Valion, Verdandi, Rinheryn, Lóminîth, Balvorn und Berion aus der Umgebung LinhirsLinhir erinnerte Valion an die wenigen Stunden, die er in Minas Tirith verbracht hatte, bevor die Schlacht auf den Pelennor-Feldern ausgebrochen war. Eine bedrückte, angespannte Stimmung lag über der Stadt. Soldaten waren nahezu allgegenwärtig. Jene Stadtbewohner, die sich gegen eine Evakuierung nach Dol Amroth entschlossen hatten, verließen nur selten ihre Häuser und mieden zum Großteil den Kontakt mit der Garnisonsstreitmacht. Das Flussufer war zu jeder Tageszeit scharf bewacht; sogar eines der Kriegsschiffe war in ständiger Alarmbereitschaft im Hafen unterwegs. Es kam Valion so vor, als würden alle Menschen in Linhir geradezu darauf warten, dass ein weiterer Angriff der Horden Mordors erfolgte.
In der Residenz des Stadtherren angekommen stiegen die gondorischen Kommandanten aus ihren Sätteln und fanden sich in ihren Unterkünften ein. Der Gebäudekomplex, der zum Großteil aus einem alten gondorischen Herrenhaus mit einigen kleineren Nebengebäuden bestand, hatte in Friedenszeiten wohl einen gut gepflegten und beeindruckenden Anblick geboten. Doch nun waren die Gärten mit in den Boden gerammten Holzpfählen gesäumt und Kriegsbanner hingen von den schmutzigen Mauern. Es hatte zu regnen begonnen, nachdem die Sonne untergegangen war und die Soldaten, die die Residenz bewachten, fluchten leise vor sich hin. Der Regen war kalt, als würde der Himmel eimerweise Eiswasser auf Linhir herabschütten. Valion fragte sich, wieviel Grad kälter es wohl werden müssten, um die Regentropfen in Schneeflocken zu verwandeln.
Der Solar des Stadtherren war ein einziges Durcheinander von Berichten, Schriftrollen und Büchern, die sich auf einem gewaltigen Schreibtisch stapelten. Trotz der späten Stunde waren noch immer viele Bedienste unterwegs - zumeist waren es junge, unerfahrene Rekruten, die die Botengänge erledigten. Valion entging nicht, wie sich ihre Blicke auf ihn richteten. Man hatte in Linhir bereits gehört, wen der Fürst von Dol Amroth zum neuen Kommandanten der Ostgrenze ernannt hatte, und Valions Ruf war ihm vorausgeeilt. So war er nicht überrascht, in den Blicken der jungen Soldaten Hoffnung zu erkennen. Hoffnung, dass sich ihr Schicksal in diesem Krieg nun endlich wenden würde.
Valion selbst besaß diese Hoffnung nicht. Er hatte gesehen, welche Macht im Osten lauerte. Dennoch war er nicht bereit, einfach aufzugeben. Mordors Heere waren gewaltig, doch selbst die Orks des Schwarzen Landes waren nicht ohne Zahl. Viele tausende von ihnen hatte der Dunkle Herrscher bereits in den vier Jahren des Krieges mit dem Westen geopfert, und wenn die Berichte aus Rohan wahr waren, war Mordors Streitmacht derzeit an mehr Fronten als nur an den Ostgrenzen Rohans und Gondors verteilt. Späher berichteten, dass Sauron ein Heer gen Dol Guldur entsandt hatte, um jene Festung den Klauen der Weißen Hand Sarumans zu entreißen, und dass die Orks Mordors nun auch in Richtung Harad marschierten, um in den dort wütenden Bürgerkrieg einzugreifen. Und auch die geheimnisvolle Abwesenheit der Ostlinge in den Heeren der Bundgenossen Mordors ließ die Kriegslage etwas besser aussehen. Weshalb das Reich von Gortharia Sauron seit der Schlacht um Dol Guldur keine Truppen mehr zur Verfügung gestellt hatte, war allerdings nur eines der vielen Rätsel, die sich den Kommandanten der Freien Völker in jenen Tagen stellten.
