Rilmir, Gwŷra und Kerry vom Fuße des OrthancsIm Inneren des Turmes herrschte Dunkelheit. Nur langsam gewöhnten sich Kerrys Augen an die Umgebung. Schließlich konnte sie erkennen, dass sie in einer kleinen, kreisrunden Eingangshalle standen, von deren hoher Decke ein warmes, fremdartiges Funkeln ausging, als befände sich über ihren Köpfen ein dunkler Sternenhimmel. Das schwache Funkeln spendete ihnen genug Licht, um sich frei zu bewegen, doch die Luft war schwer und ein seltsamer Geruch war wahrzunehmen. Aus einem der Seitengänge drangen von fern die Schritte von Forgams Orks, und so leise wie es ging machten sich die drei Menschen an die Verfolgung. Rilmir und Gwŷra bewegten sich nahezu lautlos fort; eine Fähigkeit, um die Kerry die beiden beneidete. Sie war froh, dass sie nun auf eine steile Treppe kamen, deren schwarze Stufen mittig von einem dicken, teppichartigen Tuch belegt waren, das Kerrys Schritte dämpfte.
Auf die Treppe folgte eine weitere kleine Halle, deren Größe Kerry vermuten ließ, dass sie direkt über der Eingangshalle gelegen war. Dieser Raum war voller Bücherregale. Rilmir hob lautlos eine Hand, als der Waldläufer zwei Orks erspähte, die die Borde nicht gerade sorgsam durchwühlten - viele Bücher lagen bereits achtlos auf den glatten Boden gefallen.
Rilmir legte Gwŷra eine Hand auf die Schulter und deutete auf einen der beiden Feinde, der sich gerade nach einem gefallenen Gegensstand bückte. Kerry sah noch, wie ein Messer in Gwŷras Hand aufblitzte, während Rilmir mit Oronêls Axt Hatholdôr ausholte. Die Wurfwaffe fand ihr Ziel, gerade als Gwŷra hinter dem zweiten Feind auftauchte und dem Ork mit einer flüssigen Bewegung die Kehle durchschnitt. Beide Orks sanken tot zu Boden.
Trotz aller Vorsicht war diese Aktion nicht lautlos vonstatten gegangen. Der Ork, den Rilmir mit Hatholôr erwischt hatte, hatte beim Aufprall ein überraschtes Grunzen von sich gegeben und hatte bei seinem Sturz beinahe ein Bücherregal umgerissen. Und während der Dúnadan noch seine Waffe einsammelte, hörte Kerry bereits Forgams laute Stimme, die aus einem der oberen Stockwerke herabschallte.
"Was ist da unten denn los? Los, geht nachsehen! Und findet endlich dieses verdammte Buch, das der Meister benötigt!"
Sie hatten kaum Zeit, zu reagieren. Rilmir sprintete zu der Tür, durch die die Treppe weiter hinauf führte und kniete sich in wartender Haltung daneben, während Kerry sich hastig nach irgend etwas umsah, was sie als Waffe verwenden konnte. Gwŷra war zwischen den Bücherregalen verschwunden. Kerry packte schließlich einen schweren Kerzenständer, der auf einem kleinen Tisch gestanden hatte, gerade als eine große Gruppe von Orks die Treppe hinab gepoltert kam.
Der vorderste Ork stolperte über Rilmirs ausgestrecktes Bein und schlug der Länge nach hin. Sofort war der Waldläufer über ihm und ein rascher Hieb mit Hatholdôr setzte der Kreatur ein Ende. Die übrigen Orks - beinahe ein Dutzend - brüllten überrascht und wütend auf. Dann zogen sie ihre Waffen und stürzten sich auf den Dúnadan.
In diesem Augenblick strömte blendend helles Tageslicht in den Raum. Kerry fuhr herum und schirmte ihre Augen mit der freien Hand ab. Eine schemenhafte Gestalt war inmitten der Helligkeit zu sehen, die Kerry schließlich als Gwŷra erkannte. Das Mädchen hatte es geschafft, die breiten Türen im hinteren Teil des Raumes aufzustoßen, die auf einen großen Balkon hinaus führten. Kerry erschrak als sie sah, wie hoch sie sich bereits über dem felsigen Boden im Inneren Isengards befanden - so lange war ihr der Aufstieg über die Treppe im Inneren des Orthanc gar nicht vorgekommen.
