Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gondor (West)
Die Pinnath Gelin
Fine:
Stunde um Stunde verging, ohne dass sich etwas von Belang ereignete. Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Als Valion durch das kleine Fenster hinaus spähte, sah er den Mond durch die Lücke zwischen den Bergen Nordwesten leuchten, wo der Pass von Cirith Minuial lag. Die Stadt, die sich unterhalb des Turms in dem Valion und Erchirion gefangen waren, ausbreitete, lag größtenteils im Dunkeln, nur vereinzelte Fenster waren noch erhellt. Valion sah an mehreren Stellen Gruppen von Bewaffneten durch die Straßen patrouillieren, die Fackeln trugen und sich wachsam umsehen.
Vermutlich suchen sie nach der Kleinen, dachte er sich, als ihm einfiel, dass das Mädchen Magrochil noch immer verschwunden geblieben war. Valion hatte die Hoffnung inzwischen aufgegebenen, dass es Magrochil irgendwie gelingen könnte, in den Gefängnisturm einzudringen und ihre Zelle zu öffnen. Sie war allein in einer Stadt voller Feinde, die schon lange nicht mehr ihre Heimat war. Nein, wir sind auf uns selbst gestellt, schloss er und sank mit einem frustrierten Seufzen an der Rückwand der Zelle hinab.
Er wechselte kaum ein Wort mit Erchirion, der ebenfalls so wirkte, als habe er seinen Optimismus inzwischen verloren. Valion hatte Boden und Wände der Zelle mehrfach gründlich untersucht, doch es gab nichts zu finden, was ihnen irgendwie die Flucht hätte ermöglichen können. Bis auf Weiteres saßen sie fest, während draußen Maegonds irrsinnige Separatistenbewegung ungehindert neue Pläne schmieden konnte.
Irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn Valion wurde einige Zeit später von den Gefängniswärtern unsanft geweckt und auf die Beine gezerrt. Noch immer sprachen die Männer kein Wort, sondern schleiften ihn einfach mit sich, die Treppe hinab. Sie kamen in einen der kleineren Burghöfe, gelegen in einer Nische zwischen der Außenmauer, dem Gefängnisturm und der Rückwand der großen Halle, in der sie in Gilvorns Falle getappt waren. Fackeln erhellten den Bereich, getragen von Soldaten mit dem Abzeichen der Pinnath Gelin auf ihren Schilden. Zwischen ihnen stand ihr Anführer, Maegond, der einen prunkvollen roten Umhang trug, der mit teurem Pelz besetzt war. Und daneben entdeckte Valion seine Zwillingsschwester, die von zwei Soldaten festgehalten werden musste. Valirës Rüstung und Waffen waren verschwunden. Stattdessen trug sie ein teures Kleid, das an beiden der langen Ärmel Risse aufwies. Für Valion ein deutlicher Hinweis, dass sich seine Schwester nicht freiwillig umgezogen hatte, sondern erheblichen Widerstand geleistet hatte. Valirë hielt den Kopf trotzig erhoben. Auf ihrer Wange prangte ein frischer Bluterguss und ihr blondes Haar war ein Chaos aus wilden Strähnen, das sich über ihren Rücken ergoss.
Grob wurde Valion vor Maegond zu Boden gestoßen. Zwei Soldaten packten ihn an den Armen und zwangen ihn in eine kniende Position.
Maegond, ein bösartiges Grinsen im Gesicht, legte ihm die Hand unters Kinn. Die kalte Berührung machte Valion klar, dass der Größenwahnsinnige eiserne Handschuhe trug. Er erwiderte Maegonds Blick und hielt ihm stand. Da lachte sein Gegenüber und versetzte ihm einen heftigen Faustschlag, der Valion erneut zu Boden schickte.
Während ihn die Soldaten wieder aufrichteten und er Blut ausspuckte, begann Maegond zu sprechen. “Du fragst dich sicher, was diese... Unannehmlichkeiten um diese Uhrzeit zu bedeuten haben.” Ein weiterer Faustschlag folgte, diesmal gegen Valions Stirn. Die Haut platzte auf und Blut floss über seine Nasenspitze herab.
“Aufhören,” rief Valirë zornig und kämpfte gegen den Griff der Soldaten an. “Fass ihn noch einmal an, und ich werde...”
“Du wirst mir endlich geben, was ich will, oder ich werde weitermachen, bis du deinen Bruder nicht mehr wieder erkennen wirst,” drohte Maegond, der ihr nicht einmal den Kopf zugewandt hatte. “Meine Geduld ist bald zu Ende.”
“Ich habe bereits einen Verlobten,” fauchte Valirë. “Niemals werde ich die Frau eines Wahnsinnigen werden!”
“Oh, der gute Prinz wird leider nicht mehr lange unter uns weilen,” antwortete Maegond und ließ einen heftigen Faustschlag gegen Valions Kinn folgen. Er musste die Zähne zusammenpressen, um sich nicht auf die Zunge zu beißen. Valion fiel rücklings auf den kalten, gepflasterten Boden des Burghofes. Er wäre am liebsten liegen geblieben, doch Maegonds Soldaten rissen ihn wieder hoch in die kniende Position.
“Erchirion wird hängen, und zwar schon morgen, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat,” fuhr Maegond fort. “Dann wird ganz Gondor sehen, was wir in Arandol mit Verrätern machen.”
“Ihr seid es, die Gondor verraten haben,” widersprach Valirë.
“Nicht wir haben den Zorn Mordors auf uns geladen, o nein. Das waren die selbstsüchtigen, kriegstreiberischen, uneinsichtigen Prinzen von Dol Amroth, die um ihre hohe Stellung fürchteten. Ich weiß schon lange, dass es im neuen Gondor keinen Platz mehr für Imrahil und seine Familie gegeben hätte.”
Er wandte sich Valion wieder zu. “Nun, es scheint mir fast, als ob wir hier einige... weitreichendere Maßnahmen benötigen werden.” Maegond zog sein Schwert, das an seiner Seite gehangen hatte und setzte die Spitze an Valions linken Arm. Langsam drückte er zu und zog eine tiefe, blutige Spur den Oberarm hinab, bis zu Valions Ellenbogen. Der Schnitt begann sofort zu bluten. Valion gab ein unterdrücktes Schmerzgeräusch von sich, als er es nicht mehr aushielt.
Ein rascher Blick zu seiner Zwillingsschwester zeigte ihm, wie sehr Valirë mit sich kämpfte. Trotz und Verzweiflung waren in ihren Augen zu sehen. Doch Valion schüttelte den Kopf. Sie durfte nicht nachgeben, selbst wenn Maegond ihn dafür umbrachte. Würde sie der Heirat mit dem selbst ernannten Herrn der Pinnath Gelin zustimmen, wäre dies ein gewaltiges Zeichen. Eine hochrangige Adelige Gondors verstößt einen der Prinzen von Dol Amroth und legitimiert durch ihre Hochzeit Maegond von Arandol als Herrscher des Westens Gondors. Das würde der Unterstützung für Dol Amroth das Rückgrat brechen und würde auf kurz oder lang dafür sorgen, dass die Horden Mordors die Front bei Linhir überrannten. Zu viel stand auf dem Spiel. Valirë durfte Maegonds Forderung nicht nachgeben.
