Aerien erwachte aus einem wirren Traum, als ein kühler Windhauch ihr Haar verwirbelte. Es war unter den hohen Nadelbäumen noch dunkel, nur im Osten deutete sich mit leichtem Zwielicht die Morgendämmerung an. Das Feuer war zu einem winzigen Haufen Glut zusammengeschmolzen. Während Aerien sich vorsichtig umsah, schwanden die nebelhaften Eindrücke ihres Traumes mehr und mehr dahin. Sie hatte ein fremdes, grünes Tal gesehen, aber an mehr erinnerte sie sich nicht.
Narissa lag ruhig schlafend neben ihr und hatte Aerien den Rücken zugewandt. Behutsam, um sie nicht aufzuwecken, setzte Aerien sich auf. Als Erstes entdeckte sie Aino, den jungen Ostling, der etwas abseits lag und ebenfalls noch schlief. Und ganz auf der anderen Seite des kleinen Lagers, zwischen den Bäumen, waren mehrere große Schemen zu sehen - es mussten Pferde sein. Ehe Aerien sich die Frage stellen konnte, woher die Tiere gekommen waren, erspähte sie bereits die Antwort darauf: Hinter den Pferden waren Gandalf und Aragorn in ihr Sichtfeld geraten. Beide schienen sich leise zu unterhalten. Als Aerien, neugierig geworden, die Ohren spitzte, stellte sie fest, dass es sich um einen Streit zu handeln schien.
"Ich halte das für unklug, Aragorn," sagte Gandalf. "Noch immer wissen wir nicht, wer alles zuhören könnte. Von deinem Zustand erst gar nicht zu sprechen."
"Es muss getan werden, Gandalf, und zwar bald," erwiderte Aragorn leise, sodass sich Aerien anstrengen musste, seine Worte zu verstehen. "Ich habe genug Zeit in den Kerkern des Dunklen Herrschers vergeudet. Ich
muss wissen, wie die Dinge stehen."
"Dafür brauchst du dieses Ding nicht," erwiderte Gandalf. "Es gibt viele Nachrichten, die das Ohr der Königin Rohans erreichen. Sprich mit Éowyn, sobald du dich erholt hast."
"Éowyn wird nicht alle Antworten haben. Du hast die Inschrift Cirions gesehen, oder etwa nicht? Minas Tirith bleibt für uns außer Reichweite. Und das Wissen des Nordreiches ging entweder mit Arvedui unter, oder gelangte in Elronds Bibliothek, und deren Inhalt ist mir gut geläufig - sie bietet mir keine Antworten. Ich muss es tun."
Gandalf schwieg einen Augenblick. "Ich rate dir zu Besonnenheit, mein Freund," begann er schließlich. "Rohan mag uns sicher erscheinen, aber eine solche Tat, wie du sie vorhast, würde viele unfreundliche Augen auf dieses Land richten, was so lange unter dem Krieg gelitten hat. Wenn du weiterhin entschlossen bist, es zu riskieren, dann warte bitte wenigstens bis wir in Dol Amroth sind."
Aragorn schien noch etwas antworten zu wollen, doch in diesem Augenblick regte sich Narissa im Schlafe und ihr Fuß verursachte ein lautes Knacken im Unterholz. Sofort erstarb das Streitgespräch, und Aragorn und Gandalf kehrten nach wenigen Momenten zum Lagerfeuer zurück.
"Ah, du bist wach," begrüßte Aragorn Aerien, die ihn mit einem ganzen Dutzend Fragen in den Augen anblickte, sich aber beherrschte. "Wir haben Glück, einen Zauberer bei uns zu haben. Gandalf hat Pferde für uns aufgetrieben."
Gandalf stützte sich auf seinen Stab und musterte Aerien eindringlich. Noch immer wusste sie nicht recht, was sie von dem Zauberer halten sollte. Eine geheimnisvolle, beinahe schreckliche Aura schien ihn zu umgeben. Rasch musste sie den Blickkontakt abbrechen. Sie hatte stets das Gefühl, dass Gandalf sie nicht so leicht willkommen heißen würde, wie es Aragorn getan hatte.