Die Orks jaulten schmerzhaft auf und gaben leichte Beute für Rilmir ab, der mit dem Rücken zu dem einfallenden Licht gestanden hatte. Kerry wusste nicht, ob er Gwŷra dazu angewiesen hatte, die Türen zu öffnen, oder ob das merkwürdige Mädchen diesen Einfall selbst gehabt hatte. Kerry blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Als Rilmir in rascher Folge drei Orks getötet hatte, erholten sich die übrigen Feinde von ihrem Schock und begannen, wie wild mit ihren Waffen um sich zu schlagen. Dabei erwischte einer der Orks, der mit einem Speer bewaffnet war, Hatholdôrs Klinge und die Axt wurde zu Kerrys Schrecken aus der Hand Rilmirs geprellt und rutschte auf dem glasigen Boden weit fort zwischen die Bücherregale. Als sich der erste Ork auf Rilmir zubewegte, zögerte Kerry nicht länger und schleuderte den schweren Kerzenständer in Richtung des Feindes. Doch ihr Wurf ging fehl - viel zu früh schon schlug der Kerzenständer auf dem Boden auf und sorgte mit lautem Krachen dafür, dass sich nun viele der gelben Augen der Orks auf Kerry richteten. Zwei Feinde sprangen auf sie los und Kerry kreischte auf, als sie angstvoll vor ihnen zurückwich. Sie tauchte zwischen den Bücherregalen ab und enting zwei wild geführten Hieben, doch dann gelang es einem der Orks, sie am Bein zu packen. Der Länge nach stürzte Kerry hin. Da sah sie in einiger Entfernung etwas auf dem Boden nahe des Treppenaufgangs aufblitzen.
Hatholdôr! dachte sie, als sie die elbische Axt erkannte. Sie hoffte, dass es Rilmir und Gwŷra schaffen würden, die Orks abzuhalten und versetzte der Kreatur, die sie gepackt hatte, einen saftigen Tritt ins Gesicht. Kerry gelang es, bis beinahe in Reichweite des Griffes der Axt zu hechten, als sich scharfe Krallen in ihren Unterschenkel gruben und sie brutal zurück zerrten. Kerry streckte den Arm aus so weit sie konnte, doch Hatholdôr war zu weit weg. Zu allem Überfluss sah sie nun auch noch, wie jemand die Axt aufhob.
"Sieh mal einer an," sagte eine neue Stimme. "Ich denke, das gehört mir."
Kerry blickte wie vom Donner gerührt auf. Im Durchgang, keine drei Schritte von ihr entfernt, war eine schlanke Gestalt aufgetaucht. In der Hand trug sie ein Schwert nach Elbenart, während die zweite Hand nun Hatholdôr empor hob. Als der Neuankömmling etwas näher kam, fiel das Tageslicht auf sein Gesicht.
"Das ist nicht möglich," stammelte Kerry.
"Jetzt sag' nur nicht, du hättest mich nicht vermisst," entgegnete Oronêl mit einem kleinen Lächeln. Er wirkte völlig verändert seit seinem nächtlichen Verschwinden, damals im Hargtal: Gelassen, zuversichtlich -
gut gelaunt. Mit einem schnellen Sprung war er bei Kerry und streckte die beiden Orks, die kaum Zeit für eine Reaktion gehabt hatten, rasch nieder. Dann schob er sein Schwert in die Scheide und bot Kerry die freie Hand an, um ihr auf die Beine zu helfen.
Kerry wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war von Oronêls Auftauchen vollständig überrascht worden. Hastig blickte sie sich nach Rilmir und Gwŷra um. Der Dúnadan hatte einem der toten Orks seine Waffe abgenommen und damit bereits den Großteil der übrigen Kreaturen besiegt oder in die Flucht geschlagen. Kerry sah, wie fünf Orks die Treppe hinauf verschwanden, von der sie gekommen waren. Gwŷra hingegen war auf den großen Balkon getreten, als ginge sie das Gefecht in der Halle nichts mehr an, und ließ ihren Blick hinab auf die Ebene schweifen.