Valion sah, dass sie verstand, doch er wusste, wie sehr es sie quälte, ihn leiden zu sehen. Schon seit ihrer Geburt hatten die Zwillinge sowohl Freuden als auch Schmerzen miteinander geteilt und waren nur selten für längere Zeit voneinander getrennt gewesen. Es war eine engere Bindung, als es sie zwischen gewöhnlichen Geschwistern gab. Und Maegond schien das sehr gut zu wissen.
“Noch immer uneinsichtig? Nun, ich habe die ganze Nacht Zeit. Machen wir weiter.” Er packte Valion am Kragen und versetzte ihm drei rasch nacheinander folgenden Schläge in die Magengrube, die Valion nach Luft schnappen ließen. An den Rändern seines Sichtfeldes begann sich eine unheilvolle Dunkelheit zu sammeln und er wusste, dass seine Wunden ernst waren.
Valirë stieß einen derben Fluch aus, doch es schien, als würde sie standhaft bleiben. Maegonds Reaktion darauf bestand darin, erneut sein Kurzschwert zu ziehen und dieses ungerührt mitten in Valions linken Oberschenkel zu rammen. Der Schmerz war diesmal zu viel, um still zu bleiben. Ein Schrei des Schmerzes entfuhr ihm, als Maegond die Klinge herausriss.
“Du bist ein Monster!” schrie Valirë, nun mit echter Verzweiflung in der Stimme. Erste Tränen liefen ihr über das Gesicht, ein Zustand, der bei ihr nur sehr selten vorkam.
“Ich tue nur das, was ich für richtig erachte,” entgegnete Maegond, der nun einen kleinen Dolch hervorgezogen hatte und diesen in der Hand hielt. “Also. Wer braucht schon zwei Augen? Gewiss kannst du auf eines verzichten, nicht wahr, Valion?”
Die Soldaten rissen Valions Kopf nach oben. Maegonds Klinge verharrte direkt vor seinem linken Auge, die Spitze bereits so nah, dass er sie nur verschwommen sehen konnte. Maegond hatte seine Kehle mit dem stählernen Handschuh gepackt und drückte langsam zu. Die Klinge nahm etwas Abstand, wie um sich zum Zustoßen in Position zu bringen.
“Bei den verdammten Sieben Sternen! Ich werd’s tun, ich werd’s tun, hörst du?”
Valion schloss die Augen. Valirë hatte schließlich doch nachgegeben.
“Lass ab von ihm, du hast doch was du wolltest!” Valirë klang voller Angst. So hatte Valion seine Schwester noch nie reden gehört.
“Nein. Ich sorge dafür, dass du niemals vergisst, dass ich es ernst meine.”
Kalter, scharfer Stahl bohrte sich in Valions Haut, direkt neben seinem linken Auge, und zog eine wie Feuer brennende Spur hinter sich her. Zweimal hinauf, zweimal hinab. Maegond hatte ihm den ersten Buchstaben seines Namens als grausame Schnittnarbe eingeritzt.
Das letzte, was Valion hörte, war Valirës Schluchzen, ehe ihn ein Faustschlag endgültig die Besinnung verlieren ließ.
Schmerz weckte ihn. Valion lag in seiner Zelle, nahe der Gitterstäbe, die ihn von der Freiheit trennten. Erchirion kniete neben ihm und war gerade damit fertig geworden, Valions zahlreiche Wunden zu verbinden. Sein Arm und sein Oberschenkel schienen im Augenblick nicht mehr zu bluten, doch er konnte beide Körperteile nur unter großen zusätzlichen Schmerzen bewegen. Vorsichtig tastete Valion nach der Schnittverletzung neben seinem Auge, die unter einem besonders dicken Verband verschwunden war. Als er den blutgetränkten Stoff auch nur leicht berührte, explodierte ein so intensiver Schmerz darunter, dass er sich wünschte, wieder bewusstlos zu sein.
“Ich glaube, die Klinge des Dolches war vergiftet,” sagte Erchirion tonlos. “Ich habe von hier oben mit angesehen, was geschehen ist. Die Wunde an deinem Gesicht hört einfach nicht auf zu bluten. Ich musste schon dreimal neue Verbände darauf legen.”
“Dieser Mistkerl,” knurrte Valion. “Er hat Valirë dazu gezwungen, ihn zu heiraten, und das bedeutet...”
“Ja, ich weiß,” entgegnete Erchirion. “Es bedeutet, dass wir versagt haben.”
Erneut verfielen sie ihn bedrücktes Schweigen. Noch zwei weitere Male musste Erchirion Valion Verbände wechseln, bis die Wunde endlich nicht mehr blutete. Die Haut ringsum hatte sich in einem ungesunden violetten Ton verfärbt und sein linkes Auge schwoll mehr und mehr zu. Valion ertrug die Schmerzen und versuchte, zu schlafen.
Obwohl Erchirion schließlich einschlief, gelang es Valion diesmal nicht. Er zog sich mühsam auf die Beine und warf einen Blick aus dem kleinen Fenster. Da er nicht nach Osten, sondern nur nach Westen blicken konnte, konnte er nicht erkennen, ob die Sonne sich bereits ankündigte. Noch lag Arandol im Schatten der Nacht. Unten in den Straßen sah er eine weitere Patrouille vorbeiziehen.
Valion blieb einen Augenblick dort am Fenster stehen. Er bildete sich ein, ein Geräusch gehört zu haben, das nicht zu den inzwischen bereits normal gewordenen Schritten der Wachen auf der Treppe und ihren fernen, unverständlichen Unterhaltungen passte. Valion hielt den Atem an und horchte angespannt in die Dunkelheit hinein. Eine lange Minute verging. Er schob es auf seine Einbildung und die Schmerzen, die ihn noch immer plagten.
Doch da hörte er es erneut, diesmal deutlicher. Ein leises Klirren und ein anhaltendes Scharren, dann wieder Stille. Ein Geräusch wie von Stoff, der über Holz strich. Die Gespräche der Gefängniswärter waren nicht mehr zu hören, doch das war nichts Ungewöhnliches. Valion wagte nicht, sich zu bewegen, um ja nichts zu überhören.
Da zerfielen seine Hoffnung erneut zu Asche, als er die unverkennbaren Schritte einer der Wachen auf der Treppe hörte. Eine Fackel erhellte die Stufen, als der Soldat die Ebene von Valions Zelle betrat und langsam die Zellen eine nach der anderen abschritt und kontrollierte. Vor Valions Zelle blieb der Mann stehen und warf ihm einen geringschätzigen Blick zu, wie es alle Wächter taten, ehe sie wortlos weiterzogen. Diesmal jedoch verharrte der Soldat und blieb an Ort und Stelle stehen. Sein Gesicht zeigte keine Regung und er schien ins Leere zu starren. Valion konnte sich keinen Reim darauf machen. Doch noch während er hinsah, erschien eine feine, rote Linie auf der entblößten Kehle des Wächters, die sich rasch verbreitete. Ungläubig griff der Mann sich an den Hals, würgte, und brach zuckend zusammen.
