Aivari aus den Kerkern von Dol Guldur.Als Aivari langsam wieder zu Bewusstsein kam, fühlte er sich als erwache er aus einem fürchterlichen Traum, dem fürcherlichsten den er je hatte durchleben müssen. Viel schlimmer war die Erinnerung an diesen Traum als der stechende Schmerz in seiner Schulter und die schweren Glieder, die wie Steine auf dem weißen Leinentuch lagen, das über seine Liege gespannt war und von trockenem Blut vorheriger Verletzter getränkt war.
Jammern und Klagen war das Erste, das Aivari wieder wahrnehmen konnte und das Licht der Sonne am spärlich bewölkten Himmel. Und die harte Liege unter seinem Rücken. Sein zerzauster Bart war durchzogen von Dreck und Staub, sein Gesicht fühlte sich geschunden an. Er bemerkte wie seine Gedanken zurück wollten, den Ursprung seines Zustandes erörtern, doch Aivari wusste dort erwartete ihn nur unsägliche Trauer und so verbot er es sich selbst daran zu denken.
Stattdessen hob er seinen schweren Kopf und schaute über ein ganzes Lager voller Verletzter und vielleicht sogar Toter. Sie waren außerhalb der Zelte auf Barren und behelfsmäßigen Liegen aufgewartet, von entkräfteten Elben und Menschenheilern – der ein oder andere Zwerg mag auch dabei gewesen sein – umsorgt, die hastig zwischen den Reihen aus Bettstellen umhergingen und versuchten den am schlimmsten Verletzten zuerst zu helfen.
Jetzt bemerkte Aivari, dass seine Schulter bereits verbunden war und der Verband nach Königskraut duftete. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wuchtete er sich mit der gesunden rechten Schulter nach oben.
Neben seiner Liege erkannte er
Shathûr und
Kheled und seinen knorrigen Wanderstab, den er meist nur auf dem Rücken zu tragen pflegte.Von
Azanul fehlte, wie zu erwarten war, jede Spur. Doch die finstren Gedanken, die sich auftaten, als er an diese Waffe dachte, ließen ihn diesen Verlust schnell wieder verdrängen. Auch die plötzliche Ablenkung, die ihn ereilte, tat ihr übriges dazu.
»Wie schön zu sehen, dass Ihr langsam wieder zu Kräften kommt. Wir hatten schon Sorge um Euch, doch Euch fehlte nach diesen schweren Stunden sicherlich auch ausreichend Schlaf und Erholung.«
Die Stimme der Elbenfrau, die vor seiner Liege stehen blieb, war das Wohlklingendste, das der Zwerg seit einer gefühlten Ewigkeit vernehmen durfte und ihr edles Antlitz in langem Gewand, jedoch von Lederstücken und Gamaschen verstärkt, ließen ihn schmunzeln, denn es erinnerte ihn an die Schönheit Fjólas, die er seit so unvorstellbar langer Zeit nicht mehr hatte bewundern können.
»Habt Dank.«, brachte er deshalb nur knapp heraus und schloss sofort die eiligste Frage an, die ihn beschäftigte und die er nicht so leicht verdrängen konnte wie manch andren düstren Gedanken. Einen kurzen Moment zögerte er jedoch sichtlich, weil ihn tatsächlich der Gedanke überkam, ob das rätselhafte Mädchen aus den Kerkern nicht vielleicht bloß eine Einbildung gewesen war, geboren aus dem Wahn der vergangenen Stunden. Doch die Frage trieb ihn zu stark an, als dass er sie hätte verschweigen können.
»Sagt, wie geht es dem Menschenmädchen, das mit mir im Innern der Feste aufgelesen wurde?«
Über das Gesicht der Elbenfrau schien für einen Augenblick ein Schatten zu wandern, obwohl ihre Antwort nicht vollends von Kummer war.
