Es kam ihm vor, als säße er schon Monate oder sogar Jahre hier unten fest.
Aber wie ließ sich die Zeit hier schon genau messen, in der Dunkelheit unter der Erde, wo weder Tag noch Nacht existierten? Vermutlich war er bei weitem nicht so lange hier, wie es sich anfühlte, die Langeweile und das stetige Nichtstun ließen es für ihn lediglich wie eine halbe Ewigkeit erscheinen. Aldoc war müde. Er war dieses Kerkers müde, dieses langen Wartens, und der Stille, die nur gelegentlich von Amrothos' Gemurmel oder den immer gleichen Gesprächen mit Gamling unterbrochen wurde. Er wollte unbedingt weg hier. Aber wie sollte er das anstellen? Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung.
Dennoch reifte nach und nach ein Entschluss in ihm. Oder eher ein Wunsch. Nicht hier zu sterben, in diesem stickigen Kerker, abgeschnitten von Heimat und Freunden. Ihm war bewusst, dass diese Gedanken vergeblich waren, dass sie nur dazu dienten, die Verzweiflung in seinem Herzen zum Schweigen zu bringen, aber lieber träumte er von der Freiheit, als dem Wahnsinn zu verfallen wie Amrothos oder die Gefangenschaft und den baldigen Tod als gegeben hinzunehmen wie Gamling.
Ja, es mochte vielleicht vergebens sein, aber nun, da er sich dazu entschlossen hatte, nicht einfach klein beizugeben, fing er an, sich auf seine Flucht, so unwahrscheinlich diese auch sein mochte, vorzubereiten. Er konnte nicht mehr tun als ein paar grundlegende Übungen, um seinen Körper einigermaßen bei Kräften zu halten, für alles weitere fehlten ihm hier sowohl die Mittel als auch der Platz, aber es war immerhin besser als nichts. Und es gab ihm wenigstens etwas zu tun. Ein guter Weg, ein wenig Zeit totzuschlagen. Vielleicht sogar der beste Weg.
Dann, einige Zeit nach dem Beginn seiner Übungen, bot sich eine unerwartete Gelegenheit.
Wie so oft kam einer der Wärter, ein großer Mann mit rötlichem Bart, zu den wenigen besetzten Zellen, um den Gefangenen das wenige an Nahrung zu bringen, das ihnen hier zugestanden wurde. Doch dieses Mal brachte er nur zwei Portionen – eine für Amrothos, eine für Gamling. Als er jedoch zu Aldocs Zelle kam, entriegelte er erstaunlicherweise die Zellentür.
"Du kommst mit mir, kleiner Mann", sagte der Hüne. "Jemand mit großen Einfluss will dich in Tharbad sehen."
"Tharbad?" Aldoc kramte in seinem geographischen Gedächtnis. Tharbad war eine alte Stadt an der Mündung des Glanduin in den Mitheithel. Aber... es lag nicht in Dunland. Warum sollte er gerade dorthin gebracht werden? Nun, vielleicht hatte das ja irgendetwas mit Saruman zu tun. Tharbad befand sich in dem von ihm kontrollierten Gebiet, oder? Zumindest war das noch so gewesen, bevor Aldoc von den Dunländern gefangen genommen worden war. Seither konnte einiges geschehen sein.
Der Dunländer packte ihn und zerrte ihn grob aus der Zelle, ehe er ihn vor sich her durch den Gang stieß. Aldoc warf Gamling einen letzten Blick zu, der die ganze Szene wortlos beobachtete, und sah dann auch noch einmal zu Amrothos hinüber, der jedoch nicht einmal zu bemerken schien, dass der Hobbit weggebracht wurde.
Am Ende des Ganges gelangten sie in eine kleine Wachstube, die von einigen Fackeln in eisernen Halterungen an den Wänden erhellt wurde und in deren Mitte ein runder, etwas morsch wirkender Tisch stand, auf welchem einige hölzerne Würfel verstreut lagen. Von anderen Wächtern fehlte seltsamerweise jedoch jede Spur.
