Aerien blickte über die steinige Einöde Harondors hinaus. Obwohl die Sonne schien und sich kaum Wolken am Himmel zeigten, fror die junge Frau. Es war inzwischen Ende Dezember, wenn sie richtig gerechnet hatte, und selbst hier, im südlichsten Teil Gondors, war der Winter deutlich zu spüren. Sie hatten Harad und seine milden Temperaturen hinter sich gelassen und waren mit einem Boot den Fluss Harnen hinauf gefahren, bis die seichten Furten des Flusses sie dazu gezwungen hatten, zu Fuß weiter zu reisen. Und nun, vier Tage nach ihrem Aufbruch von Tol Thelyn, hatten sie die trostlosen Vorgebirge des Ephel Dúath, des Schattengebirges erreicht. Kaum etwas wuchs in dieser felsigen, grauen Einöde. Jenseits der schwarzen Bergspitzen, die im Osten wie abgebrochene Zähne in den Himmel ragten, lag der Ort in Mittelerde, dem sie am liebsten so fern wie möglich geblieben wäre. Und doch war genau dieser Ort nun ihr Ziel.
Mordor.
"Warum starrst du so verdrossen in die Ferne, Azrûphel? Freust du dich etwa nicht darauf, nach Hause zu kommen?"
Karnuzîr, dachte Aerien. Seine heisere Stimme holte sie auf unangenehme Art und Weise zurück ins Hier und Jetzt. Von Beginn ihrer Reise nach Mordor schon hatte die Gegenwart ihres Vetters Aerien ein ungutes Gefühl gegeben. Sie nahm ihm seine unerwartete Bereitschaft zur Kooperation nicht ab. Sie glaubte kaum, dass Karnuzîr sich nur durch etwas Folter von Edrahils Hand zu einem solchen Sinneswandel bringen ließe. Nicht nach dem, was er ihr einst angetan hatte. Während der Schifffahrt hatte sie ihn nicht sehen müssen, denn er war unter Deck eingesperrt geblieben. Doch seitdem sie die Boote hinter sich gelassen hatten, war er gezwungenermaßen stetig in Aeriens Nähe gewesen.
Karnuzîrs Hände waren zusammengebunden und er war unbewaffnet. Doch anstatt der Lumpen, die er im Kerker von Tol Thelyn getragen hatte, war er nun wieder in hochwertigere Kleidung gehüllt, damit die Täuschung überhaupt gelingen konnte. Karnuzîrs Aufgabe lautete, Aerien und Narissa als seine Gefangenen auszugeben, wenn sie Barad-dûr erreichten, und ihnen somit Zutritt zum Dunklen Turm zu verschaffen. Als Aerien sich erneut vor Augen hielt, wie wahnwitzig dieser Plan eigentlich war, hätte sie beinahe gelacht.
Sie ließ sich nicht dazu herab, ihrem verhassten Vetter zu antworten. Für den Augenblick arbeiteten sie notgedrungen zusammen, doch Aerien wäre es lieber gewesen, wenn Karnuzîr auf Tol Thelyn geblieben wäre. Sein Anblick und insbesondere der Klang seiner Stimme machten sie krank.
"Bist dir wohl zu fein für eine Antwort,
ûkali," zischte er. Sie zuckte innerlich zusammen, als sie das Wort hörte. Es stand für den niedrigsten Rang in der Gesellschaft der Schwarzen Númenorer, den eine Frau erreichen konnte. Jemand in dieser speziellen Situation besaß keinerlei Wert mehr und diente nur noch dazu, die Gelüste der breiten Masse Durthangs zu befriedigen. Viele zogen den Tod diesem Schicksal vor.
"Halt den Mund," sagte Narissa mürrisch. "Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt."
Innerlich kochte Aerien. Sie hätte Karnuzîr gerne geschlagen, doch sie wusste, dass er die Mühe nicht wert war. Und als sie ihn aus den Augenwinkeln betrachtete, erkannte sie, dass er es ihr ansah, wie sie über ihn dachte. Es schien ihn zu belustigen. Damit sie sein gehässiges Grinsen nicht länger ertragen musste, zog Aerien die Karte Arandirs hervor, die Bayyin ihnen gegeben hatte, nachdem er eine Kopie davon angefertigt hatte. Sie hielt sie ausgebreitet vor sich, während sie Narissa in grober östlicher Richtung bergauf folgte. Irgendwo in einer Schlucht ganz in der Nähe hörte sie den Harnen plätschern, der hier bereits nicht mehr als ein Bach war.
"Von der Quelle des Harnen aus sollen wir knapp eine Meile nach Norden ins Gebirge hinauf gehen," erinnerte sie Narissa, die voran ging. "Bayyin hat hier eine rote Linie eingezeichnet, der wir folgen könnten."
"Einer geraden Linie in unwegsamer Wildnis zu folgen ist nicht so leicht, wie du denkst," erwiderte Narissa, als sie gerade einen großen Felsen vor ihr erkletterte. "Aber es scheint, als ob uns das Schicksal - oder sonst wer - gewogen ist. Ich glaube, das da vorne ist die gesuchte Quelle."