»Sie ist wohlbehalten und bei guter Gesundheit. Doch ihre Anwesenheit hat bei einigen Fragen aufgeworfen, die Ihr vielleicht zu klären in der Lage seid.«
Aivari runzelte die Stirn. »Aber bitte erholt Euch vorher vollständig. Ihr solltet euch nicht jetzt schon wieder solcher Aufregung aussetzen.«, schloss die Elbin rasch an, als sie die Besorgnis im Gesicht des Zwerges las.
»Mir geht es wunderbar.«, log Aivari, denn es drängte ihn dieses geheimnisvolle Mädchen in ruhigeren Umständen wiederzusehen.
»Bitte lasst mich sofort zu ihr.«
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Missmutig hatte die Elbenheilerin dem dickköpfigen Zwerg schließlich nachgeben müssen und ihn von einem Menschen aus der Riddermark den Weg in einen anderen Teil des Lagers weisen lassen, denn sie selbst musste sich den vielen anderen Verletzten widmen.
Der Mensch erzählte Aivari auf dem Weg, dass die Schlacht gewonnen schien, jedoch schon erste Gerüchte über arglistige Schachzüge des weißen Zauberers die Runde im Fußvolk machten. Aivari wunderte dies nicht, doch mehr interessierte ihn, was der Mensch zu dem Mädchen zu sagen hatte, das so überraschend in Aivaris Leben aufgetaucht war.
Ihrem Aussehen nach zu urteilen hielt man sie wohl für eine Frau aus dem Ostvolk, der Menschen aus dem fernen Rhûn, deren Wege sich schon das ein oder andere Mal mit denen von Aivari gekreuzt hatten, wenn auch inzwischen vor sehr langer Zeit.
Die Annahme lag deshalb nicht fern, dass sie eine Spionin des Feindes sei, die sich als Gefangene tarnte, um in die Reihen der freien Völker zu gelangen.
Anscheinend war eine zweite feindliche Armee bestehend aus Rhûnmenschen Sarumans Streitmacht in die Flanke gefallen, was Anlass für den Verdacht gewesen war, dass sich auch Spione aus Rhûn in den Reihen der freien Völker befinden könnten.
Da die Anführer der freien Völker noch im Innern der Feste oder auf dem Rückweg waren, wurde das Mädchen vorerst im Lager festgehalten, obwohl man sich natürlich zunächst um ihre Wunden gekümmert hatte. Wahrlich überzeugt schien niemand davon, dass sie wirklich eine Kundschafterin des Feindes sei, doch man ließ trotzdem äußerste Vorsicht walten und hielt sich an die gängigen Befehlsordnungen. Dies hieß jedoch nicht, dass man sie mittelschwer verwundet, wie sie es gewesen war, einer Befragung unterzogen hätte, die sich durch die fremde Sprache der Frau alsunmöglich erwiesen hätte.
Sie befand sich an einem kleinen Tisch in einem von Rohirrim bewachten Zelt. Für leibliche Versorgung und frische Kleidung war jedoch gesorgt worden. Als Aivari mit seinem menschlichen Begleiter an den Wachen vorbeimarschierte und das Zelt betrat, sprang das Mädchen auf und fiel ihm sogleich um die Arme.Sie sprach einige hastige Worte in der fremden Sprache. Ihren Gesten nach zu urteilen, war sie einfach froh ihn wohlauf zu sehen.
»Wenn Ihr für ihre Unschuld eintretet, wird nicht viel dagegen sprechen, sie sogleich wieder in die Freiheit zu entlassen.«, meinte der Rohir überzeugt. »Trefft mich vor dem Zelt, wenn ihr soweit seid.«
Nachdem der Mensch das Zelt verlassen hatte, musterte Aivari das Mädchen zum ersten Mal in aller Ruhe ohne jederzei wie in den Kerkern die blutdürstende Klinge eines Feindes fürchten zu müssen
Sie war von außerordentlicher, fremdländischer Schönheit und Jugend, etwas mehr als einen halben Fuß größer als er, und damit eine normalgewachsene Menschenfrau. Dennoch zeugte ihr ebenes Gesicht von kleineren Narben und Kratzern, die auf ihrer dunklen Haut jedoch nicht deutlich zu erkennen waren. Sie hatte offensichtlich schon vieles erleiden müssen.
