Oronêl, Kerry, Eryniel mit dem Rest des Heeres aus EsgarothDie Straße, die von der Seestadt am Ufer des Langen Sees nach Norden führte, war schmal, grasbewachsen und von Karrenspuren zerfurcht. Sie führte etwas erhöht am Hang entlang, oberhalb des von Weiden, Erlen und Birken, deren Blätter im Nachtwind leise wisperten, bestandenen Seeufers. Auch wenn Oronêl es lieber so hatte, er ging lieber auf federndem Gras und Erde als auf hartem Stein, wunderte er sich doch. Nach dem was er gehört hatte, waren vor dem Krieg die Kontakte zwischen Esgaroth, Thal und dem Erebor eng gewesen, und so hätte er eine deutlich mehr ausgebaute Straße nach Art der Menschen und Zwerge erwartet. Als er Finelleth danach fragte, erklärte sie ihm, dass Waren zwischen Thal und Seestadt vom oberen Einfluss des Langen Sees an meistens mit Booten auf dem Wasser den See und später den Celduin hinab transportiert wurden. Nördlich des Sees, wo der Celduin als ein schmaler, rascher Fluss vom Erebor hinab kam, war der Transport mit Booten unmöglich, und dort hatten die Menschen von Thal mit Hilfe der Zwerge vom Erebor eine steinerne Straße angelegt.
Die Nacht war kühl und klar, und der Halbkreis des Mondes versank langsam wieder hinter dem Horizont. Die Elben und Menschen in Sarumans Heer marschierten inzwischen an der Spitze des Zuges - auf Sarumans Anweisung hin, was Oronêl nur wenig behagte. Offensichtlich war es dem Zauberer wichtiger, seine Orks vor einem unvorhergesehenen Zusammenstoß mit dem Feind zu schützen als seine Verbündeten. Dennoch hatte Oronêl nicht protestiert oder versucht, Thranduil dazu zu bewegen, denn er marschierte lieber vorn, wo der Weg noch nicht von den Orks beschmutzt worden war. Außerdem kam der ein leichter Wind von Norden, und wehte Gestank und Geräusche der Orks nach Süden fort.
Als der Mond hinter den Hügeln im Norden, die sich um den Einsamen Berg und das Tal von Thal erstreckten, versunken war und nur noch die Sterne die Nacht erleuchteten, näherte das Heer sich dem nördlichen Ende des Sees. Eigentlich hatten die Hauptleute und Saruman damit gerechnet, dass der kleine Hafen, der an der Einmündung des Celduin lag, von Feinden besetzt sein würde, doch nichts regte sich in der Nacht. Späher in Thranduils Diensten schwärmten aus, um die Gegend nach Feinden abzusuchen, und Oronêl schloss sich ihnen an. Je weniger er in unmittelbarer Nähe von Sarumans Heer sein musste, desto besser.
Die rothaarige Elbe Eryniel war es, die auf der Kuppe eines Hügels westlich der Straße, in einem kleinen Kiefernwäldchen versteckt, einen Wachtposten von Orks aufspürte. Die wenigen Wächter leisteten nur schwachen Widerstand, und nachdem der letzte von Saurons Orks auf der Flucht mit Eryniels Pfeil im Rücken gefallen war, wischte Oronêl mit einer Art grimmiger Genugtuung das schwarze Orkblut von Hatholdôrs Klinge. Das hier war es, was er tun sollte - Orks töten, und zwar nicht an der Seite von anderen Orks, sondern an der Seite von Elben, von Menschen, und wenn es dazu kommen sollte, sogar von Zwergen. Von anderen Hügeln drangen schwach weitere Kampfgeräusche zu ihm hinüber, als weitere Orkposten von den Dúnedain und Elben vernichtet wurden. "Seine Orks sind Saruman wohl zu schade für solche Kämpfe", bemerkte Eryniel ironisch, obwohl ein Hauch Bitterkeit in der Stimme der jungen Elbe mitklang. Oronêl warf ihr einen Seitenblick zu, sagte aber nichts. Noch war die Zeit nicht gekommen, um sich offen gegen Saruman zu stellen.