An der gegenüber liegenden Seite des Raumes gab es einen schmalen Durchgang zu einer Wendeltreppe, über welche man vermutlich über die Erde und aus dem Kerker hinaus gelangte. Aldoc musste gestehen, dass er es kaum erwarten konnte, wieder frische Luft zu atmen und die Sonne zu sehen. Oder den Mond, je nachdem, welche Tageszeit gerade war. Dennoch konnte er auch nicht umhin, eine große Truhe in einer Ecke der Wachstube zu bemerken, an welcher ein ihm nur allzu gut bekanntes Schwert lehnte: sein eigenes, welches ihm einst seine elbischen Freunde in Mithlond geschenkt hatten. Dann befand sich in der Truhe vielleicht auch der Rest seiner Besitztümer? Hatte das Schwert einfach nicht mehr hineingepasst?
"Komm", grunzte der Dunländer ihn an und zerrte ihn in Richtung Treppe. Aldoc brachte das wenige an Gegenwehr auf, zu dem er noch imstande war. Der Hüne hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihm die Hände zu binden. Und vermutlich war das auch gar nicht notwendig, denn der Hobbit befand sich nach dem langen Kerkeraufenthalt nicht gerade in einer guten Verfassung. Dennoch wollte er sich nicht so einfach geschlagen geben.
Nur ein paar Schritte, und ich wäre beim Schwert. Aldocs Augen suchten den Wärter schnell nach Waffen ab, doch bis auf einen hölzernen Knüppel und einen rostigen Dolch schien der Dunländer unbewaffnet zu sein. Unbewaffnet und unaufmerksam. Er achtete kaum auf Aldoc, während er ihn zur Wendeltreppe stieß. Vermutlich glaubte er, sich vor einem Hobbit nicht fürchten zu müssen. Wenn es jemals eine Gelegenheit gab, der Gefangenschaft zu entfliehen, dann war sie jetzt gekommen.
Es war riskant, aber er durfte nicht zögern.
Er musste alles auf eine Karte setzen.
Jetzt oder nie!
Bevor ihn der Dunländer ein weiteres Mal in Richtung der Treppe stoßen konnte, drehte Aldoc sich schlagartig um und verpasste ihm einen Kopfstoß in den lediglich durch ein schlichtes Hemd geschützten Bauch. Als sich der von dem plötzlichen Angriff vollkommen verdutzte Hüne schmerzerfüllt zusammenkrümmte, riss Aldoc den rostigen Dolch aus der Scheide an dessen Gürtel und stieß ihn seinem Gegner in den rechten Oberschenkel. Die Klinge war nicht sonderlich scharf, aber sie drang dennoch weit genug ins Fleisch ein, um den Dunländer ins Taumeln zu bringen, woraufhin es dem Hobbit gelang, ihn durch einen Rempler mit der rechten Schulter zu Fall zu bringen.
Im nächsten Moment drehte sich Aldoc so schnell wie möglich zur Truhe in der Ecke des Raumes um, rannte auf diese zu und griff nach seinem Schwert, noch ehe er richtig dort angehalten hatte. Sein Herz raste, sein Atem kam in angestrengten Stößen, und doch fühlte er sich nun, da sich seine Finger um das Heft der elbischen Waffe schlossen, sicherer als seit Wochen.
Als er sich wieder zu dem Gefängniswärter umdrehte, sah er, dass dieser sich bereits wieder erhoben hatte und nun humpelnd und in einer ihm unbekannten Sprache knurrend auf ihn zukam.
Das ist nicht gut. Aldoc mochte sein Schwert zurückerlangt haben, aber das bedeutete nicht, dass er es deshalb mit einem ausgewachsenen, kräftigen Menschen aufnehmen konnte. Zumal die Zeit im Kerker unweigerlich ihren Tribut gefordert hatte. Das einzig Positive an dieser Situation war, dass auch der Dunländer ein wenig eingeschränkt wurde, durch die Wunde, die Aldoc ihm zugefügt hatte.
Er musste schnell handeln, wenn er hier heil herauskommen wollte. Der Dunländer schien in ihm noch immer keine wirkliche Bedrohung zu sehen, trotz des Schwertes. Das musste Aldoc ausnutzen. Er setzte langsam einen Fuß vor den anderen, wobei er sich nach außen hin wesentlich unsicherer gab, als er sich fühlte, obwohl er auch nicht gerade behaupten konnte, dass sein Herz vor Zuversicht überquoll.
