Kerry, Gwŷra und Rilmir aus den Tunneln von IsengardVerdrossen starrte Kerry in den mit dichten Wolken verhangenen Winterhimmel über dem Tal des Zauberers. Die Lage war nicht gut. Sie waren seit ihrer Flucht aus den Verliesen unterhalb des Ringes von Isengard der Befreiung Aéds kein Stück näher gekommen, obwohl inzwischen ein halber Tag verstrichen war. Ursprünglich hatten Rilmir und Kerry gehofft, irgendwo an der Oberfläche Reittiere aufzutreiben, um die Verfolgung Yvens aufzunehmen, der Aéd verschleppt hatte. Doch sie fanden in der kreisrunden Festung keinerlei Pferde - die Stallungen standen allesamt leer.
Kerry war frustriert. Ihnen lief die Zeit davon. Zwar wussten sie, wohin die verräterischen Dunländer Aéd brachten, doch bis zum Zusammenfluss des Isens mit dem von Westen kommenden Fluss Adorn war der Weg noch weit. Rilmir hatte sich an eine alte Karte erinnert, die offenbar einst von Ardóneth angefertigt worden war und in Bruchtal verwahrt wurde. Darauf war zu sehen, dass der Fluss Adorn im Weißen Gebirge auf der Rückseite der Gipfel nahe der Festung Helms Klamm entsprang und in nordwestlicher Richtung dem Isen entgegen nach Dunland floss. Doch der Ort des Zusammenflusses mit dem Isen lag viel weiter westlich, im äußersten Zipfel des wilden Landes. Ohne Pferde würden sie Yven niemals einholen können. Zu Fuß würde es sich als außerordentlich schwierig herausstellen, sich durch die unwegsamen Grenzgebiete Dunlands zu schlagen, wo die Schergen des Messerstammes umherstreiften. Und da Kerry nun wusste, welch grausames Schicksal Aéd erwartete, machte sich ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit in ihr breit.
Sie nahmen in der Nähe des Orthanc-Turmes ein karges Abendessen zu sich, das aus dem Wenigen bestand, das die drei Menschen bei ihrer Suche in Isengard hatten auftreiben können. Obwohl sie glaubten, dass nahezu alle Dunländer das Tal verlassen hatten, wagten sie dennoch nicht, ein Feuer zu entzünden. Missmutig kaute Kerry auf einem Stück trockenem Brot herum und wünschte sich weit weg von diesem trostlosen Ort. Gwŷra saß mit geschlossenen Augen in etwas Entfernung auf einem großen Felsen, der von den teilweise zerstörten Mauern der Festung herausgebrochen war und murmelte unverständliche Worte in einer fremden Sprache, während Rilmir die Schneide Hathôldors mit einem kleinen Wetzstein schärfte, den er irgendwo in einer Pfütze gefunden hatte. Die Sonne stand bereits tief und begann bereits, langsam hinter den westlichen Ausläufern des Methedras versinken.
"Lass' dich nicht unterkriegen, Kerry," sagte der Waldläufer nach einiger Zeit. "Gib die Hoffnung nicht auf."
"Wieso?" wollte Kerry wissen. "Während wir hier herumsitzen, schwebt Aéd mit jeder vergangenen Minute in größerer Gefahr!"
"Es ist wichtig, selbst jetzt, wo es scheint dass sich alles gegen uns gewandt hat, die Ruhe zu bewahren," erwiderte Rilmir. "Wir alle sind erschöpft von der Befreiungsaktion und der mühseligen Suche in den Ruinen. Heute noch aufzubrechen und blindlings ins Ungewisse zu marschieren wird Aéd nicht helfen. Du wirst sehen: Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus."
Kerry stieß einen frustrierten Seufzer aus. "Ich hasse es, nichts tun zu können," presste sie hervor.
"Doch, du kannst etwas tun, nämlich deinen Körper wieder zu Kräften kommen zu lassen, und deinen Geist zu beruhigen," sagte der Dúnadan sanft.
"Meinem Körper wird es bald wieder gut gehen, aber wie soll ich meine Gedanken zur Ruhe bringen, wenn ich weiß, dass Aéd jeden Augenblick von diesen Wilden aufgeschlitzt werden könnte?" fragte Kerry aufgebracht.
Rilmir legte den Wetzstein beiseite und lehnte Oronêls Axt an den Felsen, auf dem Gwŷra kauerte. Der Waldläufer ließ sich Kerry gegenüber nieder und zauberte eine kleine Holzpfeife hervor. Und noch während er sich in aller Ruhe die Pfeife mit etwas gefundenem Kraut stopfte, begann Rilmir, eine Geschichte zu erzählen.
