Córiel von der bewachten Ostgrenze RohansEinst hatten im großen Lager vor den Toren Aldburgs drei unterschiedliche Elbenvölker gelebt. Aus Lothlórien waren die Galadhrim mit all jenen geflohen, die dem Untergang des Goldenen Waldes entkommen waren und kurz nach ihnen waren die Elben des Düsterwaldes eingetroffen, die ebenfalls im Reich Galadriels und Celeborns Schutz gesucht und ebenfalls dessen Fall miterlebt hatten. Sie kamen im Gefolge Sarumans, der auf dem Höhepunkt der Ratsversammlung von Aldburg überraschend aufgetaucht war und ein Bündnis mit den Anführern der Freien Völker ausgehandelt hatte. Die dritte Gruppe von Elben war die einzige, die noch immer in Rohan weilte: Das Heer von Imladris. Sie bildeten die kleinste der drei Gruppen, weshalb das große Lager nun ungewohnt leer und geradezu ausgestorben wirkte, als Córiel dort eintraf. Sie ließ ihr Pferd im Schritt gehen und folgte der von vielen Füßen ausgetretenen Straße, die in Richtung des westlichen Stadtores von Aldburg führte. Es war bereits spät in der Nacht, denn obwohl sie mit großer Eile vom Mering-Strom hergeritten war, waren dennoch mehrere Stunden seit ihrem Aufbruch vergangen.
Ihr Ziel war das Zelt des hochelbischen Kommandanten Calachír Anóramath, der in Abwesenheit des eigentlichen Heerführers Glorfindel den Befehl über die Soldaten von Imladris innehatte. Vor Calachírs Zelt hielt Córiel ihr Ross an und sprang behände aus dem Sattel. Das Banner von Elronds Haus wehte über dem Eingang, den sie rasch passierte nachdem die Gardisten sie erkannt und ihr den Weg freigemacht hatten.
Der Kommandant war noch wach, wie sie erwartet hatte. Als Córiel hereinkam, wandte er ihr den Blick zu und sie erkannte, dass Calachír sie bereits erwartet hatte, denn er war nicht allein. Ein hochgewachsener, kräftiger Mensch in königlicher rohirrischer Rüstung saß auf einem einfachen Stuhl an der Rückwand des Zeltes und studierte mit konzentriertem Blick eine kleine Schriftrolle, wie sie von Boten und Meldereitern verwendet wurde.
"Córyeldë Arhestiel," grüßte Calachír. "Gut, dass du gekommen bist." Seine Stimme klang herzlich, doch durchsetzt mit einer Spur von Dringlichkeit und Sorge. "Bitte, nimm doch Platz." Er deutete auf einen freien Stuhl neben jenem, in dem sein Gast saß. Dieser ließ gerade die Schriftrolle sinken und schien Córiel erst jetzt zu bemerken. Als er ihr das Gesicht zuwandte, erkannte sie ihn.
Rasch deutete sie einen Knicks an. "Herr Faramir. Ihr habt mich gerufen, und hier bin ich."
Faramir fixierte sie mit einem langen Blick, ehe er antwortete. "Ich erinnere mich an dich. Du warst bei den meisten der Gefechte an der Ostgrenze dabei, nicht wahr?"
Sie nickte. Calachír bedeutete ihr, sich zu setzen, und Córiel kam der Aufforderung jetzt nach. "Worum geht es?" fragte sie.
Ihr Gegenüber deutete auf die Schriftrolle. "Dies ist ein Bericht von den Furten des Isen. Er ist nur einer von vielen Nachrichten, die Rohan in letzer Zeit erreichen, und die mir große Sorge bereiten. Hier steht, dass erneut Anzeichen für einen Krieg in Dunland gesehen worden sind. Wir wissen nicht, gegen wen die Dunländer kämpfen, und auf wessen Seite sie jetzt womöglich stehen. Vor der Befreiung Rohans dienten sie dem Statthalter, den Mordor nach Isengard entsandte, um über die Riddermark zu herrschen. Doch seitdem hat einiges darauf hingewiesen, dass die Bewohner Dunlands sich wieder Saruman angeschlossen haben."