"Es ist nicht mehr als ein Tagesritt bis zu den Toren Aldburgs," sagte Gandalf. "Wir sollten rasch aufbrechen, wenn wir die Stadt bei Sonnenuntergang erreichen wollen."
"Der Gedanke, nach so vielen Monaten wieder in einem echten Bett zu schlafen, lässt mich die Erschöpfung der letzten Wochen beinahe vergessen," scherzte Aragorn. "Beinahe."
Sie weckten Narissa und Aino. Anschließend nahmen sie ein karges Frühstück zu sich. Aerien fiel dabei auf, dass Narissa munter mit dem Zauberer plauderte und offenbar jegliche Vorsicht Gandalf gegenüber abgelegt hatte. Am liebsten hätte sie etwas gesagt, doch immer wenn sie in seine Richtung schaute, kam es ihr vor, als würde Gandalf ihr einen warnenden Blick zuwerfen, der Aerien zurückschrecken ließ. So blieb sie während des Frühstücks still, bis sich Aino neben sie setzte.
"Ich hätte nicht gedacht, dass es einen Ort gibt, an dem so viele Bäume wachsen," sagte der junge Ostling und schenkte Aerien ein schüchternes Lächeln.
Nachdenklich betrachtete sie ihn. Bis jetzt wusste Aerien nur, dass Aino aus Rhûn stammte, der Sohn eines hochrangigen Kommandanten war, und dass er nun desertiert war. Auch über das Land der Ostlinge wusste Aerien nur wenig - ihr Interesse hatte schon immer den Reichen der Dúnedain gegolten. Über Rhûn wusste sie nur, dass weite Flächen des Landes aus steppenartigen Ebenen bestanden. Das würde Ainos Verwunderung über den Wald, in dem sie nun lagerten, erklären.
"Gibt es in deiner Heimat keine Wälder?" fragte sie halbwegs interessiert.
Aino legte den Kopf schief. "Ich weiß es nicht," gab er zu. "Ich habe die Hauptstadt nur selten verlassen, bis mein Vater mich zu Armee geschickt hat." Er blickte sich um, als fürchtete er, jeden Augenblick überfallen zu werden.
"Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst," sagte Aerien. "Wir haben die Grenze Rohans überschritten und sind vorerst in Sicherheit."
Der junge Ostling schien sich davon ein wenig beruhigen zu lassen. Er blickte hinauf zum Geäst über ihren Köpfen, durch das die ersten Sonnenstrahlen hindurchblinkten. "Dieses Land ist mir fremd," sagte Aino. "Es ist... gleichzeitig aufregend und beängstigend."
"So kam es mir auf meiner ersten Reise ebenfalls vor," erzählte Aerien. "Ich verließ Mordor und war zum ersten Mal wirklich frei - oder zumindest glaubte ich es damals."
"M-Mordor?" wiederholte Aino und war bleich geworden. "Du kommst aus-"
Er starrte Aerien an und schien sie zum ersten Mal richtig wahrzunehmen. Unwillkürlich rückte der junge Ostling ein Stück von Aerien ab, ehe er vehement den Kopf schüttelte und seine ursprüngliche Position wieder einnahm. "Verzeih' mir! Ich wollte nicht..."
"Es ist in Ordnung, Aino," sagte Aerien. "Du hast Recht, ich kam einst aus Mordor. Doch ich habe dieses Leben hinter mir gelassen und stehe auf der Seite jener, die gegen den Dunklen Herrscher kämpfen."
"Oh, das ist gut, das ist sehr gut," antwortete Aino erleichtert. "Es wäre schade um... also, ich meine, wenn du..." Verlegen blickte er zu Boden, ohne seinen Satz zu beenden.