Sein bärtiger Gegner, der den hölzernen Knüppel lässig in der einen und den blutigen Dolch in der anderen Hand hielt, lächelte siegessicher... und wurde ein weiteres mal vollkommen überrascht, als Aldoc plötzlich nach dem glücklicherweise recht kleinen und daher leichten Tisch griff und ruckartig an diesem zerrte, sodass er zur Seite hin umkippte. Der Dunländer hielt verdutzt inne und griff reflexartig nach dem Tisch, um ihn zur Seite zu schieben, wobei er den Hobbit für einige wenige Augenblicke aus den Augen ließ.
Das war sein letzter Fehler.
Als sich der Wärter nach vorne beugte, schnellte der junge Tuk schlagartig nach vorne und stach ihm das Schwert präzise in die Kehle. Die Augen des Hünen weiteten sich in fassungslosem Erstaunen, ehe er mit einem gurgelnden Geräusch zusammenbrach. Aldoc, der nun mit Blutspritzern überzogen war, sank nur wenige Momente später selbst erschöpft keuchend zu Boden. Er hatte es geschafft. Er hatte den Wärter besiegt. Aber noch wagte er nicht, sich zu entspannen und aufzuatmen. Seine Flucht hatte gerade erst begonnen.
Hastig nahm der Hobbit den Schlüsselbund vom Gürtel des Toten, an dem insgesamt fünf Schlüssel hingen. Einer davon musste für die Zellen sein, ein anderer für die Truhe, aber er hatte keine Ahnung, wofür die restlichen waren. Ohne weitere Zeit zu verlieren probierte er die Schlüssel nacheinander bei der großen Truhe aus, sie schließlich beim vierten mit einem vernehmlichen Klicken aufsprang.
Darin fanden sich verschiedene Kleidungsstücke, Rüstungsteile und Waffen, vermutlich alles Dinge, die einst den Gefangenen gehört hatten. Es wunderte ihn zwar ein wenig, warum sie das einfach alles dort weggeschlossen hatten, aber er wollte sich nicht beschweren. Nun erkannte er auch, das seine vorherige Vermutung tatsächlich stimmte: Die Truhe war so voll, dass das Schwert nicht mehr hineingepasst hatte, deshalb war es nur an die Truhe gelehnt worden. Diesem glücklichen Umstand verdankte er nun seine Freiheit... falls er jetzt schon von Freiheit sprechen konnte.
Wie auch immer, nach einigem Herumkramen in der Truhe fand er seinen Bogen und seinen halb gefüllten Köcher, außerdem den Wargzahn, den Bilbo ihm einst geschenkt hatte, sowie den grauen Reisemantel, den er seit Jahren auf seinen Wanderschaften trug. Und, was für einen Hobbit wie ihn natürlich am wichtigsten war, seine Pfeife, wenn auch ohne Kraut. Er genoss das Rauchen nicht so sehr wie viele andere seines Volkes, aber das hieß nicht, dass er nicht an seiner Pfeife hing.
Solcherart ausgerüstet fühlte er sich gleich wieder ein wenig stärker. Er warf noch einen Blick in die Truhe, wo sich nun nur noch Gegenstände befanden, die für ihn zu groß waren, ehe er den Deckel wieder zuklappte und einen Schritt in Richtung der Zellen setzte. Wenn er nun schon so weit gekommen war, konnte er auch noch Gamling und Amrothos zur Freiheit verhelfen. So viel schuldete er seinen beiden Mitgefangenen.
Er begab sich als erstes zu Gamlings Zelle. Lächelnd sah er den Rohir durch die Gitterstäbe hindurch an. "Steh auf, alter Mann, wir hauen ab. Raus aus diesem stickigen Kerker."
Überrascht rappelte Gamling sich auf, einen leisen Hoffnungsschimmer in den Augen. "Wie hast du...?"
"Mit einer gewissen Portion Mut, ein wenig Entschlossenheit und Geschwindigkeit, und vor allem mit Köpfchen", antwortete der Hobbit und probierte den ersten Schlüssel aus. Er passte nicht.