Nachdem die Wachtposten oberhalb des Sees beseitigt waren, setzte das Heer seinen Weg nach Norden fort, allerdings nur für ein kleines Stück. Sie folgten der nun breiten und mit hellen Steinen gepflasterten Straße nach Norden, die sich westlich des Flusses durch die Hügel zum Erebor wand. Weiter unten im Tal rauschte der rasche Fluss Celduin in seinem Bett dahin, die Ufer wie die des Langen Sees von Birken und Erlen, und einigen kleinen Tannen bestanden. Hier und da rief ein Nachtvogel, doch die meiste Zeit waren die einzigen Geräusche, die Oronêl hören konnte, die Geräusche des marschierenden Heeres. Die Elben waren gar nicht zu hören, und die Schritte der Dúnedain nur gerade so. Lauter waren die Hufe der wenigen Pferde, und noch lauter die stampfenden Schritte der Orks hinter ihnen, und das metallische Klirren ihrer Rüstungen und Waffen. Sie marschierten nur etwa eine Stunde weiter nach Norden, und hielten an, als sich der Himmel im Osten beinahe unmerklich zu röten begann.
Während das Lager aufgeschlagen wurde, betrachtete Oronêl interessiert die Gegend. Er war nie zu vor so weit in den Nordosten Mittelerdes vorgedrungen, erst recht nicht hierher, wo beinahe ausschließlich Menschen und Zwerge gelebt hatten. Die Hügel um sie herum waren seit einiger Zeit nicht länger bewaldet, oder nur noch sehr spärlich. Kiefern wuchsen hier und da an den Hängen und in den kleinen Senken, doch die meiste Fläche wurde von langem Gras oder Heidekraut bedeckt.
"Die Gegend hat sich verändert, seit ich zum letzten Mal hier war", meinte Finelleth, die neben ihm stand. "Es ist viel... grüner geworden."
"Du bist schon einmal hier gewesen?", fragte Oronêl, und wandte sich ihr zu. "Wann?" "Das ist jetzt... etwas über sechzig Jahre her", erzählte Finelleth. "Als wir in die Schlacht der fünf Heere marschiert sind." Oronêl nickte. Er hätte es sich denken können, schließlich hatte Finelleth ihm auf der Reise nach Osten von dieser Schlacht erzählt, und von dem Drachen Smaug. "Damals waren diese Lande noch als Smaugs Einöde bekannt, und machten ihrem Namen alle Ehre", fuhr Finelleth fort. "Die Straße war überwuchert und verfallen und von Bäumen gab es nur verkohlte Stümpfe. Doch seit Bard der Bogenschütze Smaug getötet hat, wachsen hier wieder Dinge."
"Die Asche macht den Boden fruchtbar...", sagte Oronêl leise, und dachte dabei an Lórien. Vielleicht würde eines Tages aus der Asche des Goldenen Waldes auch etwas neues erwachsen... vielleicht. Eines Tages. Finelleth seufzte. "Nun, mein Vater wird mich sehen wollen. So frostig unser Willkommen auch gewesen sein mag, inzwischen scheint er sich in den Kopf gesetzt zu haben, mich erneut zu einer Prinzessin machen zu wollen..." "Oder eher zu einer Königin", murmelte Oronêl, doch auf Finelleths fragenden Blick hin schüttelte er den Kopf. "Nichts. Geh nur, Faerwen."
