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Hörbuch-Variante
Weihnachtsgeschichte IV
Warum habt ihr nichts getan?
Mit aller Kraft zog und rüttelte er an dem kleinen Busch. Nach großen Mühen schaffte er es letztlich doch das Gewächs aus dem Erdboden zu ziehen. Diese Pflanze, was immer sie auch war, würde ihnen heute Nacht ein wenig Licht spenden. Er machte sich mit seiner Beute in der Hand auf die Suche nach seinem Enkel. Unterwegs kam er an den Überresten zerfallener Häuser und Bergen von Müll und Unrat vorbei. In der Hoffnung nicht von einer der zahlreichen Straßenbanden überfallen und seines Schatzes beraubt zu werden, schlich er geduckt und leise zwischen den Trümmern hindurch. Hinter dem Dunst und Rauch am Himmel erblickte er das schwaches Glimmen der Sonne. Ihr Untergehen kündigte den Abend an und er sollte sich beeilen, bevor er nichts mehr sehen konnte.
Vor den Gitterstäben einer eine Villa umgebenden Mauer fand er ihn schließlich. Johann kauerte, mehrere Lumpen wie eine Decke um sich geschlungen, auf einem Betonbrocken und starrte seinen Großvater mit großen Augen an.
„Großvater! Ich dachte schon dir wäre etwas zugestoßen“, jammerte er vorwurfsvoll.
„Sieh nur, was ich uns mitgebracht habe“, antwortete dieser beschwichtigend und hielt die Pflanze hoch. „Die wird uns heute die Nacht erhellen.“ Er setze sich dem Jungen gegenüber auf einen großen Stein und holte ein Feuerzeug, seinen wertvollsten Besitz, aus der Jackentasche. Kurz darauf brannte der Busch und er legte ihn zwischen sie beide auf den Boden. Der flackernde Lichtschein der Flammen beleuchtete ihre Gesichter in der dunkler werdenden Nacht.
„Weißt du, was heute für ein Tag ist?“, fragte er den Jungen.
„Weihnachten, ich habe die Ehrwürdigen darüber reden hören, während ich auf dich gewartet habe“, antwortete er. „Ich weiß aber nicht, was das ist“, fügte er hinzu. Der alte Mann wandte den Blick auf die von Gitterstäben halb verdeckte Villa. Zwischen der hohen Mauer und dem protzigen Gebäude lag eine große Wiese und vor der Villa stand ein beleuchteter Springbrunnen, aus dem in endlosen Strömen Wasser hervorquoll. Dort lebten diese
Ehrwürdigen von denen der Junge gesprochen hatte. Die wenigen wohlhabenden Menschen die es noch gab, bewohnten festungsgleiche, große, von der Außenwelt abgeschirmte, Bauwerke. Sie nannten sich selbst die Ehrwürdigen und machten, wenn ihnen das Fleisch ausging, mit Gewehren Jagd auf einfache Menschen aus der umliegenden Umgebung um ihre Speisekammern zu füllen. Angewidert von dem Gedanken wandte er den Blick von der Behausung ab und sah in das fragende Gesicht des Jungen.
„Weihnachten ist ein Fest, das wir früher, als ich noch jung war und noch keiner an dich dachte, gefeiert haben. Meistens lag Schnee und es gab für alle Kinder Geschenke.“
„Was ist denn Schnee?“, fragte Johann.
