Aus der Sicht Haleths:
Erelieva!
Der Name hallte in Haleths Gedanken nach, als sie sich durch die belebten Gassen Brees schlängelte, unterwegs zum Versteck ihrer Verbündeten nahe des Nordtores. Sie hatte die Schritte der Frau beschattet, als Erelieva die Stadt verlassen und zu den Grabhügeln gegangen war, doch als Haleth festgestellt hatte, dass Elea tatsächlich die Urne Hildamars besuchte, hatte sie es nicht länger ausgehalten und ihre Gegenwart enthüllt. Das Gespräch war kurz, aber intensiv gewesen, und Haleth hatte dabei zwei Dinge festgestellt: Erelieva schien von Lügnern umgeben zu sein, die die Wahrheit verdrehten, und zweitens schien der gute Ruf, den die Frau in Bree hatte, nicht grundlos entstanden zu sein.
Vielleicht haben wir uns in ihr getäuscht, dachte Haleth. Vielleicht hat sie wirklich ein gutes Herz - im Gegensatz zu ihrem Sohn.
Sie erreichte das Versteck des Sternenbundes. Erst vor fünf Tagen waren sieben Dúnedain aus Fornost hierher gekommen. Unter dem Befehl Avarons, der rechten Hand Belens, hatten sie Bree infiltriert und ihr Lager im Keller einer verlassenen Taverne nahe des nördlichen Tores von Bree aufgeschlagen. Haleth erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich hier einst mit Kerry verborgen hatte, als sie vor der Belagerung von Fornost die Lage in Bree ausgekundschaftet hatten.
Die Waldläuferin trat an die mit Brettern wie zugenagelt aussehende Eingangstür und pochte siebenmal dagegen. Ein Vogelruf erklang aus dem Inneren, den sie auf dieselbe Art beantwortete. Ihren grünen Umhang hatte sie dabei eng um Kopf und Schultern geschlungen, denn obwohl es bereits dunkel geworden war, fürchtete sie, entdeckt zu werden. Die Wachen in Bree waren seit ihrem letzten Besuch vervielfacht worden.
Die Tür öffnete sich, und eine starke Hand packte Haleth und zog sie ins Innere. Am Geruch erkannte sie Rilmir und gestattete sich eine kurze, aber zärtliche Umarmung mit ihm. Ihre linke Hand, an der sein Ring mit dem Blütenmuster steckte, pulsierte dabei voller Aufregung. Doch sie zwang sich, ihre Gedanken auf das Hier und Jetzt zu richten.
„Komm,“ raunte Rilmir ihr zu. „Die anderen warten schon auf dich.“ Er eilte voran, die Treppe hinab in den mit steinernen Mauern versehenen Keller der Taverne. Fackeln erhellten das Dunkel des großen Vorratsraumes, den die beiden betraten. Fünf Gesichter wandten sich ihnen zu.
„Haleth,“ sagte Avaron mit einem zufriedenen Nicken. „Was hast du zu berichten?“
„Ich traf Erelieva an den Grabhügeln. Sie kam, um Hildamars Urne zu sehen, wie mir scheint.“
„Du hast dich ihr offenbart?“
„Ich konnte nicht anders, aber ich verhüllte mein Gesicht und nannte ihr nicht meinen richtigen Namen. Ich habe ihr erzählt, was die Schergen Sarumans mit dem Jungen gemacht haben.“
„Wie hat sie darauf reagiert?“ wollte Avaron sofort wissen.
„Sie schien geschockt zu sein und wollte mir erst nicht glauben,“ antwortete Haleth. „Ich hatte das Gefühl, dass man sie über die Untaten ihrer Landsleute größtenteils im Dunkeln lässt. Wenn sie mehr von der Wahrheit erfahren würde... ich glaube, ihre Loyalität ist fragwürdig. Ihre Liebe zu ihrem Sohn steht außer Frage, wie zu erwarten war. Aber seine Entscheidungen verachtet sie, wie es mir scheint.“
„Hm,“ machte Avaron nachdenklich. „Vielleicht bietet sich uns hier eine Gelegenheit, über seine Mutter an Helluin heranzukommen.“
„Das Risiko ist zu groß,“ warf einer der anderen Dúnedain ein. „Dadurch könnte unsere Präsenz hier in der Stadt aufgedeckt werden.“
„Was denkst du, Haleth?“ fragte Avaron. „Glaubst du, Elea würde dich verraten, wenn du ihr vom Sternenbund erzählen würde?“
„Ich bin mir nicht sicher,“ antwortete die Waldläuferin. „Sie ist beliebt beim einfachen Volk. Vielleicht könnte uns das zum Vorteil gereichen. Aber wenn sie gefoltert werden würde, so wie es mit Hildamar geschah...“ Sie wollte den Gedanken lieber nicht zu Ende denken, ganz gleich, was sie von Elea hielt.
