten begann er die steinigen Hänge hinabzuschreiten.
« Letzte Änderung: 16. Feb 2021, 13:21 von Fine »

Curanthor

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Heimwärts auf beunruhigenden Spuren
« Antwort #6 am: 21. Jan 2021, 21:04 »
Mathan hatte nicht lange gebraucht, um sich zu orientieren. Viele der Berge kamen ihm vertraut vor und er wusste, dass er an den westlichen Hängen, ganz in der Nähe des Hulstenkamm war, wie ihn die Menschen nannten. Er blickte hinauf in die mittlerweile wolkenlose Nacht. Es war der vierte Tag, seitdem er wieder von seiner Mutter getrennt war. Rast hatte nicht gehalten. Seine Schritte trugen ihn unablässig die steinernen, mit Geröll bedeckten Hänge herab, bis er an den ersten Baumgruppen vorbkei kam. Es waren windgebäugte Tannen, die unter den starken Bergwinden nur verkrüppelt wuchsen. Ein Sinnbild der Elbenvölker, die unter den Schatten Mordors nur beschwerlich leben konnten, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als er dabei an Halarîn denken musste, und an das neue Leben, das sie unter ihrem Herzen trug. Gerade wollte er eilig weitergehen, als ihn der Anblick der Tannen noch einmal verharren ließ. Sein mulmiges Gefühl, dass ihn seit seiner Ankunft begleitete, verstärkte sich. Er kniff die Augen zusammen. Bei einigen Tannen fehlte der Schnee auf den Zweigen. Eine Hand wanderte langsam zu einem Schwertgriff. Die Kälte des Stahls biss ihm ungewohnt heftig ins nackte Fleisch. Verwundert zuckte er zurück. Prüfend blickte er auf die Silmacil, doch die Zwillingsschwerter wirkten unverändert. Ihm dämmerte es, dass er durch die Ablehnung seines Erbes diese Waffe wohl für's Erste nicht führen konnte. Er seufzte. Mathan war sich dennoch sicher, dass es sie richtige Entscheidung war. Große Macht war ihm nicht wichtig, er empfand es als Belastung und ihm stand nicht der Sinn danach, jedes Mal, wenn er die Augen schloss mögliche Horrorszenarien zu erblicken. 

Er erinnerte sich, dass er seinen Schwertstab Maltahal bei seiner Mutter gelassen hatte, als Andenken und Versprechen, dass sie sich wiedersehen würden. Noch einmal fasste er prüfend an die eiskalten Griffe seiner Schwerter. Im Notfall könnte er sie führen, was aber wohl nicht nötig sein würde, wenn er den Worten der Ersten glauben schenkte. Und das tat er.

"Wende dich nach Nordwesten, kein Schwert wird dich aufhalten", wiederholte er murmelnd und trat unter größter Vorsicht an die Tannen heran. Der geröllbedeckte Boden war schneefrei, wie zuvor auch, doch irritierte ihn der Schnee auf den Zweigen. Und der Geruch... Mathan wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, doch seinen Instinkt konnte er nicht täuschen. Hier waren welche vor ihm gewesen. Und nicht gerade wenige. Er musste keine Spuren lesen, um zu wissen wer es war, der Gestank war seit Jahren allgegenwärtig in Mittelerde.

Eilig richtete er sich auf und wandte sich in die empfohlene Richtung. Während er flink den Hang hinabsteuerte suchte er die Umgebung ab. Seine scharfen Elbenaugen erkannten dichte Wälder an den Ausläufern der westlichen Hängen. Angestrengt suchte Mathan in der Finsternis, bis er einen einzelnen Lichtpunkt entdeckte und somit ein Ziel, dass er vor Anbruch des Morgengrauens erreichen konnte. Er vermutete, dass dort jemand auf einer Lichtung ein Feuer entzündet hatte. Ziemlich leichtfertig, wie er fand. Wenn es gerade keine Orks waren, konnte er in Erfahrung bringen, was sich in der Zeit seiner kurzen Abwesenheit getan hatte. Das mulmige Gefühl in seiner Magengrube wurde jedoch immer stärker, je näher er seiner Heimat kam.

Mathan nach Eregion
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