"Und wie das gut ist," mischte sich Narissa ein. "Hast du ihn etwa mit einer deiner Schauergeschichten erschreckt, die du als Kind erlebt hast?"
"Das klingt eher nach etwas, was
du tun würdest, 'Rissa," konterte Aerien lächelnd.
"Oh, und wie ich das würde," meinte Narissa frech. Sie zog einen ihrer Dolche hervor und ließ ihn spielerisch durch ihre Finger wandern. "Weißt du, wie alt ich war, als ich zum ersten Mal einen Menschen getötet habe?" fragte sie in Ainos Richtung.
"Lass' ihn in Frieden," ging Aerien dazwischen.
"Spielverderberin," murrte Narissa und steckte den Dolch wieder weg. Sie stand auf und deutete auf die Pferde, die noch immer wartend am Rande des kleinen Nachtlagers standen. "Habt ihr gesehen, was für prächtige Tiere uns Gandalf da gebracht hat?"
Auf Aerien wirkten die Pferde nicht sonderlich unterschiedlich zu jenen, die sie bisher auf ihren Reisen gesehen hatte. Doch sie wusste, dass Narissa den schärferen Blick von ihnen beiden hatte.
"Nun, dies ist Rohan, das Land der Pferdeherren," meinte der Zauberer. "Ein Volk stolzer und ausgezeichneter Reiter bringt ebenso ausgezeichnete Rösser hervor."
Der Zauberer stand auf. Wie auf ein unhörbares Stichwort trat aus den Schatten des Waldes in diesem Moment ein weiteres Pferd an den Rand des Lagers. Und diesmal konnte selbst Aerien die Tatsache nicht verleugnen, dass es sich um ein ganz besonderes Tier handelte. Ein fürstlicher, silbergrauer Hengst ohne jegliches Zaumzeug schritt anmutig an ihr vorbei, um vor Gandalf zum Stehen zu kommen.
"Dies ist mein Freund Schattenfell, der Herr der
Mearas," erklärte der Zauberer. "Heute nach rief ich nach ihm, denn er befand sich gestern noch in den Weiten des Woldlandes im Norden." Gandalf tätschelte die Flanke und Mähne des Hengstes, der ein freudiges Schnauben von sich gab.
"Das ist mal ein Augenöffner," murmelte Narissa. Selbst Aragorn wirkte einigermaßen beeindruckt.
"Packt euer Gepäck auf die übrigen vier Pferde," wies Gandalf sie an. "Wir brechen auf."
Aerien wählte das kleinste der vier Pferde, die Gandalf ihnen gebracht hatte. Es war ein freundliches Tier, dessen braunweiß-geschecktes Fell im Licht der Morgensonne glänzte. Als Aerien in den Sattel geklettert war, stellte sie fest, dass sie Karab vermisste. Der gondorische Hengst war ihr wie kein anderes Pferd vertraut gewesen und sie hatte sich an sein ruhiges Laufmuster gewöhnt. Das rohirrische Pferd hingegen war etwas lebhafter und Aerien wäre bei den ersten Schritten des Tieres beinahe heruntergefallen.
Ich hoffe, es geht dir auf der Insel gut, Karab, dachte sie. Der Hengst war auf Tol Thelyn geblieben, als Narissa und Aerien mit dem Schiff nach Harondor gefahren waren, um die ersten Schritte auf ihrer gefahrvollen Reise nach Mordor zu tun.
Narissa wirkte aufgekratzt und voller Tatendrang. Aerien vermutete, dass ihre Freundin in der vergangenen Nacht besonders gut geschlafen hatte. Sie selbst fühlte sich ein wenig beklommen; das Land in dem sie sich befanden wirkte bislang auf Aerien wenig einladend. Obwohl sie froh darüber war, das Schlimmste hinter sich zu haben, fragte sie sich mit einiger Besorgnis, was wohl in der Hauptstadt Rohans auf die aus Mordor Entkommenen warten würde...
Narissa, Aerien, Gandalf, Aragorn und Aino nach Aldburg