Der Rohir versuchte indes, den Gang hinunter zu blicken. "Lebt der Wärter noch?"
"Seine Kehle hat Bekanntschaft mit meinem Schwert geschlossen, aber ansonsten sollte es ihm gut gehen." Der zweite und der dritte Schlüssel erwiesen sich ebenfalls als unbrauchbar. Der vierte war der Truhenschlüssel, blieb also nur noch der fünfte.
Doch auch dieser passte nicht.
"Aber... wie ist das möglich?", murmelte Aldoc verdutzt und versuchte es zur Sicherheit doch noch mit dem Truhenschlüssel. Erfolglos. "Er hat doch auch meine Zelle aufgesperrt. Einer von denen muss passen!"
"Hörst du das, Aldoc?", sagte Gamling auf einmal. Der Tuk spitzte die Ohren und vernahm tatsächlich einige ferne Stimmen, die von der Treppe bei der Wachstube kommen mussten. Verdammt! Vermutlich hatten ein paar andere Dunländer darauf gewartet, dass der Wärter Aldoc nach oben brachte, und wunderten sich nun, wo er blieb.
"Er muss irgendwo noch einen weiteren Schlüssel haben." Der Hobbit nickte dem Menschen zu. "Ich bin gleich wieder da."
"Warte!" Gamling streckte eine Hand zwischen zwei Gitterstäben hindurch und ergriff Aldocs rechten Oberarm. "Mach dir nicht die Mühe, nach einem Schlüssel zu suchen, Junge! Ich bin nur ein verbrauchter, gebrochener Krieger, dessen beste Tage in weiter Vergangenheit liegen, und der dort drüben ist ein psychisches Wrack. Rette lieber dich selbst. Kümmere dich nicht um solche wie uns."
"Aber..."
"Kein aber, Aldoc Tuk! Du gehst jetzt! Und überlebst! Tu mir diesen Gefallen, Junge, und bringe dich in Sicherheit, solange du noch die Möglichkeit dazu hast."
Damit ließ der Mann aus Rohan ihn los und gab ihm abschließend einen kleinen Stoß in Richtung Ausgang. Widerwillig setzte sich Aldoc in Bewegung. Nachdem er wieder in der Wachstube angelangt war, hörte er, dass die Stimmen nun schon wesentlich näher gekommen waren, und bemerkte, dass er bei der Treppe bereits einige Schatten mit menschlichen Umrissen erkennen konnte. Hier stand er wie auf dem Präsentierteller. Was sollte er tun?
Die Gedanken rasten in seinem Kopf, indes sein Herz aus der Brust zu springen drohte. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so angespannt gefühlt zu haben, außer vielleicht an jenem Tag, als er gegen die Warge gekämpft hatte, nicht lange vor seiner Gefangennahme durch die Dunländer. Er brauchte einen Plan, oder einfach nur irgendeine Idee, aber was konnte er schon gegen diese Menschen tun, die jeden Moment den Raum betreten würden? Den einen Wärter hatte er durch den Überraschungsmoment und mit einer gehörigen Portion Glück zur Strecke gebracht, aber noch einmal würde ihm das nicht gelingen.
Wie konnte ein Hobbit in einer solchen Situation triumphieren? Im direkten Kampf wäre er definitiv unterlegen. Worin übertraf ein Halbling einen Langen? Darin, leise zu sein und zu schleichen. Und im Pfeife rauchen. Wie konnte er diese Vorteile gegen die Dunländer nutzen? Spontan kam ihm nur eine einzige Idee, aber das war besser als nichts.
So schnell er konnte löschte Aldoc die Fackeln an den Wänden, sodass es in der Wachstube vollkommen dunkel wurde und er kaum noch die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Dann wartete er – angespannt bis zum Äußersten – auf die Ankunft der Dunländer, die sich zunächst über die Finsternis verwirrt zeigten, kurz darauf aber die Fackeln wieder anzündeten.
Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich Aldoc bereits im Schutz der Dunkelheit hinter ihrem Rücken aus dem Raum geschlichen.
Aldoc nach Dunland