Am frühen Abend fand sich Cyneric vor Irwynes Zelt zu einem letzten gemeinsamen Abendessen ein, bevor sich ihre Wege für einige Zeit trennen würden. Er selbst würde im Schutze der Dunkelheit losreiten, in aller Heimlichkeit. Zwar spürte er hier und dort in seinem Körper noch die Nachwirkungen der Schlacht, doch mit jeder Stunde die verging verblassten diese mehr und mehr.
Auch Antien, Finelleth und Irwyne planten, noch an diesem Abend aufzubrechen. Ihre Habseligkeiten standen griffbereit neben der Kochstelle, an der Antien ein Abschiedsmahl zubereitet hatte. Viel nahmen sie nicht mit, auch wenn der Weg nach Bruchtal beschwerlich werden würde. Doch in den Landen östlich des Nebelgebirges waren die Diener Sarumans unterwegs, und es würde sich bezahlt machen, dank dem leichten Gepäck eine schnellere Reisegeschwindigkeit zu erreichen.
"Es schmeckt wunderbar," sagte Irwyne mit vollem Mund.
Antien schenkte ihr ein Schmunzeln. "Hast du etwas anderes erwartet?"
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
"Ein gut gefüllter Magen befeuert Körper und Verstand," meinte Finelleth. Die Elbin lehnte an einem breiten Pfahl, der Teil eines hölzernen Wachturms war, und ließ eines ihrer Wurfmesser in den Fingern kreisen. "Beides werden wir brauchen wenn wir
Cirith Forn en Andrath erreichen. Wir wissen nicht, ob der Pass noch frei von Feinden ist, nun da die Orks der Hithaeglir wieder unsere Feinde sind."
"Orks waren stets die Feinde der Freien Völker," warf Cyneric ein. "Dieses Bündnis mit Saruman war von Anfang an nichts als ein Trugbild, eine List des Zauberers, der unsere Krieger für seine Zwecke einsetzte."
Irwyne nickte zustimmend. Cyneric wusste, dass ihr Dorf einst von Orks überfallen worden war. Sie verstand ganz genau, welche Gefahr diese Kreaturen darstellten.
Sie weiß, was es bedeutet, wenn man seine Heimat und Familie verliert, dachte er.
"Und was wirst du tun, wenn du nach Rhûn reitest?" unterbrach Finelleth seine Gedanken. "Hast du schon einen Plan gemacht?"
"Wir reiten mit wenig Last, und schnell, immer im Schutze der Dunkelheit, um ungesehen so weit wie möglich nach Osten zu gelangen," erklärte Cyneric. "Je näher wir dem Reich der Ostlinge kommen, desto vorsichtiger müssen wir werden. Die Pferde Rohans sind ausdauernd und in der Not zu langen Sprints in der Lage, daher bin ich zuversichtlich dass wir alle Verfolger hinter uns lassen könnten falls wir entdeckt werden. Doch je mehr wir für Marschall Erkenbrand herausfinden können, desto besser. Vielleicht können wir sogar Kontakt zu den Widerstandskämpfern aufnehmen, von denen die Ostlinge berichteten, die sich Erkenbrand ergeben haben."
"Es ist gut, vorsichtig und besonnen zu sein," befand Finelleth. "Die Ebenen Rhovanions werden euch zum Vorteil gereichen, denn dort können Reiter hohe Geschwindigkeiten erreichen. Soweit ich weiß sind diese Lande offen und weit, ohne Hindernisse."
"Das ist gut," antwortete Cyneric. "Es bedeutete jedoch auch, dass wir tagsüber schon von Weitem zu sehen sein werden."
"Vor allem von oben," warf Irwyne ein. "Vielleicht gibt es noch mehr von diesen geflügelten Ungeheuern."
"Lass' uns nicht von ihnen sprechen," sagte Finelleth sanft. "Heute Abend wollen wir froh sein, dass wir alle die Schlacht überstanden haben und die verbliebene gemeinsame Zeit genießen."
