Die Treppe mündete in eine sehr weitläufige, hohe Halle. Bis auf einige kleine, hohe Tische an den Wänden stand sie leer. Nerblog erkannte am Ende des Saales ein großes, geschlos-
senes Tor. Augenblicklich überkam ihn das Bedürfnis, Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen, doch als sich der Griff Orfangs um seinen Arm fester schraubte, verwarf er dieses Unter-fangen. Er durfte nicht wieder zurück in diese Zelle! Das einzige, was ihn dort erwartete, war der Wahnsinn.
In der Mitte der Halle standen dicht zusammengedrängt etwa zwei dutzend Männer, groß und klein, dick und dünn. Alle hatten verschlissene Kleidung und waren über und über mit Schmutz bedeckt. Sie drängten sich unruhig dicht beieinander, ständig in Erwartung einer bösen Überraschung.
Orfang ließ ihn kurz allein, bedeutete ihm aber am Ende mit einem groben Schlag auf den Hinterkopf, dass er keine Dummheiten machen solle.
Als der stämmige Kerl sich durch eine kleine Nebenpforte davongemacht hatte, ging Nerblog einige Schritte auf den Haufen zu. Manche von ihnen blickten ihn aus flehendlich bittenden Augen an, andere ignorierten ihn, und wieder andere bedachten ihn mit ab-
schätzigen, hasserfüllten Blicken.
Der Ostling wusste nicht, was ihn und die aneinander gefesselten Männer erwartete, doch er war sich sicher, dass es sich nicht um etwas Erfreuliches handeln konnte. Durch einige große Fenster weit über dem glatten, schwarzen Boden, fiel gedämpftes Sonnenlicht herein.
Orfang kehrte mit einem Bündel Kleidung und einem langen, rasiermesserscharfen Dolch zurück. Er warf Nerblog die Kleider zu. "Zieh das an!", befahl er mit seiner tiefen, rollen- den Stimme. Der Ostling befolgte seinen Befehl und zog sich eilig ein recht sauberes Stoffwams und eine abgenutzte Lederhose an.
Als er fertig war, drückte Orfang ihm das Fleischermesser in die Hand. Nerblog wog es widerstrebend in der Hand. Eine rohe Orkwaffe, ohne Sinn für feines Ausbalancieren geschmiedet, und mit einer leicht gezahnten Schneide.
Der hühnenhafte Mann deutete auf den Haufen der Gefangenen. "Das sind Menschen, die gegen die Herrschaft aufbegehrt haben. Mache mit ihnen was du denkst, dass das Richtige ist."
Dann verließ er Nerblog und marschierte die Treppe hinauf in den Turm.
Der junge Mann blickte unschlüssig zu den Rebellen hinüber. Er dachte fieberhaft nach. Dass Orfang ihm diese Waffe gegeben hatte, war wohl eine unmissverständliche Bot- schaft, was er mit den Gefangenen machen sollte.
Langsam ging er einige Schritte auf die anderen zu. Er konnte nicht um seines eigenen Lebens Willen das ihre nehmen!
Einer der Gefesselten, mehr noch ein Knabe als ein gestandener Krieger, rief ihm etwas zu: "Durchschneidet unsere Fesseln, Herr! Vielleicht können wir gemeinsam entkom- men!"
Nerblog blickte dem Jungen tief in die blauen Augen. Sie würden bei einem Fluchtversuch sicherlich bereits am Tor dieses Turms scheitern. Er schwieg.
In der kahlen Zelle oben im Turm würde er den Verstand verlieren, und sich in einem letzten Aufbäumen seines Wesens den Schädel an der harten Wand zertrümmern. War das Schicksal dieser Menschen nicht ohnehin besiegelt? War es das wert, für ohnehin schon genommene Leben sein eigenes zu geben?
"Worauf wartest du denn noch? Schneide unsre Fesseln durch! Bitte!", rief ein anderer, etwas dicklicher. "Ich muss zurück zu meiner Familie!"
Nein! Nerblog konnte das nicht tun. Er war kein herzloser Mörder. All diese Männer standen doch auf seiner Seite, ihrer aller Feind war doch Sauron, der ihn aus seiner Heimat vertrieben, und seine Eltern hatte zugrunde gehen lassen.
Nerblog blickte auf den Dolch. An dieser Waffe hing alles. Durchschnitt er nur ihre Fesseln oder doch auch ihre Kehlen?
Das Tor war schwer verriegelt. Niemals würden sie es durchqueren können, ohne einen speziellen Mechanismus auslösen zu müssen. Der einzige Ausweg war versperrt. Sie würden alle sterben, hingerichtet von Saurons Schergen. Sollte nicht wenigstens er, der so viel Leid hatte ertragen müssen, eine zweite Chance erhalten?
Mit glasigem Blick schritt Nerblog, das Fleischermesser hoch erhoben, auf die Gefang- enen zu. Sie wollten vor ihm weglaufen, doch ihre Fesseln hielten jeglichen Bewegungs-versuch ab.
Nerblog rammte als Erstes dem Jungen das Messer tief in die Brust. Er sollte nich noch den Tod der anderem mit ansehen müssen. Blut spritzte auf Nebrlogs ach so reine Kleidung- er schlitzte dem dicken Familienvater als nächstes die Kehle durch. Die übrigen Gefangenen begannen, verzweifelt zu schreien und zu flehen, doch der Ostling kannte kein Erbarmen.
Einem schlacksigen Glatzkopf steckte er das Messer zwischen die Augen, zog es hinaus und stach einem buckeligen Greis damit in den Bauch. Er litt bei jedem Stich, bei jedem Hieb die vielfachen Qualen derer, die er tötete. Gefangener um Gefangener fiel der Klinge zum Opfer, bis nach einer unendlichen Orgie aus Blut und Qualen alle getötet worden waren.
Mit einem Schmatzen verließ das Messer den Körper des letzten Opfers.
Nerblog ließ es neben sich in einen See aus Blut fallen und stürzteauf die Knie. Heiße Tränen quollen ihm aus den Augen. Was hatte er nur getan? Was hatte er angerichtet? Schluchzend wälzte er sich im noch warmen Blut der anderen. Für jeden der Hingerichte- ten wünschte er sich selbst einmal einen grausamen Tod. Er weinte so lange, bis das Blut kalt war und keine neuen Tränen mehr seine Augen hinabrollten. Doch seine Verzweiflung war unvermindert.
Dann betrat Saurons Mund, grausam lachend und gefolgt von seinem Sklaven, den Saal.
Der Ostling lag still, nur leicht zuckend, zu seinen Füßen in den Blutlachen.
"Du bist eine verachtenswerte Kreatur, Nerblog. Man möchte fast meinen, ihr seid tatsächlich ein treuer Diener des Dunklen Herrschers." Dröhnendes Lachen ließ Nerblogs Schädel erzittern.
"Bring ihn zu den Baracken der Arbeiter, Orfang. Er hat sich als nicht mehr bewiesen, als der einfache Abschaum dort draußen."
Nerblog zu den Baracken