Jemand hob die Fackel auf, die die Wache fallen gelassen hatte. Eine dunkle Gestalt, die nun ins Licht trat. Ihre schwarzen Haare umhüllten ihren Kopf wie eine Kapuze. Ihr Gesicht und ihr Oberkörper waren voller Blutspritzer. Und in der Hand hielt sie einen grausamen Dolch, der mit unheilvollen Zeichen beschriftet war.
“Das... das muss ein Traum sein,” stieß Valion hervor. Ein Albtraum, fügte er in Gedanken hinzu. So hatte er seine Verlobte, Lóminîth, noch nie gesehen. Stets war sie beherrscht gewesen und hatte nur selten Emotionen gezeigt. Doch nun loderte ein mörderisches Feuer in ihren Augen.
Sie sagte kein Wort. Stattdessen schüttelte sie nur ganz leicht den Kopf, packte sie die Leiche und zog sie mit überraschender Leichtigkeit davon, hinfort in die Schatten.
Als sie zurückkehrte, war das unheilvolle Leuchten in Lóminîths Augen verschwunden und in ihrer Hand hielt sie anstatt dem Dolch einen eisernen Schlüssel. Sie wischte sich die Blutspritzer mit dem Handrücken aus dem Gesicht und lächelte.
“Zeit, euch hier rauszuholen,” sagte sie und legte den Kopf leicht schief, ehe sie die Zelle aufschloss.
Fine:
“Lóminîth? Aber wie... wie ist das möglich?” fragte der sichtlich verwirrte Erchirion, nachdem er geweckt worden war.
Valion, der seit dem Öffnen der Zelle durch seine Verlobte kein Wort herausgebracht hatte, stützte sich an einer Wand ab, um sich mühsam auf den Beinen zu halten. Er sah zu, wie Lómînith dem Prinz von Dol Amroth aufhalf.
Lóminîths Antwort bestand aus zwei kurzen Sätzen. “Wie das möglich sein soll? Es ist ganz einfach: Die Verräter sind tot, und ihr beide seid frei.”
Erchirion legte sich Valions Arm um die Schulter und gemeinsam verließen sie die Zelle in Richtung der Treppe nach unten.
“Sie sind alle tot?” hakte Erchirion entgeistert nach.
Lóminîth blieb auf der obersten Treppenstufe stehen ohne sich umzudrehen. “Nein. Nicht alle. Einer ist entkommen.” Sie stieg langsam hinunter und erzählte dabei, was ihr seit ihrer Gefangennahme geschehen war. “Man sperrte mich in Maegonds Gemach, und dort hatte ich viele lange Stunden Zeit, um nachzudenken. Zuerst hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihm Ergebenheit vorzuspielen und ihm so seine Geheimnisse zu entlocken. Doch nach der ersten Nacht wusste ich bereits alles, was es über ihn zu wissen gibt. Er hat nichts zu verbergen. Ganz im Gegenteil. Er war allzu erpicht darauf, mit seinen Errungenschaften anzugeben.”
“Hat er dich angefasst?” fragte Valion dazwischen. “Was genau hat er getan?”
Lóminîth schüttelte den Kopf. “Anfänglich zeigte er kein Interesse an mir. Stattdessen hatte er mehrere Mädchen aus dem hiesigen Bordell kommen lassen. Heute änderte sich das allerdings. Heute hat sich die Lage verschärft. Ich habe gehört, was er dir angetan hat, damit Valirë seinen Forderungen nachgibt.” Sie strich Valion über die Wange, ehe sie die Treppe weiter hinab stapfte. Lóminîth stieg über die Leichen zweier Gefängniswärter hinweg und fuhr fort: “Ich wusste, dass mir die Zeit davon lief. Ich war in Sorge um dich, was mein Handeln entscheidend beeinflusst hat.”
Sie kamen im Erdgeschoss des Gefängisturmes an. Drei tote Wachen lagen säuberlich nebeneinander aufgereiht. Jedem einzelnen war die Kehle durchgeschnitten worden.
“Was hast du getan?” wollte Erchirion wissen.
“Er kehrte vor Triumph schwelgend zurück und sprach davon, seinen Sieg über dich, Valion, damit zu besiegeln, dass er...” Sie räusperte sich. “Nun, er wollte einige Dinge mit mir anstellen, auf die ich nicht weiter eingehen möchte. Der Bastard hatte viel getrunken, was mir zum Vorteil gereichte. Als er mich packte und ins Bett zerrte, zog ich meinen versteckten Dolch, doch er sah den tödlichen Stich kommen. Trotz seines Zustandes leistete er heftigen Widerstand. Im Handgemenge war ich dazu gezwungen, ihn zu töten.”
Valion fluchte. Das war gar nicht gut. Man hätte Maegond als Verräter einsperren und ihm ordentlich den Prozess vor dem Hof des Fürsten in Dol Amroth machen sollen. Nun würde er für seine Leute womöglich zum Märtyrer werden und die Separatistenbewegung dadurch noch verstärken.
“Ich hoffe, außer den engsten Vertrauen Maegonds weiß niemand, wer wir wirklich sind,” kommentierte Erchirion seufzend. “Ein Prinz von Dol Amroth räumt den Held der Aufständischen mit einem feigen Mord aus dem Wege. Das lässt uns wirklich nicht besonders gut aussehen.”
“Ich werde mich nicht für meine Taten entschuldigen,” erwiderte Lóminîth verstimmt. “Nur dank mir seid ihr frei, und Erchirion wird nicht am Galgen enden.”
“Wo ist Valirë?” fiel es Valion siedend heiß ein. “Hast du sie gesehen, als du aus Maegonds Gemach entkommen bist?”
“Sie ist in der Obhut der Herrin Nengwen. Ich glaube nicht, dass sie in Gefahr ist,” antwortete Lóminîth.
“Die Frau Elatans von Arandol,” erinnerte sich Erchirion. “Wenn der Weg frei ist, schlage ich vor, wir holen Valirë ab, und verschwinden von hier, ehe man entdeckt, was hier vorgefallen ist.
Sie kamen in den Burghof, in dem Valion in der Nacht zuvor gefoltert worden war. Die Sonne war bereits am östlichen Horizont zu erkennen und unten in der Stadt krähte ein Hahn. Rasch überquerten sie den gepflasterten Platz und gelangten durch eine offen stehende Tür hindurch in das Gebäude, in dem die Herren der Burg lebten. Ihnen begegneten mehrere Diener, die sich bei ihrem Anblick hastig abwendeten und ihnen den Weg freimachten. Doch von Soldaten war nichts zu sehen. Im obersten Stockwerk fanden sie schließlich das Gemach, in dem Valirë schlief.
Vorsichtig weckte Valion seine Zwillingsschwester. Sie riss die Augen auf und packte ihn zunächst fest am Unterarm, ehe sie ihn erkannte.
„Kleiner Bruder,“ entfuhr es ihr. „Ich... ich träumte, du wärest tot, ermordet von diesem...“ ein derbes Schimpfwort folgte.