"Sie werden Forgam alarmieren," sagte Rilmir, der ein wenig außer Atem war. "Nanu? Ist das nicht Oronêl?" fügte der Waldläufer hinzu, als er näher gekommen war.
Oronêl führte Kerry sanft zu Gwŷra auf den Balkon hinaus, dann reichte er Rilmir den Arm zum Gruß. "Gut getroffen, mein Freund. Ich bin froh, euch alle wohlbehalten vorzufinden. Doch sagt, wo ist Aéd?"
"Sie haben ihn nach Dunland gebracht," murmelte Kerry, die noch immer ziemlich durcheinander war.
"Wen meinst du mit
Sie?" wollte Oronêl weiter wissen.
"Ein Häuptling namens Yven, vom Stamm des Messers," erklärte Rilmir.
"Beim Blutigen Mond, sie wollen ihn im Ritual der Inneren Wahrheit das Herz herausschneiden. Deshalb haben sie ihn zum Juwel der Kette gebracht,
Môrysbryd," sagte Gwŷra leise und unheilvoll.
"Juwel der Kette... damit ist wohl der Wohnsitz des Stammes der Kette gemeint," überlegte Oronêl. "Wie hast du mich gerade genannt?"
"
Môrysbryd. Geist des Meeres. So ist deine Art bei meinem Volk bekannt," antwortete das dunkelhaarige Mädchen. "Ich habe nicht geglaubt, jemals einen wie dich mit eigenen Augen zu sehen." Sie kam näher und streckte Oronêl eine Hand entgegen, ohne ihn jedoch zu berühren.
Oronêl war eindeutig von ihrem Verhalten verwundert, sagte jedoch nur: "Man kennt mich als Oronêl Galion. Wie lautet dein Name?"
Gwŷras Blick leuchtete auf und Kerry verdrehte trotz der Umstände die Augen, denn sie wusste schon, was jetzt kommen würde. "Du wünschst, meinen Namen zu erfahren! Beim Blutmond, welch Torheit! Wisse, dass du im Begriff bist, eine Macht heraufzubeschwören, die..."
"Sie heißt Gwŷra," sagte Rilmir trocken. "Sie... nun ja... kommt nicht von hier."
"Das sehe ich," erwiderte Oronêl. "Vielleicht bleibt später mehr Zeit, um uns einander angemessen vorzustellen. Doch ich fürchte, dass unser Feind noch nicht besiegt ist."
Während Kerry Oronêl noch etwas widerwillig dafür bewunderte, dass er Gwŷras Merkwürdigkeiten zum Trotze so höflich blieb, ließen schwere Schritte hinter ihnen die Gruppe herumfahren.
"Ich hätte wissen müssen, dass hinter all diesem Ärger nur ein Verräter stecken kann," sagte Forgam grimmig, als er sich ihnen in Begleitung der verbliebenen drei Orks näherte. Selbst mit Oronêls Unterstützung sah die Lage schlimm aus, denn Forgam hielt in jeder Hand eine der schwarzen Kugeln, die das Feuer vom Orthanc enthielten. Dessen zerstörerische Macht hatte Kerry in der Schlacht am Erebor bereits mit eigenen Augen gesehen.
Der feindliche Anführer blieb stehen. Sein Blick kreuzte sich mit Rilmirs. "Du hättest im Norden bleiben und den Mund halten sollen, Junge."
"Und du hättest bei deiner Tochter bleiben sollen, Forgam," erwiderte Rilmir.
"Revanel hat mit all dem nichts zu tun," antwortete der grauhaarige Waldläufer.
"Du hast es also noch nicht gehört," fuhr Rilmir ruhig fort.
Forgams grimmiges Antlitz gefror, als er stehenblieb. "Wovon sprichst du? Raus mit der Sprache, Junge."
"Du hast dein Kind zu den Anfurten entsandt, ehe du dich Saruman unterwarfst, damit sie nicht erfährt, zu welchen Grausamkeiten ihr Vater imstande ist, nicht wahr? Ich kenne Revanel und sie war schon immer gehorsam und still, doch die See hat ihre Neugierde geweckt. Die Elben ließen sie eines ihrer Schiffe besichtigen, als ein Sturm heraufzog."