"Wir sind nicht die Ersten, die sich in einer solchen ungemütlichen Lage befinden. Einst, als das böse Reich von Angmar noch keine hundert Jahre lang zerstört war, lebten unter den verstreuten Dúnedain des Nordens zwei Brüder. Ihre Namen waren Iârion, der ältere Bruder, und Amarthiúl, der jüngere Bruder. Sie entstammten einer alten Familie, die einst aus Rhûdaur geflohen war, als jenes Land dem Schatten des Hexenkönigs anheim fiel. Iârion war ein Gelehrter, der darüber hinaus großes Geschick im Umgang mit dem Schwert besaß, während Amarthiúl ein begabter Spurenleser und Bogenschütze war. Die beiden Brüder waren unzertrennlich und durchstreiften lange Jahre die Wildnis des Nordreiches. Sie bekämpften den Schatten, wo auch immer er ihnen begegnete und taten viel Gutes für das Volk der Dúnedain."
Rilmir machte eine Pause und nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife, die er sich mittlerweile angesteckt hatte. Ein großer Rauchring stieg in die kühle Abendluft, als der Waldläufer ausatmete. Während er weitersprach, schwand das letzte Tageslicht mit jeder Minute, die verstrich.
"Eines Tages hörten Iârion und Amarthiúl von einem neuen Übel, das in den Ruinen von Rhûdaur umging. Gerüchte sprachen von schattenhaften Gestalten, die Reisende des Nachts überfielen und von Banden von Orks, die aus den Bergen im Osten herabgekommen waren. Die Brüder brachen von ihrem Lager am Abendrotsee auf, um den Gerüchten auf den Grund zu gehen und kamen so nach Rhûdaur in das Gebiet der Trollhöhen. Sie fanden Spuren der Orks, die nach Norden zum Berg Gram führten und beschlossen, ihnen zu folgen. Doch in der Nähe der alten Bergfestung, die seit dem Fall Angmars verlassen gewesen war, gerieten Iârion und Amarthiúl in einen Hinterhalt und wurden von den Orks, die sie jagten, gefangen genommen. In den Verliesen des Gramberges wurden sie voneinander getrennt und mussten Folter und Leid erdulden, bis Amarthíul durch einen glücklichen Zufall die Flucht gelang. Er schlich sich durch die finsteren Gänge des Verlieses auf der Suche nach seinem Bruder, doch als er Iârion endlich gefunden hatte, war es zu spät: Amarthiúl konnte aus einem Versteck nur machtlos zusehen, wie die Orks Iârion an eine düstere, verhüllte Gestalt übergaben, dessen Schergen den gefangenen Waldläufer vom Gramberg fort nach Norden brachten. Dabei schnappte der jüngere Bruder den Namen der Gestalt auf: Daechanar, die Schattenhand. Schwer verletzt und von Feinden verfolgt entkam Amarthiúl aus der Orkfestung und stand nun vor einer schweren Entscheidung: Sollte er die erkaltende Spur der Schattenhand verfolgen, oder würde er damit nur seinen eigenen Tod riskieren?"
"Was hat er gewählt?" fragte Kerry atemlos, während Rilmir einen weiteren Zug aus seiner Pfeife nahm. Die Geschichte hatte Kerry längst in ihren Bann gezogen und sie von Aéds Schicksal abgelenkt.
Der Dúnadan ließ einen weiteren Ring aus Rauch aufsteigen und fuhr fort. "Schweren Herzens wandte Amarthiúl sich nach Südosten und schleppte sich bis nach Bruchtal, wo die Elben seine Wunden heilten und er bald wieder zu Kräften kam. Er hatte erkannt, dass er in seinem Zustand nach der Flucht aus dem Gramberg kaum eine Chance gehabt hätte, Iârions Häscher einzuholen oder gar zu überwältigen. Von Elrond erfuhr er darüber hinaus, dass der Name Daechanar in Imladris nicht unbekannt war. Einer der Adligen des Reiches von Rhûdaur hatte einst diesen Namen getragen, ehe er seine Heimat im Namen des Hexenkönigs verraten hatte und zu einem der mächtigsten Diener Angmars geworden war. Zu Amarthiúls Schrecken eröffnete Elrond ihm weiter, dass jener Daechanar kein Geringerer als Iârions und Amarthiúls eigener Vorfahr war, dessen Familie sich von ihm abgewandt und nach Arthedain geflohen war."
Kerry gab ein überraschtes Geräusch von sich, wagte aber nicht, die Geschichte mit einer Frage zu unterbrechen.
"Amarthiúl wusste nun, dass es kein Zufall gewesen war, dass die Orks ihn und seinen Bruder in der Gefangenschaft nicht getötet hatten. Daechanar musste Iârion aus einem finsteren Zweck vom Gramberg nach Norden gebracht haben, wo die Lande noch immer von den Schatten des gefallenen Hexenreiches gezeichnet waren. Als seine Wunden verheilt waren, brach der junge Waldläufer mit einigen tapferen Gefährten nach Angmar auf, um Daechanar aufzuhalten und Iârion zu retten. Die Reise war beschwerlich und von allerlei Gefahren gezeichnet, doch im Herzen des alten Reiches des Hexenkönigs fanden sie schließlich die Spuren der Schattenhand."