„Die Gelegenheit ist zu gut um sie auszulassen,“ meinte Rilmir. „Wenn jemand Helluin zur Vernunft bringen kann, dann doch am ehesten seine Mutter, will ich meinen.“
Haleth nickte. Das war ein gutes Argument, wie sie fand. Doch noch immer gab es zwei Dúnedain, die gegen den Vorschlag sprachen. Schließlich ließ Avaron abstimmen und die Mehrheit stimmte dafür, weiteren Kontakt mit Erelieva aufzunehmen, was erneut Haleth als Aufgabe aufgetragen wurde. Avaron beendete das Treffen und sandte die Dúnedain zurück auf ihre jeweiligen Posten.
In dem kleinen, engen Gebäude bot sich kaum genug Platz für Privatsphäre und Zweisamkeit, weshalb Rilmir und Haleth sich in eine Ecke im oberen Raum zurückzogen und im Flüsterton miteinander sprachen. Nebeneinander sitzend genossen sie die Gegenwart des Anderen.
„Denkst du, Erelieva wird uns helfen wollen?“ fragte Rilmir.
„Ich würde es mir wünschen,“ antwortete Haleth wahrheitsgemäß. „Wenn es ihr wirklich gelingen sollte, ihren Sohn von seinem falschen Weg abzubringen, stehen die Chancen gut, dass unser Traum wahr wird.“
„Die Einheit unserer Familie. Unseres Volkes,“ flüsterte Rilmir.
„Ja,“ hauchte Haleth. „Ich will den Tag erleben, an dem die Dúnedain wieder unter einem Banner vereint sein werden. Und wenn Elea dabei die Schlüsselrolle einnimmt, werde ich dafür sorgen, dass es ihr gelingt. Ich werde bald mit ihr sprechen.“
„Mögest auch du Erfolg haben,“ sagte Rilmir behutsam. „Doch ich frage mich, was dann mit dem Sternenbund geschehen wird. Belen wird seine Führungsrolle wohl kaum abgeben wollen.“
„Nein, und sicherlich nicht an Helluin, selbst wenn dieser zur Vernunft gekommen sein sollte,“ meinte Haleth. „Die Frage nach dem Anführer unseres Volkes wird sich unweigerlich stellen, wenn unser Vorhaben gelingt.“ Sie seufzte tief. „Ich wünschte, Aragorn wäre hier. Er besäße die notwendige Autorität, um die Spaltung der Dúnedain auf der Stelle zu beenden.“
„Aragorn ist fort, Haleth.“ Rilmirs Stimme hatte einen melancholischen Klang angenommen. Jener Klang, in den Haleth sich einst verliebt hatte. „Er ist in den Schatten unerreichbar für uns.“
„Vielleicht nicht für immer. Noch besteht Hoffnung,“ antwortete Haleth.
„Du hast Recht. Wir dürfen niemals aufhören, zu hoffen.“
Bis der Stern der Dúnedain wieder an seinem rechtmäßigen Platz aufleuchtet und Licht in die Finsternis bringt, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Schlaf ein wenig, meine Liebe,“ sagte Rilmir kurz darauf. „Ich übernehme die erste Wache.“
Haleth gähnte und machte es sich, so gut es ging bequem. Das Leben in der Wildnis hatte sie abgehärtet, weshalb sie beinahe überall schlafen konnte, doch gegen ein weiches Bett hätte sie nichts einzuwenden gehabt. Mit den Gedanken auf ihre nächste Begegnung mit Erelieva gerichtet schlief sie auf Rilmirs Schoß ein.