„Noch nicht,“ gab Valion zurück. „Komm, zieh dich an. Wir verschwinden von hier.“
„Nein, wir können nicht gehen!“ rief Valirë und setzte sich im Bett auf. Dass sie nur wenig bekleidet war, schien ihr in diesem
Augenblick nicht bewusst zu sein. Erchirion wandte leicht errötend den Blick ab und Lóminîth hüstelte. Doch Valirë ignorierte sie und fuhr fort: „Wir gehen hier nicht weg, ehe wir diesen Mistkerl nicht hinter Gitter gebracht haben! Im Nebenraum habe ich Waffen gesehen. Zum Anziehen habe ich nichts bis auf diese furchtbar umständlichen Kleider, in die sie mich gezwungen haben, aber wenn ich ein Schwert habe, wird es schon gehen. Schnappen wir uns diese Waffen, und dann...“
Valion hielt ihr den Mund zu, was zu gedämpftem Protest führte. „Maegond wird uns keinen Ärger mehr machen,“ erklärte er. „Dennoch ist es hier im Augenblick nicht sicher. Je länger wir hier herumtrödeln, desto wahrscheinlicher ist es, dass jemand Alarm schlägt. Zieh dich an, Valirë, und dann...“
Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen, denn in diesem Moment ging die Türe hinter ihnen auf, und bewaffnete Soldaten strömten herein.
„Haltet ein!“ befahl eine strenge Stimme, als eine Frau zwischen den Soldaten im Türrahmen auftauchte. „Was hat diese Ruhestörung so früh am Morgen zu bedeuten?“
„Herrin Nengwen!“ entfuhr es Valirë. „Glaubt Ihr mir jetzt? Hier ist mein Bruder, und neben ihm steht Erchirion von Dol Amroth, wie ich es Euch gesagt habe. Ich habe von Anfang an die Wahrheit gesagt.“ Sie streifte sich rasch ein Kleid über, das auf ihrer Bettkante gelegen hatte.
Nengwen - eine Frau mittleren Alters mit weißblonden Haaren, die Valion um einige Zentimeter überragte - trat in den Raum und die Soldaten machten ihr Platz. Sie blieb vor Valion stehen und ihr prüfender Blick musterte ihn von oben bis unten. Dann zog sie die linke Augenbraue hoch, ohne etwas zu sagen, und wandte sich Erchirion zu. Auch ihn nahm sie für einige lange Augenblicke unter die Lupe, ehe sie die Arme vor der Brust verschränkte und sagte: „Er ist zwar vollkommen verdreckt und riecht, als hätte er die Nacht im tiefsten Verlies verbracht, aber es besteht kein Zweifel, das es sich bei diesem jungen Mann um Imrahils Sohn Erchirion handelt. Ich erkenne ihn wieder, auch wenn es viele Jahre her ist, dass ich die Schwanenstadt besucht habe. Und das bedeutet dann wohl, dass du Valion vom Ethir sein musst, Jüngchen.“ Ihr abschätzender Blick ruhte nun wieder auf Valion, welcher rasch nickte.
Die Herrin der Burg hob die Hand und die Soldaten senkten ihre Waffen. “Also gut. Ihr werdet mir jetzt ganz genau erzählen, was hier eigentlich gespielt wird. Wenn Valirë die Wahrheit sagt, gehen hier Dinge vor, die ich niemals erlaubt hätte, wenn sie mir bewusst gewesen wären. Fangt von vorne an, und lasst nichts aus!” Sie schnippte energisch mit den Fingern, und der Großteil der Bewaffneten verließ den Raum wieder. Nur drei Soldaten blieben zurück und postierten sich an der Türe.
Erchirion ließ sich auf einem der Stühle nieder, die an einem kleinen Tisch in einer der Ecken des großen Zimmer standen und begann. Er berichtete von dem Auftrag, den sein Vater, der Fürst von Dol Amroth, den Zwillingen erteilt hatte und ging dabei im Detail auf die Beweggründe ein. Die Burgherrin hörte aufmerksam zu und stellte hin und wieder kurze Zwischenfragen, während Erchirion von ihrem Aufbruch per Schiff in Richtung Westen und ihre Ankunft in Anfalas erzählte. Als er bei der Ermordung Maecars von Nan Faerrim angekommen war, schlug Nengwen entsetzt die Hände vor den Mund und schien zum ersten Mal tatsächlich geschockt zu sein.
“Maecar ist tot?” stieß sie hervor. “Nein, ihr müsst nicht antworten. Ich sehe die Wahrheit in euren Blicken. Ich vergaß, dass der Alte Luchs euer Großvater war. Dann... fällt Nan Faerrim nun also an Míleth? Oh, ich werde sie besuchen und ihr mein Beileid und meine Unterstützung anbieten, das steht außer Frage. Doch zunächst... sprecht weiter.”
Sie schien sich wieder gefangen zu haben und so setzte Erchirion seinen Bericht fort. Als er von ihrer Ankunft in Arandol erzählte, wandelte sich der Gesichtsausdruck Nengwengs zu einer Mischung aus ungläubigem Staunen und unverhülltem Zorn. Sie unterbrach ihn, als er von Maegonds Rede am Haupttor der Stadt erzählte.
“Dieser kleine, verlogene Bastard! Ich habe ihm vertraut!”
“Wie meint Ihr das?” hakte Erchirion nach. “Wusstet Ihr wirklich nicht, was in der Stadt vor sich geht, und was Maegonds Absichten sind?”
“Ich habe die Burg seit Wochen nicht verlassen,” erklärte Nengwen mit unterdrückter Wut in der Stimme. “Ihr müsst wissen, dass meine Leidenschaft die Vergangenheit ist, insbesondere die alte Baukunst vergangener Zeitalter. Ihr könnt euch daher vielleicht vorstellen, wie aufgeregt ich war, als bei Grabungsarbeiten in den Kellern dieser Burg ein uraltes Gewölbe entdeckt wurde, das meiner Einschätzung nach aus dem Ersten Zeitalter stammen muss. Ich glaube, dass es damals eine Ansiedlung der Laiquendi, der Vorfahren der Elben des Düsterwaldes und Lothlórien, hier auf demselben Hügel gegeben hat, auf dem heute die Stadt Arandol steht. Lenwes Volk zog damals im Laufe vieler Jahrhunderte von Edhellond aus in Richtung Beleriand, und dabei mussten sie natürlich auch den Pass von Cirith Minuial überqueren. Ich bin seit Wochen unermüdlich dabei, alle Räume und Kammern dort unten zu kategorisieren und zu dokumentieren. Es gibt einige wirklich faszinierende Wandmalereien, und die Architektur ist mit nichts zu vergleichen, was ich zuvor gesehen habe.”
Der Redeschwall machte ihnen allen klar, wie sehr sich die Burgherrin in dieses Thema vertief hatte, und wie sehr es ihr am Herzen lag. Als sie endlich nach Luft schnappte, gelang es Valion, etwas zu sagen, ehe Nengwen weitersprechen konnte.