Córiel nickte, doch es fiel ihr mit jedem Wort Faramirs schwerer, Interesse zu heucheln. Sie kannte den Gemahl der Königin Rohans nur vom Sehen und tat sich seit jeher schwer, Menschen einzuschätzen. Ihre Finger juckten, denn viele Worte machten Córiel unruhig und sorgten dafür, dass sie sich nach der Einfachheit eines Kampfes sehnte.
Faramir schien dies beinahe sofort aufzufallen. Es war, als hätte er Córiels Gedanken gelesen. "Du bist hier, weil ich diesen Gerüchten auf den Grund gehen möchte," erklärte er und blickte ihr in die Augen. "Wir müssen wissen, was im Westen vor sich geht, und Calachír und ich glauben, dass du dafür die richtigen Fähigkeiten besitzt. Du besitzt langjährige Kampferfahrung und hast schon viele Ländereien Mittelerdes bereist."
Er machte eine kurze Pause, die Córiel dafür nutzte, um mehr über ihren Auftrag herauszufinden. "Wäre es denn nicht sinnvoller, berittene Kundschafter von den Furten des Isen nach Dunland zu entsenden? Wieso denkt Ihr, dass ich besser für diese Aufgabe geeignet bin?" Sie verspürte keine große Lust, der Front und dem Krieg den Rücken zu kehren und wollte am liebsten noch in dieser Nacht zurück zur Ostgrenze Rohans reiten.
Es war Calachír, der antwortete. "Die Völker Rohans und Dunlands sind seit Jahrhunderten verfeindet, wie du vielleicht weißt. Wir wissen nicht, wie die Lage in Dunland aussieht. Die Vorsicht gebietet es, keine Provokation zu riskieren. Doch wenn die Reiter Rohans von den Dunländern in ihrer Heimat gesichtet werden, könnte das gravierende Folgen haben. Wir können es uns nicht erlauben, einen Zweifrontenkrieg auszulösen. Die Grenzen sind auch jetzt schon nur notdürftig bewacht."
Córiel verstand seine Argumentation, weshalb sie nickte. Faramir fuhr fort: "Die Dunländer halten für gewöhnlich Abstand zu Reisenden vom Elbenvolk. Du könntest wahrscheinlich ohne größere Schwierigkeiten die Furten des Isen überqueren und herausfinden, was jenseits davon wirklich vorgeht und ob eine Bedrohung für Rohan besteht. Doch dies ist nicht der einzige Grund, weshalb ich dich nach Westen entsende."
"Welche weiteren Gründe habt Ihr, Heermeister?"
Erneut antwortete Calachír an Faramirs Stelle. "Wie du weißt brachen zwei Gruppen nach dem Ende des Kriegsrates von Aldburg nach Westen auf. Die erste hatte einen geheimen Auftrag, über den es mir nicht zu sprechen gestattet ist. Die zweite bestand aus den Galadhrim und ihren Anführern, die von Meister Elrond und den Halblingen Meriadoc und Peregrin begleitet wurden. Und von beiden Reisegruppen haben wir seit ihrem Aufbruch nicht ein einziges Wort vernommen."
"Dies ist für uns alle ein Grund zu großer Sorge," ergänzte Faramir. "Ich hatte schon seit einiger Zeit vermutet, dass Eriador unter der Kontrolle Sarumans steht, der nach dem Sieg bei Dol Guldur das Bündnis mit uns aufgekündigt hat. Dass uns keinerlei Nachricht von jenen erreicht hat, die nach Westen zogen, muss wohl bedeuten, dass das Chaos in Dunland so groß ist, dass keinerlei Botschaften durchkommen. Vielleicht ist Saruman gerade dabei, seinen Einfluss weiter und weiter auszudehnen? Oder vielleicht sind gar beide Gruppen gescheitert und - im schlimmsten Fall - getötet worden? Versteh' mich nicht falsch, Córiel: solltest du nach Aldburg mit der Nachricht vom Tode Elronds zurückkehren, wäre dies ein schwerer Schlag für die Freien Mittelerdes. Aber es wäre besser, Klarheit darüber zu haben, als noch länger in Ungewissheit zu leben."