Nachdem Finelleth gegangen war, wanderte Oronêl ein wenig ziellos durch das verblühte Heidekraut den niedrigen Hang oberhalb der Straße entlang. Der Himmel im Osten wurde langsam immer heller, und die Sterne verschwanden einer nach dem anderen. Etwas blitze zwischen der Heide vor Oronêls Füßen auf, und erregte seine Aufmerksamkeit. Vor ihm steckte ein hässliches, gezacktes Messer in der Erde. Noch während Oronêl sich bückte um die Waffe aufzuheben, drang ihm der charakteristische Gestank von Orks in die Nase, und er hörte ihren zischenden Atem und schwere, im Heidekraut raschelnde Schritte hinter sich. Das Messer in der Hand richtete er sich wieder auf und wandte sich um, wo er sich vier bewaffneten Orks mit dem Zeichen der Weißen Hand gegenübersah, die ihn aus hasserfüllten Augen anstarrten.
"Elbling hat mein Messer gestohlen", zischte der in der Mitte wütend, und seine schwarzen Augen fixierten die gezackte Klinge habgierig. "Hab es verloren, und gieriger Elbling hat es gestohlen." Oronêl erwiderte nichts. Er beobachtete aufmerksam, wie die Hände der Orks auf den Griffen ihrer Waffen lagen, und wie ihre Blicke zwischen seinem Gesicht und seinen Händen hin und her huschten. Er hatte keinen Zweifel, dass der Anführer das Messer keineswegs "verloren", sondern mit Absicht dort im Heidekraut liegen gelassen hatte. Vorsichtig schob er den rechten Fuß ein wenig zurück, verlagerte das Gewicht, um im Notfall sofort zurückspringen zu können. "Gieriger Elbling", zischte der Ork in der Mitte erneut. "Hat kein eigenes Messer?" Seine Hand, mit schwarzen, gesplitterten und verwachsenen Fingernägeln, tastete nach dem Griff seines Schwertes - einer gebogenen, bösartig aussehenden Waffe. "Gibt es zurück, oder wird sterben." Wäre die Situation nicht so gefährlich - seine Axt hatte Oronêl im Lager der Elben zurückgelassen und trug nur seinen Dolch am Gürtel - hätte Oronêl gelacht. Die Sprechweise dieses Orks ließ eigentlich nicht darauf schließen, dass er besonders viel Verstand besaß, und dennoch spielte er hier ein solches Theater. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Irgendetwas sagte ihm, dass etwas Finsteres in diesem Moment seinen Anfang nahm - etwas, das mit dem Tod enden würde.
"Du kannst dein Messer meinetwegen zurückhaben, Kreatur", erwiderte Oronêl verächtlich, und die Gesichter der Orks verzogen sich hässlich. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, seine Verachtung so offen zu zeigen, denn plötzlich zogen die Orks ihre Waffen. "Dieb wird bezahlen!", stieß der Anführer hervor, und einer seiner Gefährten machte einen Satz auf Oronêl zu.
Oronêl trat weich einen Schritt zurück, entging so der zustoßenden Klinge. Während er herumwirbelte, das Orkmesser in der Hand, fühlte er eine Hand nach seiner linken Schulter greifen und schlug zu. Der Ork, der nach ihm gegriffen hatte, heulte auf und taumelte zurück - drei seiner Finger fehlten, und schwarzes Blut quoll im Pulsrhythmus aus den Stümpfen hervor. "Wirst sterben, Elbling!", zischte der Anführer der Orks, und Oronêl fürchtete, dass seine Zuversicht gerechtfertigt sein könnte. Wäre er voll bewaffnet, hätte er es mit den vieren vermutlich aufnehmen können, doch so, nur mit diesem lächerlichen Orkmesser und seinem Dolch, wurden seine Schnelligkeit und Geschick von der vielfach höheren Reichweite der Orks aufgewogen. Er wechselte das Orkmesser in die Linke, und zog mit der rechten Hand seinen eigenen Dolch. Er verzichtete auf eine Erwiderung, und erwartete einfach den Angriff - der nicht kam. "Genug", befahl hinter ihm eine samtweiche Stimme, eine Stimme, der man gehorchen musste - gehorchen
wollte. Oronêl hatte diese Stimme bereits gehört, in Lórien und in Aldburg. Er warf den Orks das Messer vor die Füße, und wandte sich zu Saruman um. Das Gewand des Zauberers, dass im Tageslicht in hellem Weiß leuchtete, schimmerte im Dämmerlicht in vielen verschiedenen Farben. In der Hand trug Saruman einen langen, weißen Stab, und er wirkte wie ein gütiger König, der seine irrgeleiteten Untertanen versöhnen würde - oder wie ein Vater, der seine Kinder beim Streiten erwischte.