“Ihr habt also den Großteil Eurer Zeit dort unten mit der Erforschung der elbischen Ruinen verbracht, und habt derweil Maegond die Verwaltung der Pinnath Gelin und Arandols übertragen?”
“Gut erkannt, Jüngchen. Ich habe ihm vertraut, denn er ist ein Verwandter der Familie meines Mannes, Elatan, der im Rat Imrahils in Dol Amroth dringend gebraucht wird. Er sagte immer wieder, er würde mir all die lästigen Dinge abnehmen, die mich davon abhalten würden, meiner Leidenschaft nachzugehen. Und das tat er ja auch, doch wie sich nun herausstellt, nicht in dem Sinne, in dem ich es mir gewünscht hätte. Ich sehe jetzt den Fehler, den ich begangen habe. Was hat Maegond getan? Ist er dafür verantwortlich, dass der Prinz von Dol Amroth aussieht, als hätte er mehr als nur eine Nacht in meinen Verliesen verbracht?”
Erchirion nickte und erzählte den Rest ihrer Geschichte. Als er an die Stelle kam, an der Valion gefoltert worden war, ging Nengwen zu Valirë hinüber und nahm sie in den Arm.
“Ich hätte dich nicht als Lügnerin bezeichnen sollen, Mädchen. Doch Maegond sagte mir, deine Eltern hätten der Vermählung mit ihm zugestimmt, und das erinnerte mich an mich selbst. Ich bin ebenfalls gegen meinen Willen verheiratet worden, doch zu meinem Glück erwies sich Elatan als der beste Mann, den ich mir hätte wünsche können. Ich dachte, bei dir könnte es mit Maegond ähnlich sein...”
Valirë machte ein würgendes Geräusch, ehe sie sagte: “Wie ich es Euch bereits sagte: Ich bin bereits verlobt.”
“So ist das also. Ich sehe schon, Imrahil beweist seinen Sinn für Humor indem er seinen zweitgeborenen Sohn mit dem berüchtigten Wildfang vom Ethir vermählt. Viel Glück, mein Prinz.” Nengwen schenkte Erchirion ein aufmunterndes Lächeln, ehe ihr wieder einzufallen schien, in welcher Lage sie sich gerade befanden. “Sagt mir, wo ist Maegond? Ich werde ihn unverzüglich für seine Taten zur Rechenschaft ziehen!”
Betretenes Schweigen folgte. Niemand wusste, wie die streitbare Herrin von Arandol auf die Nachricht vom Tod Maegonds reagieren würde. Es war schließlich Lóminîth, die mit gefasster Stimme sagte: “Er ist tot, Herrin.”
“Tot?” wiederholte Nengwen. “Wie... wie ist es dazu gekommen?”
“Er wollte sich an mir vergehen, nachdem er uns gefangen genommen hatte, doch ich wehrte mich. Im Handgemenge fand mein Dolch unglücklicherweise sein Herz.” Ihre Stimme und Körperhaltung straften ihre Worte Lügen, denn sie schien den Mord nicht im geringsten zu bereuen.
“Das ist nicht richtig. Ihm hätte der Prozess gemacht werden sollen. Gondor ist ein Land der Gesetze, und Selbstjustiz ist ein Verbrechen, junge Dame. Ich werde...”
Ein Klirren unterbrach sie. In der Tür stand eine junge Dienerin, die ein Tablett in den Händen gehalten hatte, auf dem sich ein Krug mit Wasser und mehrere Trinkgefäße befunden hatten. Sie hatte das Tablett fallen lassen und beide Hände vor den Mund geschlagen.
“Maegond ist tot?”
Als er ihre Stimme hörte, erkannte Valion, um wen es sich bei der vermeintlichen Dienern handelte. “Magrochil? Was tust du hier?”
Magrochil blinzelte, ehe sie antwortete. “Ich... ich schlich mich in die Burg, um euch zu befreien, doch einige der Bediensteten erkannten mich und sagten, sie würden mir helfen, und... und... dann kam ich hierher, denn ich hörte, ihr wäret bei Nengwen, und...” Sie brach ab und Tränen liefen ihr Gesicht hinab.
“Magrochil?” Nengwen war aufgestanden und dem Mädchen entgegen getreten. “Tatsächlich, du bist es. Dein Vater wird froh sein, dich zu sehen. Wo hast du dich nur all die Jahre herumgetrieben?” Dann endlich schien sie zu begreifen, was vor sich ging, und zog Magrochil in ihre Arme.
Einige Minuten vergingen, ehe Herrin Nengwen begann, Anweisungen an die Diener zu vergeben, die Magrochil in den Raum gefolgt waren.
“Räumt diese Unordnung hier auf, und seht zu, dass meine Gäste frische Kleidung erhalten und sich waschen können. Entfernt den Leichnam Maegonds aus seinem Gemach und ruft alle Würdenträger in der Großen Halle zusammen. Dort werde ich entscheiden, wie Arandol mit dieser Situation umgehen wird. Ihr, Prinz Erchirion, seid frei, euch der Beratung anzuschließen, doch der Rest Eurer Begleiter wird diese Burg nicht verlassen, ehe ich es nicht erlaube. Ich werde mich mit euch befassen, wenn der Rat in wenigen Stunden zusammengetreten ist. Wir haben es mit einem Mord zu tun, und mit Verrat an der Krone Gondors. Dies kann nicht leichtfertig abgetan werden. Ich werde sorgfältig darüber nachdenken müssen. Komm, Magrochil. Dein Vater wird dich jetzt dringender brauchen als je zuvor.”
Sie zog die noch immer schluchzende Magrochil an der Hand hinter sich her und verschwand aus dem Zimmer, während die Bediensteten begannen, Nengwen Anweisungen zu befolgen.
Valion wusste nicht recht, was er von der Situation halten sollte. Die akute Gefahr schien gebannt zu sein, doch abgesehen von Erchirion waren sie weiterhin Gefangene in der Burg von Arandol, auch wenn sie nun besser behandelt wurden und nicht mehr in den Verliesen gefangen gehalten wurden. Doch vor ihrer Tür standen Bewaffnete, und es würde einen Rat geben, der über ihr Schicksal entscheiden würde.
Valirë zupfte missmutig an dem Kleid, das sie noch immer trug. “Ich wünschte, ich hätte mein Schwert und meine Rüstung wieder. Sollte man uns hinrichten, will ich nicht in diesem lächerlichen Aufzug sterben.”
Lóminîth stand mit dem Rücken zu ihnen an einem der beiden Fenster des Raumes. “Ich glaube, Herrin Nengwen ist eine Frau, die starke Überzeugungen hat. Es wird nicht einfach sein, ihr die Notwendigkeit meiner Tat klar zu machen. Doch ich werde es zumindest versuchen.”
“Wir kommen alle heil aus dieser Sache raus, dafür sorge ich schon irgendwie,” versuchte Valion die Stimmung etwas aufzubessern. Doch das Schweigen, das ihm antwortete, zeigte ihm, dass ihm das nicht sonderlich gut gelungen war...