Rilmir schwieg und widmetete sich wieder seiner Pfeife. Kerry fiel auf, dass Gwŷra inzwischen längst aufgehört hatte, fremdartige Worte zu murmeln und der Geschichte des Waldläufers aufmerksam gelauscht hatte. Als der Dúnadan keine Anstalten machte, weiterzusprechen, hielt Kerry es nicht länger aus und sagte: "Und wie ging es weiter? Haben sie den gefangenen Bruder retten können?"
"Das haben sie," antwortete Rilmir ruhig. "Doch was damals dort in Angmar geschah ist nichts, was man erzählen sollte, wenn die Sonne nicht scheint. Ein großes Übel wurde damals abgewendet und das Hexenreich blieb hernach bis heute verlassen. Ich habe die Geschichte erzählt, weil ich denke, dass wir es wie Amarthiúl halten sollten, und die Hoffnung auf eine Rettung nicht aufgeben dürfen, selbst wenn wir diesen Häuptling Yven erst morgen und nur zu Fuß verfolgen können."
Kerry schwieg. Rilmirs Geschichte hatte ihr zu Denken gegeben. Sie hatte die trostlose Wildnis Angmars gesehen und konnte sich gut vorstellen, wie es dort zu Amarthíuls Zeiten ausgesehen haben mochte. Und obwohl sie einen gewissen Trost in Rilmirs Worten gefunden hatte, konnte sie die Sorge um Aéd dennoch nicht ganz ruhen lassen.
Gwŷra blickte den Waldläufer wie gebannt an und schien gerade etwas sagen zu wollen, als ihr Kopf urplötzlich herum ruckte und das Mädchen sich auf dem Felsen, auf dem es hockte, zusammenkauerte. Sie starrte angestrengt in die Dunkelheit hinein, bis sie kurz darauf wisperte: "Es nähert sich jemand, der böse Absichten hegt."
Rilmir verbarg sich rasch in den Schatten des aufrechten Felsbrockens und winkte Kerry zu sich hinüber. Vorsichtig spähten sie in die Richtung, in die Gwŷra gedeutet hatte. Trotz der Dämmerung war der Turm von Orthanc noch immer als schwarzer, gewaltiger Pfeiler inmitten der Festung gut zu sehen. Und noch während Kerry hinsah, hörte sie das Geräusch mehrerer Schritte ganz in der Nähe. Das flackernde Licht von Fackeln in kurzer Entfernung war zu sehen, die sich von Süden her dem Orthancturm näherten.
"Das sind keine Dunländer," wisperte Rilmir in Kerrys Ohr. Als sie einen weiteren Blick aus der Deckung heraus riskierte, sah sie, dass der Waldläufer recht hatte. Zwischen ihrem Versteck und der Treppe, die zum Turmeingang hinauf führte, stand eine Gruppe von Orks, die das gut erkennbare Zeichen der Weißen Hand Sarumans trugen. Angeführt wurden sie von einem hochgewachsenen Menschen in einem grauen Umhang. Als der Mann seinen Blick zum Turm wandte, konnte Kerry sein Gesicht im Licht der Fackeln erkennen.
"Mistkerl," murmelte sie, als sie sich an Forgam erinnerte, der einst Helluins rechte Hand gewesen war. Der grauhaarige Waldläufer zog eine Schriftrolle hervor und entrollte sie, um den Inhalt zu studieren.
"Dies sollte ausreichen, um den Schutzzauber zu brechen, mit dem die Tür versiegelt wurde," drang Forgams grimmige Stimme zu ihnen herüber. Er schien nicht auf eine Antwort seiner Orks zu warten sondern marschierte los, geradewegs auf den Turm zu.
"Schutzzauber?" wiederholte Kerry so leise sie konnte.
"Ich habe in Bruchtal davon gehört," antwortete Rilmir, dem die Besorgnis ins Gesicht geschrieben stand. "Als das Heer Rohans Isengard von Saurons Mund befreite, versiegelten die Herren des Goldenen Waldes den Turm, denn viel Übel war noch immer darin. Wenn die Diener Sarumans nun hier sind, um dieses Siegel zu brechen..."
"Wir müssen sie aufhalten," stellte Gwŷra entschlossen klar. "Ich spüre das Böse, das von diesem Turm ausgeht. Beim Blutmond. Niemand sollte ihn betreten dürfen."
Forgam und seine Orks hatten den Turm erreicht. Der Wind hatte inzwischen aufgefrischt, sodass Kerry nicht verstehen konnte, was am Fuße des Orthanc gesprochen wurde. Noch während sie sich vorsichtig in Bewegung setzten, um näher heran zu schleichen, flammte vor der Türe ein heller Blitz auf, der mehrere Orks zuckend zu Boden stürzen ließ. Forgam stieß die schweren Türen des Turmes mit einiger Anstregnung auf und verschwand im Inneren, gefolgt von seinen überlebenden Schergen. Der Rest wurde achtlos liegen gelassen.
"Uns bleibt keine Wahl. Wir müssen ihnen ins Innere folgen," sagte Rilmir und begann, die Treppe zum Turm hinauf zu steigen. Mit klopfendem Herzen folgte Kerry dem Waldläufer.
Kerry, Rilmir und Gwŷra ins Innere des Orthanc