Die Berichte von der eigenen Front am Gilrain waren nicht besonders gut, wie Valion fand. Überall mangelte es an Truppen und Versorgungsgütern. Und immer wieder gab es an den unterschiedlichsten Stellen entlang der Grenze kleinere Gefechte mit den Orks des Ostufers. Der Krieg war seit Hilgorns Fall nie mehr wirklich zur Ruhe gekommen.
Valion blieb an jenem Abend noch lange wach, um sich einen genauen Überblick zu beschaffen. Rinheryn stand ihm dabei zur Seite, während Lóminîth sich schon früh zurückzog. Valions Verlobte hatte das große Schlafgemach des Stadtherren in Beschlag genommen und ließ es von Bediensteten bewachen, die nur ihr selbst loyal waren.
"Wer bewacht den Flussübergang im Norden?" fragte er, die Hand gegen die Stirn gestützt. Das flackernde Licht mehrerer Kerzen erhellte den Schreibtisch nur notdürftig.
"Die Männer vom Ringló-Tal, angeführt vom Sohn ihres Fürsten, Herrn Dervorin," sagte Rinheryn. "Unterstützt werden sie vom Orden der Delferyn."
"Sieh an," murmelte Valion. Die Delferyn waren ein Orden von Kriegern, der einst ins Leben gerufen worden war, um gegen einen Ork-Befall im Weißen Gebirge vorzugehen. Die Krieger des Ordens verstanden sich besonders gut auf Kriegsführung im Gebirge und zählten zu den hartgesottensten Kämpfern Gondors. Ihr Hauptquartiert befand sich in der Stadt Ethring im Tal des Ringló, weshalb sie stets gute Beziehungen zu dem dort ansässigen Lehnsfürsten gepflegt hatten. "Dann brauchen wir uns um die Furten wohl vorerst keine Sorgen zu machen," meinte Valion.
"Dort wurde General Hilgorn zuletzt gesehen," wandte Duinhirs Tochter ein. "Wir dürfen nicht zulassen, dass der Feind den Flussübergang erneut für einen Angriff gebraucht."
"Dann werde ich eine Gruppe von Freiwilligen zur Unterstützung der Delferyn zu entsenden," beschloss Valion. Er gähnte. Den Großteil der Berichte hatte er inzwischen begutachtet, doch noch war seine Arbeit nicht abgeschlossen.
"Du solltest dir etwas Schlaf gönnen," sagte Rinheryn und legte ihm die Hand auf die Schulter. Die Berührung fühlte sich merkwürdig an, wie Valion fand. "Für heute ist die Lage unter Kontrolle," fuhr Rinya fort.
Etwas unwillig entzog er sich ihrem Griff und murmelte: "Nein, noch nicht. Da sind noch mehr Berichte, die ich mir ansehen muss. Das kann nicht bis morgen warten."
"Überlass sie mir," schlug Rinheryn vor und umrundete den Schreibtisch, um nach dem unbearbeiteten Stapel zu greifen.
"Nicht dich hat Imrahil zum Verantwortlichen bestimmt," hielt Valion sie auf. "Diese Bürde ist
mir auferlegt worden."
Rinheryn sah ihn an. Ihre rötlichen Haare wirkten im Licht der Kerzen, als stünden sie in Flammen. "Lass mich dir helfen, sie zu tragen," bat sie leise.
"Wieso?" fragte er in derselben Lautstärke. Schwere Tropfen schlugen gegen das Fenster und füllten die Stille mit immerwährendem Trommeln. Der Sitz schien ihm mit einem Mal zu eng zu werden. Er wollte aufspringen und im Raum auf und ab gehen, doch etwas hielt ihn davon ab.