Fine:
Zu Valions Überraschung dauerte es nur wenige Stunden, bis es an der Türe klopfte und eine Gruppe von Bewaffneten sie in die große Halle von Arandol eskortierte. Vom Hofe von Dol Amroth, an dem er so wenig wie möglich teilgenommen hatte, war er es gewohnt gewesen, dass bei wichtigen Entscheidungen lange Wartezeiten zu erwarten waren. Unter Herrin Nengwens Herrschaft schien das allerdings in den Pinnath Gelin nicht der Fall zu sein.
Alles was in Arandol Rang und Namen besaß, hatte sich im hinteren Teil der Halle rings um den erhöhten Sitz versammelt, auf dem Nengwen Platz genommen hatte. Der aus dunklem Holz geschnitzte Thron stand auf der obersten von drei breiten Marmorstufen, die die gesamte hintere Breitseite der Halle einnahmen. An der Rückwand hingen noch immer dieselben Banner wie am Tag ihrer Gefangennahme: Das der Pinnath Gelin in der Mitte, flankiert vom Fisch von Anfalas und dem Weißen Baum Gondors. Doch nun, da man die großen Vorhänge vor den blau verglasten Fenstern geöffnet hatte, lag der Weiße Baum nicht länger im Schatten sondern erstrahlte im bläulichen Licht, das durch die Fenster herein fiel. Es war Mittag geworden.
Neben Nengwen stand ein ungefähr siebenjähriger Junge, bei dem es sich um ihren und Elatans Sohn Baradír handeln musste, wie Valion vermutete. Das Kind hatte dichtes, schwarzes Haar und machte eine bemüht ernst wirkende Miene.
Die Herrin von Arandol war umgeben von ihren wichtigsten Gefolgsleuten, darunter viele, die während Maegonds Machtübernahme eingesperrt worden waren, wie Valion später erfuhr. Man hatte sie befreit und ihnen ihre ursprünglichen Posten wiedergegeben, während die, die Maegond an ihrer Stelle eingesetzt hatte, sich nun selbst als Insassen des Gefängnisturmes der Burg wiederfanden.
Zu dritt traten sie nun vor die adelige Versammlung, auf der freien Fläche kurz vor Nengwens Stuhl, jenseits der untersten Stufe. Ein Ort, der normalerweise für Bittsteller vorgesehen war, wie Valion bemerkte. Als sie dort angekommen waren, erhob die Herrin der Burg die Hand, und das leise Getuschel im Raum erstarb.
“Willkommen,” begann sie mit fester Stimme. “Wir haben uns zu dieser Stunde hier versammelt, um eine dringliche Angelegenheit zu besprechen und um wichtige Entscheidungen zu fällen.” Sie wandte Valion den Blick zu und fuhr fort: “Bitte nennt Eure vollständigen Namen, damit wir beginnen können.”
Valirë war die Erste, die antwortete. “Ich bin Valirë von Haus Cirgon, Tochter der Míleth von Nan Faerrim und des Amlan vom Ethir, und stehe kurz davor, dem Haus Dol Amroth anzugehören.”
Nengwen nickte. Da sagte Valion: “Valion, Sohn des Amlan... Herr vom Ethir.” Es fühlte sich merkwürdig an, sich auf seinen Titel zu berufen, doch in der momentanen Situation erachtete er es als notwendig.
Alle Blicke richteten sich nun auf Lóminîth, die nicht länger blutbefleckt war. Sie hatte seit dem Betreten der großen Halle kein Wort gesagt und stand nahezu regungslos dort. Mehrere Sekunden vergingen, in denen sie schwieg und Nengwens strengem Blick mit einer Unerschütterlichkeit stand hielt, die Valion insgeheim beeindruckte.
“Dies ist meine Verlobte, Lómíril Serestar, von Tol Thelyn,” sagte Valion, als er das Schweigen nicht mehr aushielt.
Doch Nengwen war nicht so einfach zufrieden zu stellen. “Hat es ihr die Sprache verschlagen, oder kann sie nicht für sich selbst sprechen?”
Das genügte, um Lóminîth zum Sprechen zu bringen. “Also gut,” sagte sie so leise, dass es nur Valion, der neben ihr stand, hören konnte. Sie atmete tief durch und nahm eine herausfordernde Körperhaltung an. “Ich bin Lóminîth, Tochter des Azgarzîr und aus der edlen Linie Minluzîrs des Seefahrers.”
Für einen Augenblick herrschte absolute Stille in der Halle. Nengwen, die bislang auf ihrem Sitz leicht vorgebeugt gesessen hatte, setzte sich nun aufrecht hin. Ihre Miene spiegelte Nachdenklichkeit und ein klein wenig Anerkennung wieder. Dann verging der Moment, und alle Anwesenden begannen, wild durcheinander zu reden.
“Das sind Namen, die nach Umbar klingen!”
“Sie gehört zu den Korsaren!”
“Ist Gondor nun schon so tief gesunken, dass wir die Verräter des Südens um Hilfe anflehen müssen?”
“Ein Skandal! Ein Lehnsfürst Gondors heiratet ein Korsarenweib?”
“Legt sie in Ketten!”
“Kein Wunder, dass sie einen Mord begangen hat.”
“Ruhe!” Nengwens gebieterische Stimme brachte den Saal augenblicklich wieder zum Schweigen. Doch Valion war klar, dass sich ihre Lage durch die Enthüllung der wahren Identität seiner Verlobten nicht gerade verbessert hatte. Viele wütende Blicke wurden in seine Richtung geworfen und er war froh, dass Elatans Ehefrau so eine große Autorität besaß und ihre Leute gut im Griff hatte. “Nun, da uns allen klar ist, wer Ihr seid, können wir beginnen. Valion und Valirë vom Ethir, und Lóminîth von Haus Minluzîr, ihr werdet beschuldigt, den Mord an Maegond, Arachírs Sohn, von Haus Torchirion verübt zu haben. Wir sind heute hier, um die Umstände, Gründe und Ursachen dieser Tat zu besprechen und anschließend ein Urteil zu fällen. Ihr habt uns Eure Namen gesagt, und im Gegenzug werde ich nun jene aufrufen, um deren Rat ich heute bitten werde und die mich dabei unterstützen werden, besagte Entscheidungen zu fällen. Beginnen möchte ich mit Prinz Erchirion, Sohn des Imrahil von Dol Amroth.”
Bei diesen Worten erhob sich Erchirion, der auf einem Stuhl auf der zweitobersten Stufe gesessen hatte. Sein Blick war voller Sorge, doch er sagte kein Wort.
Nengwen rief nun der Reihe nach die übrigen Anwesenden auf, darunter den Burgvogt, ihren Hofschreiber, den Kommandant der kleinen Soldatengarnison, die den Pass von Cirith Minuial bewachten, sowie die Häupter der fünf kleinen Adelshäuser, die ihren Sitz in Arandol hatten. Alles in allem war niemand dabei, dessen Name außerhalb der Pinnath Gelin großes Gewicht hatte.