Oronêl schüttelte die Ehrfurcht und den Wunsch, zu dienen, die ihn überkommen hatten, mit Mühe ab. Dies war Saruman, der für den Untergang Lóriens verantwortlich war, und der über die ganze Welt herrschen wollte. Ein Wesen, das nicht besser war als Sauron selbst - jedenfalls nicht viel. "Was geht hier vor sich, Mogrâsh?", fragte Saruman den Anführer der Orks, der sich vor ihm auf den Boden geworfen hatte. "Elbling hatte Messer gestohlen. Elbling wollte uns töten. Ist seine Schuld!", wimmerte der Mogrâsh, und Saruman zog eine Augenbraue, schwarz mit silbernen Strähnen darin, in die Höhe. "Das glaube ich nicht. Nimm dein Messer, Mogrâsh, und verschwinde."
Nur einen Herzschlag später war Oronêl mit dem Zauberer allein auf der Anhöhe. "Ihr erwartet nicht, dass ich euch danke, oder?", fragte Oronêl kühl, und Saruman lachte - ein überraschend warmes und freundliches Lachen, das Oronêl auf der Stelle misstrauisch stimmte. Er wusste, das nichts von Sarumans Freundlichkeit echt war und nur dazu diente, ihn dazu zu bringen, dem Zauberer zu dienen. "Mein lieber Elbenfreund, ihr du bist sehr nachtragend. Wäre ich eben so nachtragend, hätte ich mit Freude zugeschaut, wie Mogrâsh und seine Jungs dich in Stücke gehackt haben. Immerhin hast du mir westlich des Nebelgebirges einiges an Ungemach bereitet - du hast den Ring vernichtet, den ich in meine Gewalt bringen wollte, ohne dich hätte ich die Lage in Dunland vermutlich noch immer unter Kontrolle, und wer weiß, vielleicht wäre sogar dieser lächerliche Sternenbund in Fornost unterlegen. Und zu guter letzt hast du auch noch den treuen Laedor in Carn Dûm erledigt - wahrlich du hast mir eine Menge Ärger gemacht. Und trotzdem stehe ich hier, und rette dein Leben." Für einen Augenblick fühlte Oronêl sich wie ein kleines Kind, das trotzig dem Vater ein kleines Vergehen nicht verzeihen will, während dieser ihm gütig alles vergibt. Er schüttelte den Kopf und holte tief Luft, und das Gefühl verschwand. Er sah Saruman ins Gesicht, und erkannte den Zorn in den schwarzen Augen des Zauberers. Nein, Saruman hatte ihm keineswegs großmütig verziehen, was er in Eriador getan hatte, im Gegenteil.
"Was willst du, Saruman?", fragte Oronêl, und zwang sich, ruhig zu sprechen. "Wenn du dich für deine Niederlagen in Eriador rächen willst, dann töte mich - ich bin mir sicher, es würde dir keine Schwierigkeiten bereiten. Doch du weißt, wer der wahre Feind ist. Vielleicht ist in dir noch ein bisschen Wissen um den Auftrag, mit dem du nach Mittelerde kamst, geblieben. Ich werde gegen Sauron kämpfen, genau wie du. Vielleicht erkennt ein Teil von dir, wer der wahre Feind ist - es sind nicht die Elben, deren Missachtung für dich du dir lediglich einbildest, genauso wenig wie die Menschen des Westens. Es ist die Macht, die in Mordor lauert."
Oronêl wandte sich ab, Saruman den Rücken zu. Als er sich nach einiger Zeit wieder umwandte, war er allein.