„Entschuldige, ich vergesse immer wieder, dass du all diese Dinge nie kennen gelernt hast. Schnee ist wie Regen, nur weiß und in Pulverform. Damit konnten wir als Kinder spielen und Dinge bauen. Zumindest bis er, als es dann wieder wärmer wurde, geschmolzen ist.“
„Und warum gibt es heute keinen Schnee mehr?“
„Weil es im Winter nicht mehr so kalt wird wie damals. Stell dir das kälteste kalt vor, das du kennst und stell es dir dann doppelt so kalt vor. So kalt war der Winter für uns.“
„Aber warum ist es denn nicht mehr so kalt?“
„Wegen der Klimaerwärmung, so nannten wir es zumindest. Die Menschen haben die Erde mehr und mehr ausgebeutet: Haben alle Wälder abgeholzt, die Luft und die Meere verschmutzt. Daher wurde die Erde wärmer und wärmer. Der Nordpol, ein Land komplett Eis, ist geschmolzen und der Meeresspielgel stieg immer weiter an. So wurde die Welt zu dem, was sie heute ist und deshalb gibt es keinen Schnee mehr.“
„Habt ihr nicht gewusst, was passieren würde?“
„Doch, das haben wir. Es war allgemein bekannt, wie die Welt enden würde, wenn wir so weitermachen, wie bisher.“
„Wenn ihr es wusstet, warum habt ihr nichts dagegen unternommen?“
„Die einen, darunter auch ich, glaubten wir konnten nichts mehr tun. Die anderen meinten es würde schon irgendwie gut gehen.“
„Und beide sind es Einstellungen, die es euch ermöglicht haben so weiterzumachen wie bisher … konntet ihr wirklich nichts mehr tun?“
„Doch, das hätten wir gekonnt.“
„Was hat euch daran gehindert? Wie kann man in so einer Situation nichts tun?“
„Die Herrschenden waren unsere Vorbilder. Und sie taten nichts. Um die Welt zu retten wären große Veränderungen nötig gewesen. Doch alle die in der Lage waren die notwendigen Entscheidungen dafür zu treffen, hatten Angst ihre Macht dabei zu verlieren und taten daher nichts oder verschlimmerten es sogar noch.“
„Aber ihr wart doch viel mehr als die. Bestimmt hundert mal so viele! Ihr hättet selber etwas unternehmen müssen.“
„Ja, da hast du recht. Aber wir behielten unseren Glauben in das System und die Obrigkeit bei und vertrauten darauf, sie würden in unserem Sinne handeln. Ein fataler Fehler, wie ich jetzt einsehe.“
„Gab es niemanden, der es anders sah und versuchte etwas dagegen zu tun?“
„Doch, davon gab es einige. Manche wurden, wenn sie eine weltrettende Entdeckung machten, die etwa das Energieproblem löste, kurzerhand verschleppt und waren nie mehr gesehen. Die meisten jedoch verließ mehr und mehr der Mut, da die breite Masse den Herrschenden glaubte und daher alle Andersdenkenden verspottete. Sie bezeichneten sie als realitätsferne Spinner. Es waren jedoch letztlich eben jene Spinner, die am wenigsten in einer Traumwelt lebten.“
„Wer waren denn diese Herrschenden?“
„Zum einen waren das sogenannte Regierungen. Vom Volk ausgewählte Personengruppen, denen man die Verantwortung über ein ganzes Land anvertraute. Ein unglaublich kompliziertes und undurchsichtiges System, das die meisten davon abschreckte sich dort hineinzuwagen. Zum anderen waren es reiche Leute und Unternehmen. Sie beeinflussten die Regierung wo sie nur konnten und bestimmten auch über alles was der normale Mensch, zum Beispiel im Fernsehen, zu sehen bekam und was nicht. Und dabei war natürlich ihr Hauptziel ihre Macht und ihren Reichtum nicht zu verlieren, oder sogar noch zu vergrößern. Sie lenkten uns ab von den wirklichen Problemen in der Welt und richteten unsere Aufmerksamkeit auf alles, nur nicht auf das was ihnen gefährlich werden konnte.“
„Hatten die denn keine Angst um ihre eigene Zukunft?“, fragte Johann.
„Kaum, sie hatten vorgesorgt. Im voraus trafen sie Vorkehrungen, aber nur für sich selbst. Bauten unterirdische Bunker, mit nahezu allem versorgte Festungen. Es gibt sie heute noch, du kennst sie als … „
„ … die Ehrwürdigen!“, stieß Johann hervor.
„Ganz genau. Ihr Plan ist aufgegangen. Sie sind weiterhin die mächtigsten der Welt, einer zerstörten Welt.“
„Sie sind also Schuld daran, dass ich niemals Schnee sehen werde!“ Johann sprang auf und trat mit dem Fuß gegen die Mauer.
„Da hast du nicht ganz unrecht. Doch sie als Sündenbock für alles was geschehen ist, darzustellen, wäre falsch.“ Johann warf ihm einen fragenden Blick zu. „Auch mich, auch jeden anderen, der nur ausgeharrt hat, trifft die Schuld. Wir haben ebenso nichts getan und euch, den späteren Generationen eine solche Welt hinterlassen. Es tut mir leid, mein Junge, dass es so gekommen ist. Ich wünschte, meine Sicht auf die Dinge wäre damals ebenso klar gewesen, wie jetzt.Wer weiß, vielleicht hätte ich etwas tun können, hätte mit nur genug Willenskraft etwas in Gang bringen können, wodurch alles anders gekommen wäre“, sprach er. Das Feuer flackerte ein letztes Mal und erstarb.