Der alte Dúnadan wurde blass. "Nein, das kann nicht stimmen.... Saruman versicherte mir, dass es ihr gut ginge... Du lügst!"
Rilmir schüttelte den Kopf. Die Orks blieben im Hintergrund, doch in ihren Augen las Kerry Hass und Mordlust. Sie wusste nicht, was Rilmir vorhatte, doch offenbar schien sein Plan aufzugehen. "Das Schiff riss sich los und verschwand jenseits des Golfes des Lhûn. Bislang weiß niemand, was aus der Besatzung geworden ist. Was aus
Revanel geworden ist."
Forgam ballte die Hände zu Fäusten. "Verdammt sollst du sein, du Wurm! Ich... Graahh!" Forgam schleuderte ihnen eine der Feuerkugeln vor die Füße. Doch ob aus Absicht oder fehlgeleiter Wut ging sein Wurf zu kurz und das Geschoss explodierte einige Schritte entfernt, im Durchgang zum Balkon. Der Druck und die Hitze warfen Kerry und Gwŷra gegen das stählerne Geländer, während Oronêl und Rilmir rechtzeitig beiseite gesprungen waren. Als der dichte Rauch langsam begann, sich zu lichten, sahen sie, dass Forgam verschwunden war.
Nachdem sie sich rasch um die verbliebenen Orks gekümmert hatten, führte Rilmir die Gruppe hinauf in das nächste Stockwerk. Dort standen die hohen Fenster ebenfalls offen und saubere Luft strömte hinein. Diese Halle wies vier große Türen auf und am hinteren Ende stand ein erhöhter Sitz, zu dem einige Stufen hinauf führten. Im Zentrum des Raumes war ein schwarzer Sockel zu sehen, dessen flache Oberfläche leer war.
"Was haben sie hier wohl gesucht?" fragte der Waldläufer laut.
Kerry, die bislang geschwiegen hatte, hielt es nicht länger aus. "Oronêl," begann sie. "Was, beim Barte meiner Großmutter, tust du hier?"
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"Nun ich... wusste nicht, dass deine Großmutter dem Volk der Zwerge angehörte", erwiderte Oronêl, bevor er angesichts Kerrys drohend zusammengezogener Augenbrauen begütigend die Hände hob. "Schon gut, schon gut. Kein guter Moment für Scherze."
"Nein... doch... du..." Oronêl konnte sein Lächeln nicht unterdrücken, und Kerry stemmte empört die Fäuste in die Seiten. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, schien sich jedoch zu besinnen und fiel Oronêl im nächsten Augenblick um den Hals. Sie drückte ihn kurz und fester, als er erwartet hatte, bevor sie ihn losließ und einen Finger gegen seine Brust drückte - einen sehr spitzen Finger. "Das heißt nicht, dass du dich nicht wie ein Idiot benommen hast. Und ich wäre dankbar, wenn du meine Frage beantworten würdest. Jetzt."
Oronêl hatte nicht die Absicht ihr zu widersprechen, erwiderte jedoch: "Zu meiner Verteidigung, ich hatte meine Gründe. Aber die Antwort auf deine Frage muss warten - ich denke nicht, dass dieser Ort zum Plaudern geeignet ist."
Seit er den Orthanc betreten hatte, nein, seit er den Fuß durch das Tor Isengards gesetzt hatte, spürte er die Kraft, die noch immer über diesem Ort lag. Der Orthanc war das Zentrum des Ganzen. Mächtige Zauber waren hier gewirkt worden, und unfassbar finstere Taten begangen worden. Auch nachdem der Turm einige Zeit leer gestanden hatte wohnte seinen Mauern noch immer Macht inne.
"Ich stimme zu", meldete sich Rilmir zu Wort. "Die Sonne ist zwar inzwischen untergegangen, doch ich würde lieber eine Nacht unter freiem Himmel verbringen als hier. Außerdem habe ich den Himmel in letzter Zeit ohnehin viel zu wenig gesehen."
Oronêl, Kerry, Rilmir und Gwŷra zum Fuß des Orthanc
Oronêl-Part by Eandril