“Lange galt sie als verschollen, doch nun ist sie überraschend heimgekehrt: Magrochil von Haus Torchirion, Tochter des Arachír, Schwester des Ermordeten, die heute ihren Vater vertritt, der unpässlich ist.” Als sich Magrochil erhob, war Valion schockiert, wie viel Hass er in dem Blick des Mädchens las. Sie starrte Lóminîth unnachgiebig an und schien wie ausgewechselt zu sein. Es kam Valion so vor, als hätte sie bereits alle Taten ihres Bruders vergessen und war von dem Verlust härter getroffen worden, als sie es selbst erwartet hätte.”
“Zuletzt rufe ich Gilvorn von Lossarnach auf.” Auf Nengwens Aufruf folgte betretenes Schweigen und kurz darauf leises Gemurmel. Schließlich war es der Burgvogt, der sagte: “Herrin, der junge Gilvorn hat Arandol verlassen. In der Nacht des Mordes nahm er ein Pferd aus den Ställen und preschte durchs Ost-Tor davon, als würden ihn die Schatten Mordors persönlich verfolgen.”
“Warum wurde mir davon nichts berichtet?”
“Wir hielten es nicht für wichtig genug, um Euch damit zu belästigen.”
Valion hatte eine andere Theorie. Der Burgvogt war einer der wenigen gewesen, die ihren Posten auch unter Maegonds Herrschaft behalten hatten. Vermutlich stehst du noch immer mit diesem Verräter im Bunde und wolltest sein Verschwinden so lang wie möglich geheim halten, damit er einen Vorsprung vor etwaigen Verfolgern hat.
“Das ist bedauerlich,” stellte Nengwen streng fest. “Die Sorgfalt in diesen Hallen hat wohl in meiner Abwesenheit nachgelassen. Gilvorn wäre ein wichtiger Zeuge gewesen, denn er begleitete die Zwillinge vom Ethir auf ihrem Weg von Nan Faerrim bis hierher und schien in enger Verbindung zu Maegond zu stehen. Seine Flucht kann nichts Gutes bedeuten.”
Sie räusperte sich, ehe sie fortfuhr. “Zwar habe ich bereits von Prinz Erchirion gehört, wie es zu der Situation gekommen ist, in der wir uns heute befinden, doch ich möchte es noch einmal von Euch hören, Valion vom Ethir. Beginnt mit dem Auftrag, den der Fürst von Dol Amroth Euch gab, und lasst kein Detail aus.”
Unterstützt von seiner Zwillingsschwester berichtete Valion den Anwesenden von ihrer bisherigen Reise, was für einige erstaunte Zwischenbemerkungen aus der Menge sorgte. Als er eine halbe Stunde später geendet hatte, nickte Nengwen zufrieden. “Schickt nun die Dienerin herein, die die Bluttat als Erste entdeckte, damit sie uns ihren Fund beschreibe.”
Die Soldaten führten eine ältere Frau herein, die ihnen berichtete, wie sie die Leiche am frühen Morgen entdeckt und sofort die Wache alarmiert hatte. Man merkte der Dienerin dabei deutlich an, dass sie nicht sonderlich traurig über Maegonds Tod war, was ihr einige finstere Blicke von Magrochil einbrachte.
Als nächstes bat Nengwen Lóminîth, ihre Version der Ereignisse zu erzählen.
“Ich verbrachte zwei Tage in Maegonds Gemach, ohne dass er mich behelligte. Ich wurde oberflächlich durchsucht, doch den verborgenen Dolch an meinem Oberschenkel fand er nicht.” Dabei gab es mehrere empörte Zwischenrufe über die Verschlagenheit der Korsaren, die Lóminîth ignorierte. “Am dritten Abend versuchte er, Hand an mich zu legen. Als ich Widerstand leistete, bemerkte er den Dolch und ein Handgemenge entstand. Es gelang ihm nicht, mir die Klinge abzunehmen, weshalb er begann, mich zu würgen. Ich sah mich gezwungen, ihn zu erstechen. Es war Notwehr.”
Aufgebrachte Rufe übertönten alles, was sie noch hätte hinzufügen können, und dieses Mal hatte Nengwen einige Schwierigkeiten, wieder für Ruhe zu sorgen. “Wieso führtet Ihr einen verborgenen Dolch mit Euch?” wollte die Herrin der Burg wissen, als wieder Schweigen eingekehrt war.
“In meiner Heimat ist es für eine Frau meines Standes vollkommen normal, stets auf die eigene Sicherheit bedacht zu sein. Deshalb verstehe ich mich bis zu einem gewissen Maße auf Techniken der Selbstverteidigung und trage eine Waffe bei mir.”
“Ihr seid nun in Gondor. Hier sind solche Praktiken weder notwendig noch angebracht,” erwiderte Nengwen streng. “Ich kann jedoch zumindest teilweise nachvollziehen, wie es zu der Mordtat gekommen ist, sofern Ihr nicht gelogen habt. Steht Ihr zu Eurer Aussage, dass die Ermordung Maegonds nicht vorsätzlich war?”
Lóminîth blieb mehrere Sekunden stumm. Dann antwortete sie: “Ja.”
Valion, der sie inzwischen gut genug kannte, horchte auf. Das Zögern seiner Verlobten mochte auf Fremde als Unsicherheit wirken, doch Valion wusste, dass Lóminîth niemals unsicher war. Sie hat abgewägt, ob sie zugeben soll, dass sie den Mord von Anfang an vorhatte, wurde es ihm klar. Seit unserer Gefangennahme hat sie nur auf eine gute Gelegenheit gewartet um zuzuschlagen.
“Auch wenn kein Vorsatz im Spiel war, steht die Tatsache, dass Ihr einen Adeligen Gondors umgebracht hat, außer Frage,” fuhr Nengwen fort. “Valion vom Ethir, gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei Lóminîth von Haus Minluzîr um Eure feststehende Verlobte handelt?”
Valion nickte. “Das ist richtig.”
“Dann tragt auch Ihr einen gewissen Anteil an den Taten Eurer zukünftigen Ehefrau. Ihr, Valirë vom Ethir, seid hingegen von allen Anschuldigungen befreit und könnt Euren Platz in der Mitte der Halle verlassen.”
Valirë machte einen Knicks und warf Valion einen besorgten Blick zu, ehe sie sich neben Erchirion einfand.
Nengwen erhob sich und der Rest der Anwesenden tat es ihr gleich. “Wir haben nun gehört, was es zu hören gibt, und müssen nun entscheiden, was zu tun ist. Wer möchte als Erstes sprechen?”
“Die Mörderin muss sterben!”
Alle Augen wandten sich Magrochil zu, die anklagend mit ausgestreckten Arm auf Lóminîth zeigte. “Ein Leben für ein Leben,” forderte das Mädchen mit unterdrücktem Hass in der Stimme.
“Ich rate zur Besonnenheit,” erwiderte Erchirion. “Euch muss klar sein, dass Lóminîth aus Notwehr gehandelt hat. Wir sind nicht hierher gekommen, um Morde zu verüben, sondern um die Verschwörer aufzuhalten, die beinahe für den Untergang Gondors gesorgt haben. Und, so schmerzhaft dies für Euch auch klingen mag: dieses Ziel haben wir erreicht, wenn auch nicht auf dem von uns geplantem Wege.”