Duinhirs Tochter zögerte. Sie starrte auf die Oberfläche des Tisches und mehrere lange Sekunden vergingen. Dann hörte Valion, wie sie tief seufzte. "Du verstehst es nicht," stieß sie hervor. "Aber das ist in Ordnung." Sie richtete sich auf und blickte an Valion vorbei durch das Fenster auf die schlafende Stadt hinaus, wo die Lichter von fackeltragenden Soldaten zu sehen waren, die trotz des Regens Wacht hielten. Doch dann wandte sie sich ab und eilte aus dem Solar.
Valion blieb mit dem Gefühl zurück, dass er aus dem Verhalten von Frauen wohl niemals wirklich schlau werden würde.
Am folgenden Morgen erwachte er davon, dass es an der Tür des Schlafgemaches pochte. Es war ein zögerliches Klopfen, doch es war genug, um Valions Schlaf zu stören. Er blickte zur Tür hinüber und erschrak, als er eine ihm unbekannte junge Frau erblickte, die mit einem gezogenen Dolch nahe der Tür stand und ihre Hand langsam in Richtung des Türgriffes ausstreckte.
"Idríchil, es ist gut," sagte Lóminîths Stimme neben Valion. Seine Verlobte, die Sekunden zuvor noch gewirkt hatte, als würde sie fest schlafen, saß nun aufrecht und vollständig wach im Bett, während Valion sich noch den Schlaf aus den Augen rieb. Auf das Wort ihrer Herrin senkte die junge Frau den Dolch und trat von der Tür fort.
"Mein Herr Valion?" erklang eine dumpfe, vorsichtige Stimme von jenseits der Tür. "H-Hauptmann Balvorn schickt mich, um Euch zu w-"
"Ich komme ja schon," brummte Valion und zog sich hastig an. Um seine volle Rüstung anzulegen war nicht genug Zeit, weshalb er mit einem ledernden Wappenrock mit dem Siegel des Ethirs auf der Brust vorlieb nahm. Während er noch Lóminîths Dienerin misstrauisch beäugte, gürtete er sich sein Schwert um und öffnete dann die Tür. Ein junger Soldat stand davor, welcher hastig zurückwich als Valion hindurchtrat und sie hinter sich schloss.
"Was gibt es?"
"Hauptmann Balvorn schickt nach Euch, Herr. I-Ihr habt einen Besucher in Eurem Solar," brachte der Rekrut mühsam hervor. Valion war sich einigermaßen sicher, dass der Junge vor wenigen Wochen noch Felder in Anfalas oder den Pinnath Gelin bestellt hatte, seiner Aussprache und seinem Aussehen nach. Er beschloss, darüber hinwegzusehen.
"Also gut, gehen wir es an," sagte Valion und streckte sich, um die Müdigkeit aus seinen Gliedern zu vertreiben. Dem Stand des Lichtes nach, der durch ein Fenster zu sehen war, konnte seit Sonnenaufgang kaum eine Stunde vergangen sein. "Vielen Dank, Soldat. Zurück auf deinen Posten mit dir." Mit einem dankbaren Nicken eilte der Rekrut davon.
Im Solar angekommen wurde Valion von Hauptmann Balvorn begrüßt, der aussah, als hätte er ebenso wenig Schlaf wie Valion selbst gefunden hätte. "Gut, Ihr seid wach," sagte Balvorn. "Es gibt da eine gewisse Situation, welche Eurer sofortigen Aufmerksamkeit bedarf."
"Worum geht es?" wollte Valion noch fragen, als aus dem Nebenraum eine tiefe, zornige und
lautstarke Stimme ertönte.
"
Wo ist er? Wo ist der verwöhnte Bursche, den Imrahil uns als Ersatz geschickt hat?"
Ein Mann kam in den Solar marschiert, die Hände zu Fäusten geballt. Er besaß einen beeindruckenden schwarzen Bart, doch abgesehen davon sah er Hilgorn sehr ähnlich.
"Wo ist der Kerl, der meinen älteren Bruder ermordet hat und der nun versucht, meinen jüngeren Bruder zu ersetzen?" wütete der Mann, bei dem es sich offensichtlich um Aldar Thoron, den Kommandant der Flotte Linhirs handeln musste - Hilgorns verbliebenen Bruder.