An ihren Handgelenken waren noch die Spuren von Ketten und abgeschürfte Seilabdrücke zu erkennen. Langes, glattes, schwarzes Haar hing ihr bis auf den Rücken, der in ein vermutlich rohirrisches Gewand gehüllt war, das ihr dem Anschein nach keine große Freude bereitete und wegen ihres athletischeren Körpers auch nicht sehr gut saß.
Auch die gekämmten Haare waren ihr wohl ein Graus, da sie bereits begonnen hatte diese wieder zu einem praktischeren Zopf zu flechten, der ihr über die Schulter hing. Die nussbraunen Augen blickten unruhig in die Augen des Zwerges.
Aivari deutete auf die Zeltwand und damit nach draußen. Er nickte ihr versichernd zu.
Das quälende Gefühl der Unfähigkeit sie fragen zu können, warum sie ihn vom Freitod abgehalten hatte, betrübte Aivari jedoch.
Deshalb zeigte er erst einmal mit seiner Hand auf sich selbst und sagte nur »Aivari.«. Dann deutete er auf das Mädchen und setzte einen fragenden Blick auf.
»Inari.«, sagte sie verstehend und beide mussten ob der Ähnlichkeit ihrer Namen kurz auflachen.
»Danke.«, sagte Aivari schließlich und verbeugte sich mit aufeinander gelegten Handflächen.
Sie verstand und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er hatte ihr sein Leben zu verdanken und nun musste er ihr aus dieser Lage heraushelfen.
Sie deutete für einen Moment aus dem Zelt und dann auf ihre Kleidung, machte eine abschätzige Geste, um anschließend noch einmal nach draußen zu deuten.
Aivari nickte, bedeutete ihr jedoch mit der Hand kurz zu warten, als er sich wieder nach draußen begab.
»Lasst das arme Mädchen wieder auf freien Fuß.«, meinte Aivari sogleich zu dem Eorling, der sich bei den Wächtern aufgestellt hatte. »Ich glaube sie hat schwere Zeiten hinter sich und hat es nicht verdient hier festgehalten zu werden. Ich bürge für ihre Unschuld.«
»Dann soll eurer Bitte nachgegeben werden.« Der Mann senkte noch einmal zustimmend den Kopf und wollte das Mädchen sogleich herausbegleiten, doch Aivari hielt ihn noch kurz auf.
»Sagt... die schwarze Klinge, die das Mädchen bei sich führte... wo habt Ihr sie aufbewahrt?»
»Gleich hier in der Nähe, in einer Truhe in meinem Zelt.« Der Mensch zeigte auf ein angrenzendes Zelt. »Ist es Euer Schwert?«
Aivari überlegte ob er dem Menschen die Wahrheit sagen oder sich jetzt und hier für immer von dem Schwert trennen sollte. Diese Klinge hatte furchtbare Dinge bewirkt. Seit sie vor unzähligen Jahren in Aivaris Besitz überging, in den Ered Mithrin auf einem Streifzug mit seinen Kampfgefährten, schien Aivaris Weg von Düsternis geprägt. Ihr Name, der Schatten bedeutete, hatte in des Wortes wahrster Bedeutung auch einen Schatten auf Aivaris Leben geworfen. Doch eigentlich schenkte er solch Ammenmärchen keinerlei Beachtung. Dennoch schien es ihm deshalb nicht das Richtige dem Eorling diese verfluchte Waffe aufzubürden.
»Ja. Es würde mich freuen, wenn Ihr es mir wieder überreichen würdet.«
Er lächelte knapp und fügte noch hinzu: »Ach, und hättet ihr vielleicht einen Lederwams, ein paar Gamaschen, eine Hose, Stiefel, einen Umhang und einen solchen Helm, wie ihr sie auch tragt?«
Der Mann wirkte etwas verwirrt, erwiderte aber trotzdem in aller Höflichkeit:
»Nicht in eurer Größe, fürchte ich.«
»Das macht mir nichts aus.«
»Dann sollte es kein Problem darstellen.« Der Mensch schien hinreichend überzeugt oder wollte einfach nicht weiter nachfragen, was Aivari nur gutheißen konnte.