Erneut nickte Córiel und verstand nun vollständig den Ernst der Lage. Seit dem Ende der Ratsversammlung von Aldburg waren vier Monate vergangen. In dieser Zeit war Dol Guldur erstürmt worden und in Gondor waren zwei große Schlachten geschlagen worden. Viel konnte in einer so langen Zeit im Nordwesten Mittelerdes geschehen sein. Córiel fragte sich, warum Faramir nicht schon längst einen Boten nach Imladris entsandt hatte.
Erneut schien der Heermeister zu erraten, was Córiel dachte. "Ich will dir nichts vormachen," sagte er leise. "Die Reise wird überaus gefährlich werden. Um ehrlich zu sein bist du bereits die dritte Person, die ich mit dieser Mission betraue. Zwei sind vor dir aufgebrochen und haben beide den Tod gefunden. Man fand ihre Leichen nahe der Furten des Isen."
"Äußerste Vorsicht ist also geboten," sagte Calachír. "Es muss dir gelingen, die Lage in Dunland herauszufinden und das Schicksal Elronds, der Halblinge und der Galadhrim aufzudecken."
"Es sei denn, du fühlst dich der Aufgabe nicht gewachsen. Ich werde dich nicht dazu zwingen," fügte Faramir hinzu. Sein prüfender Blick verweilte auf Córiel und sie fasste einen Entschluss.
"Ich werde gehen," sagte sie mit fester Stimme. "Ich habe schon vor vielen Jahren gelernt, dass Informationen eine der wichtigsten Waffen im Krieg sind. Und ich werde meinen Teil dazu beitragen, sie zu für Euch zu beschaffen."
Faramir nickte zufrieden. "Darauf hatten wir gehofft, Córiel."
Córiel verließ das Zelt Kommandant Calachírs mit neuer Energie, die ihre Schritte trotz der sich langsam bemerkbar machenden Müdigkeit beschleunigte. Ihr Ärger über ihre Abberufung von der Front war rasch verflogen und Aufregung erfüllte sie. Sie hoffte, tatsächlich einen großen Krieg in Dunland vorzufinden, denn dann würden sich höchstwahrscheinlich viele Möglichkeiten für sie bieten, hin und wieder in den Kampf einzugreifen.
Auf dem Weg zu dem kleinen Zelt, das man ihr für die Nacht zugewiesen hatte, fiel ihr etwas ein, an das sie Faramirs Worte erinnert hatten. Die erste Gruppe, die nach dem Kriegsrat von Aldburg mit einem geheimen Auftrag aufgebrochen war... Sie kannte einen von jenen, die Teil der Gruppe gewesen waren: Lasseron von Lothlórien.
Ich hoffe, er hat sein Ziel erreicht, was auch immer es gewesen sein mochte, dachte sie.
Ich werde im Westen nach ihm suchen, auch wenn dies nicht Teil meines Auftrags ist, entschied sie.
In ihrer Unterkunft angekommen fiel sie rasch in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am folgenden Morgen stand Córiel bei Sonnenaufgang auf und rüstete sich für den Aufbruch. Man stattete sie mit genügend Vorräten für mehrere Wochen aus und stellte ihr eines der Elbenpferde von Imladris zur Verfügung;
Súldal war sein Name. Es besaß graues Fell und war ausdauernd und schnell. Córiel verabschiedete sich von Calachír, der sie mit besten Wünschen ziehen ließ. Sie lud ihre Waffen, Ausrüstung und Proviant auf Súldals Rücken und band alles fest, ehe sie das Ross zum Ausgang des Lagers führte.
Córiel blieb stehen. Ihr Weg wurde von einer wohlbekannten Gestalt blockiert. "Nicht so schnell, Stikke. Ich komme mit dir," sagte Jarbeorn, der seine Axt geschultert hatte und ebenfalls ein bepacktes Pferd mit sich führte.