Valion musste zugeben, dass Kapitän Aldar nicht gut aussah. Seine Augen und Wangen waren eingefallen und seine Haut war bleich, als hätte er seit Tagen kein Sonnenlicht mehr gesehen. Die Augen waren rot unterlaufen und die Hände waren von Schrammen und Schürfwunden übersät. Ehe Aldar Valion erreicht hatte, stellte sich Balvorn ihm in den Weg.
"Ruhig Blut, Aldar. Niemand hier versucht, Hilgorn zu ersetzen," sagte der Hauptmann.
"Ich bin hier auf Imrahils Anordnung, nicht aus freien Stücken," fügte Valion hinzu.
Aldar schon Balvorn grob beiseite und baute sich vor Valion auf. "Ich wette du hast es genossen," sagte er leise und verbittert. "Als du Imradon getötet hast. Nicht wahr?"
"Ich weiß nicht, was man dir erzählt hat," erwiderte Valion. "Doch wenn ich nichts unternommen hätte, wäre Hilgorn in jener Schlacht gefallen."
"Was macht das jetzt schon für einen Unterschied? Er ist tot."
"Das wissen wir nicht," hielt Valion dagegen und gab Balvorn ein Zeichen, sich nicht einzumischen. Er kannte die Meinung des Hauptmanns zum Thema
Hilgorn bereits. "Er könnte ebensogut in Gefangenschaft geraten sein."
"Wenn die Gerüchte stimmen, die man sich über den feindlichen Kommandanten erzählt, wäre es besser, wenn er tot wäre," zischte Aldar. "Was hast du nun also vor, Valion vom Ethir? Willst du den Helden spielen? Ist es das, worum es dir geht? Den Ruhm meines Bruders, der diese Stadt rumhreich verteidigte, zu stehlen?"
"Es geht hierbei nicht um Ruhm, sondern um Sühne," sagte Valion grimmig. "Der Fürst hat mich hierher nicht zur Belohung entsandt. Dieses Amt ist meine
Strafe."
"Imrahil muss wohl den Verstand verloren haben, wenn dies seine Art von Bestrafung geworden ist," brummte Aldar.
"Es herrscht Krieg, und wir sind Soldaten Gondors," stellte Valion klar. "Unser beider Befehl lautet, die Grenze um jeden Preis zu verteidigen. Und auch wenn diese ganze verdammte Situation nicht meinem Wunsch entspricht, habe ich vor, meine Aufgabe zu erfüllen. Und wenn Hilgorn noch lebt, dann werde ich alles daran setzen, ihn zu finden und wohlbehalten zu uns zurückzubringen."
Aldar starrte ihn an. Seine blutunterlaufenen Augen blinzelten nicht ein einziges Mal. "Schwöre es," wisperte er. "Schwöre es, dass du ihn nach Hause bringen wirst."
Valion zögerte. Er wusste nicht, wie Aldar auf eine Weigerung reagieren würde. Doch den Verlust eines weiteren Kommandanten konnte Gondor sich nicht leisten. Also nickte er. "Ich schwöre es bei dem Weißen Baum, der für das Südliche Königreich steht," sagte Valion leise.
Der Kapitän atmete tief durch. "Gut. Gut. Ja, das ist sehr gut. Dann besteht vielleicht doch noch Hoffnung."
"Mein Herr..." begann Balvorn, doch Valion brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen.
"Hoffnung gibt es immer," sagte er, noch während er sich über seine eigenen Worte wunderte. Eine seltsame Entschlossenheit war mit einem Mal über ihn gekommen. Er glaubte an sein eigenes Versprechen: Er würde alles daran setzen, Hilgorn zu finden. Sofern dieser noch am Leben war...
"Meine Herren," sagte Valion nach einer kurzen Pause. "Wir haben viel zu tun. Also schlage ich vor, wir gehen es an."
Wie aufs Stichwort kam Rinheryn in den Solar geeilt, einen neuen Bericht in der Hand.
Valion, Verdandi und Rinheryn zu den Verteidigungsanlagen