»Und noch eine Sache...« Aivari stellte sich einem Gedanken, der ihm gerade in den Sinn gekommen war.
»Wie steht es um die Gefangenen des Feindes? Ist es möglich die Kerker noch einmal zu betreten?«
»Ich fürchte dort werdet Ihr nichts mehr vorfinden. Oder vielleicht auch erfreulicherweise. Wir wissen selbst noch nicht alles, doch von dem was wir gehört haben, sind fast alle Gefangenen in den letzten Zügen der Schlacht vom fliehenden Feind erschlagen worden. Die wenigen die gerettet werden konnten, dürften zu schwach und gebrochen sein, um je wieder ein normales Leben zu führen. Möglicherweise können wir den Leichnamen mit einem großen Feuer die letzte Ehre erweisen. Es wäre das Mindeste, was wir noch tun können.«
Der Mensch bemerkte mit einem Hauch einer kummervollen Mine, dass Aivari sehr bedrückt auf diese Nachricht reagierte.
»Habt Ihr dort jemanden vermutet?«
»Nein... entschuldigt die Nachfrage.«
»Nicht dafür, Herr Zwerg, nicht dafür. Also dann, ich hoffe, dass Ihr schnell wieder zu Kräften kommt!«
Aivari dankte ihm, noch immer etwas abwesend, ehe er sie schließlich beide entließ und Aivari ein Bündel überreichte, in dem sein Schwert und die kennzeichnende Montur der Rohirrim verborgen war, sowie ein golden-grün verzierter rohirrischer Helm darauf gelegt. Auf dem Weg zurück zu Aivaris Lagerplatz schwieg Inari, wirkte zurückhaltend und scheu. Sie fiel trotz ihres dunkleren Hauttons nicht besonders auf. Der Sommer war in diesem Jahr und in dieser Gegend heiß gewesen und viele der anderen Menschen waren ebenfalls gebräunter als es üblich war.
An einem leeren Zelt zwischen dem Lager der Zwerge und Rohirrim machten sie Halt, sodass Inari ihr Gewand gegen die Kleidung tauschen konnte, die sie bevorzugte.
Da es sich bei der Ausrüstung natürlich um Maße für einen Mann handelte, wirkte sie etwas verloren in dem weiten Oberteil und der Stoffhose, doch sie zog die Riemen an Schulterplatten, Stiefeln, Gamaschen und Gürtel etwas enger und band die Haare über den Kopf, sodass der Helm etwas mehr ausgefüllt wurde. In ihrer neuen Kleidung sah sie einem jungen Rohirrim recht ähnlich, Aivari hätte sie jedoch mit seinem Wissen wahrscheinlich aus großer Entfernung erkennen können.
Als sie sich nun wohler in ihrer Haut fühlte, ließ sie sich mit einem Mal auf den Boden Fallen und Tränen liefen ihr über die Wange, sie lachte und schluchzte zugleich. Aivari war einen Moment besorgt, aber stellte rasch fest, dass Erleichterung sie überkommen hatte. Tatsächlich fühlte er sich gerade sehr ähnlich, ließ sich jedoch nichts anmerken.
Inari deutete noch einmal auf die Abdrücke an ihren Händen, die schon älter zu sein schienen, als aus den Kerkern der dunklen Festung. Möglicherweise war sie bereits mit Fesseln in diese Lande gebracht worden? Aivari dachte an die dunklen Geschichten, die sich die Zwerge in den Eisenbergen über das Menschenvolk von Rhûn erzählten. Von Sklaventum und gottgleichen Herrschern, die ihr Volk ausbeuteten. Er mochte sich kaum vorstellen, was dieses junge Mädchen bereits erlebt hatte.
Wie zur Bestätigung deutete sie gen Osten an Dol Guldur vorbei, aus dem noch immer Rauchschwaden aufstiegen.
»Rhûn.«,sagte sie knapp und wusste, dass Aivari verstand.