"Jarbeorn?" fragte sie verwundert. "Solltest du nicht an der Front sein?"
"Ebenso wie du," antwortete er mit einem schiefen Lächeln. "Was werden die Waldläufer und Rohirrim jetzt nur ohne uns tun? Denkst du, sie kommen zurecht?"
"Lass das Gerede," unterbrach Córiel ihn. "Was hat das zu bedeuten? Ich habe einen wichtigen Auftrag und große Gefahren liegen vor mir."
"Ich weiß, Stikke. Ich werde dir helfen, herauszufinden, was im Westen vor sich geht, und deinen Geliebten zu retten."
Zum ersten Mal seit vielen Jahren war Córiel sprachlos. Wie konnte er es wagen, solche unverschämten Aussagen zu treffen? Woher wusste er von ihrer Mission?
"Du redest im Schlaf, Stikke. Ich kam gestern zufällig an deinem Zelt vorbei und habe dort so
einiges aufgeschnappt."
"Rein zufällig also," gab sie schlagfertig zurück. "Stellst du mir etwa nach, Schwarzpelz?"
Er hob abwehrend die Hände. "Das würde ich niemals tun. Dein Herz gehört doch bereits diesem Lasseron, wenn ich mich nicht deutlich verhört habe."
"Das hast du," sagte sie wahrheitsgemäß. "Mein Herz gehört niemandem als mir selbst." Sie hatte keine Gefühle für Lasseron, sondern schätzte ihn als einen ihrer wenigen Freunde. Vermutlich hatte sie sich im Schlaf einfach missverständlich ausgedrückt. "Ich bin empört, dass du dich in tiefster Nacht zwischen den Zelten unbescholtener Elbendamen herumtreibst, Schwarzpelz."
Sie erhob tadelnd den Finger, doch er tat die Geste mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. "Du scheinst immer noch zu träumen, Stikke. Unbescholten warst du zuletzt kurz nach deiner Geburt. Außerdem sagte ich doch bereits, dass ich rein zufällig an deinem Zelt vorbei kam."
"Aber was hast du überhaupt hier verloren? Wieso hast du das Lager an der Ostgrenze verlassen?" verlangte Córiel zu wissen.
Der Beorninger blickte tatsächlich ein klein wenig betreten zu Boden, ehe er etwas leiser antwortete: "Ich hatte mich daran gewöhnt, gemeinsam mit dir in den Kampf zu ziehen. Als du so plötzlich verschwunden bist, fühlte ich mich einsam und beschloss, für einige Tage zu meinem Vater und zu meinem Volk zurückzukehren. Sie leben tief im Firienwald, wie du ja vielleicht weißt. Doch dann hörte ich, dass du nach Aldburg zu Heermeister Faramir zitiert worden bist. Und da packte mich die Neugierde. Deshalb bin ich hier."
Córiel konnte ihm nicht lange böse sein. Sie hatte sich ebenfalls an Jarbeorn und seine kameradschaftliche Gesellschaft gewöhnt und hatte nichts dagegen, dass er sich ihrer Reise nach Westen anschloss. Dennoch musste sie ihm klar machen, worauf er sich dabei einlassen würde und so fasste sie in wenigen, raschen Sätzen zusammen, was sie am Abend zuvor erfahren hatte. "Und du bist dir sicher, dass du noch immer mitkommen willst?"
Jarbeorn legte ihr seine Pranke auf die Schulter. "Ich werde dorthin gehen, wohin du gehst, Stikke, und dir bei der Erfüllung deiner Aufgabe helfen."
"Also gut," gab sie sich äußerlich mit einem Seufzen geschlagen, doch innerlich war sie mehr als froh. "Dann komm. Wir haben schon genug Zeit mit all dem Gerede verschwendet." Sie schwang sich in den Sattel und preschte los, dicht gefolgt von Jarbeorn. Es ging nach Westen, über die grasbewachsenen Ebenen Rohans hinweg.
Córiel und Jarbeorn zu den Furten des Isen