Empörte Aufrufe antworteten auf die Worte des Prinzen. “Ist das etwa die Gerechtigkeit Dol Amroths?” fragte der Burgvogt. “Jene, die Euch unbequem sind, lasst Ihr von Attentätern aus Umbar umbringen?”
“Das sind unhaltbare Anschuldigungen,” erwiderte Erchirion verärgert.
“Eines steht außer Frage,” sagte das Oberhaupt eines der geringeren Adelshäuser. “Ein Gondorer von hohem Stand ist tot. Dies kann nicht ohne Folgen bleiben. Sicherlich seid Ihr derselben Meinung, Herrin.”
Nengwen nickte langsam. “Ein Mord von diesem Ausmaß darf nicht ungesühnt bleiben. Das ist richtig. Doch Maegond war ein Verräter. Dies ist nicht von der Hand zu weisen. Er hat hinter meinem Rücken vielerlei Verbrechen begangen und meine Leidenschaft schamlos ausgenutzt, um die Macht in Arandol an sich zu reißen. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass es sich bei dem Mord tatsächlich - zumindest teilweise - um Notwehr gehandelt hat. Der Dolch war fehl am Platze und hätte niemals zum Einsatz kommen sollen. Aber wäre er nicht dort gewesen, hätte Valion vom Ethir nun eine tote Verlobte zu betrauern, und die Pinnath Gelin müssten noch immer Maegonds tyrannische Herrschaft erdulden.” Sie machte eine Pause und musterte die Anwesenden einen nach dem Anderen.
Als die Herrin von Arandol nach einer Minute noch nicht weitergesprochen hatte, begannen jene, die Vergeltung für den Mord forderten, eindringlich auf sie einzureden. Allen voran Magrochil, die wieder und wieder Lóminîths Tod verlangte. Valion blieb dabei nichts anderes übrig, als abzuwarten und auf das Beste zu hoffen. Er war überrascht, als er spürte, wie sich die Hand seiner Verlobten ihren Weg in seine bahnte. Ihr Griff war fest, doch als er ihn erwiderte, stellte er fest, dass Lóminîth, der man äußerlich nicht einen Funken von Furcht oder Zweifel anmerkte, zitterte. Ihre Finger vibrierten beinahe unmerklich, und doch spürte Valion das Zittern. Und er war froh darüber. Denn das war es, was seine Verlobte für ihn menschlich wirken ließ. Sie hatte Emotionen, doch sie zeigte sie nur jenen, denen sie absolut vertraute. Und dazu gehörte neben ihrer Schwester nun auch Valion.
Nengwen hob die Hand und alle Anwesenden setzten sich wieder. “Diese Angelegenheit hat sich als schwieriger als erwartet erwiesen,” sagte Nengwen. “Ich bin überzeugt, dass der Mord aufgrund einer Verkettung unglücklicher Ereignisse geschehen ist und dass kein bösartiger Vorsatz dahinter steckt. Und doch ist Gondor ein Land der Gesetze und kein Verbrecherhort wie Umbar.”
Bei diesen Worten regte sich Lóminîth, doch sie blieb stumm. Ihre Finger pressten sich fester in Valions Hand.
“Es war Imrahil von Dol Amroth, der Euch, Valion, hierher entsandte, und der Euch, Lóminîth, in Gondor willkommen hieß. Als amtierender Truchsess Gondors fällt es ihm zu, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen. Deshalb überstelle ich Euch seiner Rechtsprechung, und der Rechtsprechung des ihm mit Rat und Tat beiseite stehenden Herrn der Pinnath Gelin, meinem Gatten Elatan.”
Das sorgte für Getuschel, aber keine empörten Aufschreie. Nur Magrochil wagte es, offen zu widersprechen. “Ihr schickt sie zurück nach Dol Amroth? Und lasst sie mit dem Mord davonkommen?”
“Du vergisst, wo dein Platz ist, Magrochil,” erwiderte Nengwen streng. “Ich bin überzeugt, dass Fürst Imrahil für Gerechtigkeit sorgen wird. Außerdem ist Elatan bei ihm, der von dieser Angelegenheit ebenfalls betroffen ist. Diese Entscheidung zu treffen liegt nicht länger bei mir.”
Sie erhob sich erneut, und die Anwesenden taten es ihr gleich. “Morgen früh werde ich eine bewaffnete Eskorte zusammenstellen, die sicher stellen wird, dass Valion vom Ethir und Lóminîth von Haus Minluzîr ohne Umwege in Dol Amroth ankommen um sich dem Urteil des Truchsessen zu stellen. Seinem Sohn Erchirion und Herrin Valirë steht es frei, in Arandol zu bleiben, sofern sie dies wünschen.”
“Ich gehe mit meinem Bruder zurück nach Dol Amroth,” stellte Valirë klar.
“Und ich werde zu meinem Vater zurückkehren und ihm von allem, was hier geschehen ist, berichten,” ergänzte Erchirion.
“Dann ist es beschlossen,” sagte Nengwen und klatschte zweimal in die Hände. “Ihr habt gehört, wie ich entschieden habe und könnt nun zu euren jeweiligen Aufgaben zurückkehren.”
Der Hofstaat löste sich auf. Magrochil warf Lóminîth einen letzten wütenden Blick zu, ehe sie aus der Halle stürmte und auch unter den übrigen Adeligen gab es noch immer einige, die Valion und seine Verlobte mit unverhüllter Abneigung betrachteten. Doch Valion war das egal. Er war zwar froh, dass man Lóminîth nicht hinrichten würde, doch er ärgerte sich darüber, dass er nun gezwungen war, nach Dol Amroth zurückzukehren. Vor dem Urteil Imrahils hatte er keine Angst, denn er war der Meinung, dass der Fürst spätestens nach Erchirions Bericht davon absehen würde, eine echte Strafe zu verhängen - zumindest hoffte Valion das. Anstatt einer Rückkehr nach Dol Amroth hätte sich Valion lieber an Gilvorns Spuren geheftet. Der Bastard ist noch immer auf freiem Fuß. Wer weiß, was er als Nächstes für Unheil in Gondor anrichtet, nun da er nach Osten unterwegs ist. Ihm fiel ein, dass im Osten die Grenze lag, an der nun vermutlich bereits die ersten Kämpfe gegen die Streitkräfte Mordors ausgebrochen waren. Zwar stand Gilvorn nicht offen auf Seiten Saurons, doch Valion war sich sicher, dass der junge Jäger ehrlich gewesen war, als er Valion von seinen Beweggründen erzählt hatte. Es ging ihm um den Frieden in Lossarnach und um die Sicherheit seines Volkes, und er glaubte, dass beides erst dann sichergestellt sein würde, wenn Gondor und Mordor keinen Krieg mehr gegeneinander führten. Valion befürchtete, dass es Gilvorn gelingen könnte, die Bemühungen Dol Amroths, die östliche Front bei Linhir zu halten, ernsthaft zu sabotieren...
Valion, Valirë, Erchirion und Lóminîth nach Anfalas
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