Und genau das taten sie dann auch. Geschichten wurden erzählt und Lieder wurden gesungen. Für wenige Stunden vertrieben sie die Sorgen über die Zukunft mit Fröhlichkeit und Gemeinschaft. Doch viel zu schnell verstrich die Zeit und der Abschied rückte näher.
Außerhalb des Heerlagers, das sich bereits im Abbau befand, trafen sie ein letztes Mal zusammen: Antien, Finelleth und Irwyne reisefertig mit Rucksäcken und Bündeln, Cyneric mit seinem Ross Rynescead, der geduldig neben ihm stand. Die übrigen vier Reiter hielten sich im Hintergrund zum Aufbruch bereit, auf dem Rücken ihrer Pferde wachsam nach Osten blickend.
Irwyne umarmte Cyneric lange und innig. "Pass auf dich auf, hörst du?" verlangte sie. "Wenn du deine Aufgabe im Osten erledigt hast, musst du mich in Imladris besuchen kommen. Versprichst du es mir, Cyneric?" Ihre Stimme hatte einen traurigen Klang angenommen, doch auch Zuneigung und Entschlossenheit konnte er darin erkennen.
"Ich verspreche es," antwortete er leise. "Ich verspreche es dir."
Irwyne vergrub ihr Gesicht in seinen Armen. Einen Moment blieben sie still stehen, den Schmerz der Trennung teilend. Dann löste sie sich von ihm, ein kleines Lächeln im Gesicht, begleitet von einigen wenigen Tränen die sich ihre Wange hinunter stahlen.
"Wir sehen uns wieder," versicherte Cyneric dem Mädchen.
"Ich weiß," brachte sie hervor. "Ich werde in Gedanken bei dir sein."
Cyneric zog das Stück Stoff hervor, auf dem der Abdruck der Hand seiner Tochter zu sehen war und drückte es Irwyne in die Hand. Sie schloss die Finger darum und nickte. Sie wusste, worum es sich dabei handelte.
"Möge es dir Trost spenden wenn du dich einsam fühlst," sagte er sanft.
"Einsam? Wo denkst du hin, mein Freund?" warf Antien gut gelaunt ein. "Ich und die große böse Kriegerin hier werden schon dafür sorgen, dass es dazu nicht kommt, nicht wahr?"
Finelleth schoss einen tödlichen Blick zu Antien hinüber, grinste dann jedoch Irwyne an. "Langweilig wird es auf unserem Abenteuer gewiss nicht werden, nicht mit mir und diesem vorwitzigen Sänger als Begleitung."
"Du wirst meine Lieder noch zu schätzen wissen," wehrte sich Antien.
"Und du wirst noch froh darüber sein, dass wenigstens einer von uns mit Waffen umgehen kann wenn wir erst in Schwierigkeiten geraten," gab die Elbin zurück.
"'Wenn'? Du meinst hoffentlich 'Falls', meine Liebe," korrigierte Antien, was Finelleth erst mit einem Seufzen, dann mit herzlichem Gelächter kommentierte. Alle stimmten sie mit ein.
Und dann war er da, der Augenblick des Abschiedes. Irwyne winkte, als sich Cyneric auf Rynesceads Rücken schwang. Ein letztes Mal blickte er zurück auf die vom Feuerschein der von Finelleth getragenen Fackel erhellten Gesichter und hob ebenfalls die Hand.
"Gute Reise!" rief Irwyne.
"Sichere Wege," antwortete Cyneric. Dann wandte er sich ab.
Rynescead setzte sich in Bewegung, einen flotten Trab anschlagend. Die vier anderen Reiter schlossen zu ihm auf und gemeinsam suchten sie sich ihren Weg zum Waldrand südöstlich Dol Guldurs. Die Reise nach Osten hatte begonnen.
Cyneric nach Süd-RhovanionAntien, Finelleth und Irwyne zum Hohen Pass