Aerien erreichte den Felsen und umrundete ihn, anstatt darüber zu klettern. Eine steile Felswand erhob sich vor ihr, die ihren bisherigen Weg nach Osten kreuzte. Der unebene Abhang zu ihrer Rechten verbarg das Rinnsal des Harnen, dessen Ursprung, wie Narissas scharfe Augen erkannt hatten, am Grund der Felswand lagen. Dort strömte das Wasser in einem ungefähr faustgroßen Strahl hervor und verschwand zwischen den Felsen, um sich dann auf dem steinigen Untergrund zum Bach des Harnen zusammenzufinden.
"Hier geht es nach Osten nicht weiter," stellte Aerien unnötigerweise fest. Die Felswand überragte sie um mehrere Dutzend Meter und war so steil, dass an eine Klettertour nicht zu denken war.
"Dann tun wir es Arandir gleich und gehen nach Norden," meinte Narissa. "Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg." Sie sprang geschickt von dem Felsen herab und wandte sich in die besagte Richtung.
Die felsige Böschung stieg nach Norden hin scharf an und führte sie schon bald in eine sich nach oben hin verengende Schlucht, in der sie immer wieder aufgrund des unebenen Bodens stolperten und sich Schürfwunden zuzogen. Sie waren schließlich gezwungen, Karnuzîr von seinen Handfesseln zu befreien, was Aerien nur schwer ertrug.
Seine Hände, dachte sie voller Ekel.
Ich hasse sie am meisten von allem, was an ihm ist. Er hat mich angefasst, mit diesen Händen. Das werde ich niemals wieder zulassen.Karnuzîrs schiefes Grinsen, als Narissa die Fesseln durchtrennte, machte es noch schlimmer. Aerien musste sich zwingen, wegzusehen.
Ich hasse ihn, ich hasse ihn so sehr, dachte sie, während sie sich den steilen Abhang am Ende der Schlucht hinaufkämpfte. Dabei fiel ihr ein, wie sie einst Narissa davon abgehalten hatte, Karnuzîr zu töten, kurz nachdem Thorongil und seine Nichte Aerien gerettet hatten. Inzwischen wünschte sie sich beinahe, sie hätte damals anders gehandelt.
Die Sonne stand bereits tief über den trockenen Ebenen Harondors, die im Westen hinter ihnen lagen. Aus der Schlucht hinaus kamen sie auf ein hoch gelegenes Plateau, das nach Süden und Westen hin offen war und ihnen einen atemberaubenden Ausblick bot. Im Norden und Osten ragten zerklüftete, scharfkantige Felswände auf.
Erneut holte Aerien die Karte hervor. "Bayyin sagte, dass es hier irgendwo einen Felsen geben muss, in den ein Weißer Baum eingraviert worden ist. Hinter diesem Felsen liegt der Eingang zu Arandirs Pfad versteckt... wenn die Karte denn stimmt."
"Natürlich stimmt sie," entgegnete Narissa. "Ein Weißer Baum also, der steht für Gondor. Sehen wir uns um - irgendwo hier wird die Gravierung schon zu finden sein."
Mehr als eine Stunde suchten sie das Plateau und dessen nähere Umgebung vergeblich ab. Die Sonne sank tiefer, bis sie schließlich vollständig verschwand und das Tageslicht mit sich nahm, was ihre Suche nicht gerade einfacher machte.
Arandir lebte vor über dreitausend Jahren, dachte Aerien.
Wir hätten wissen müssen, dass sich in einer so langen Zeitspanne selbst an verlassenen Orten wie diesem einiges verändern kann. Felsen können zu Staub zerfallen, Steine können umstürzen. Selbst Berge können vergehen... "Ich fürchte, wenn es hier eins wirklich einen Weg nach Mordor gegeben hat, ist er längst verschwunden," gab sie sich schließlich geschlagen, als es keinen Zweifel mehr daran geben konnte, dass es Nacht geworden war.
"Du darfst jetzt nicht aufgeben, Sternchen," erwiderte Narissa, doch Aerien hörte am Klang ihrer Stimme, dass auch Narissas Hoffnung zu schwinden begonnen hatte. "Es muss hier sein. Es steht hier so auf der Karte!"
"Narissa, diese Karte ist mehr als ein gesamtes Zeitalter alt. Die Welt hat sich seither verändert. Wer weiß, wo der Felsen mit dem Weißen Baum nun liegt? Vielleicht ist er in den Harnen gestürzt oder wurde vor Jahrhunderten schon von den Winden zerbrochen."
"Das glaube ich nicht," hielt Narissa noch immer dagegen.
Der Wind frischte auf und verwirbelte Aeriens Haare. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. War ihre Fahrt zur Rettung Aragorns wirklich schon an ihr Ende gelangt? Wohin sollten sie nun gehen, wenn der Pfad Arandirs sich als Mythos herausstellte? Sollten sie in Schande nach Tol Thelyn zurückkehren und den Gefangenen des Dunklen Herrschers seinem Schicksal überlassen?
Narissa stieß einen lauten Fluch aus und versetzte einem der Felsen einen frustrierten Tritt. Dann ließ sie sich auf einen flachen Stein fallen und rieb sich den schmerzenden Fuß. Aerien legte ihr die Hand auf die Schulter und spürte, wie Narissas Körper erzitterte. Sie gab keinen Ton von sich, und doch spürte Aerien, wie es in Narissa brodelte.
"Vielleicht... sollten wir etwas schlafen," schlug sie zaghaft vor, weil ihr nichts Besseres einfiel. "Womöglich haben wir einfach etwas übersehen. Morgen haben wir wieder genügend Licht, um weiterzusuchen... auch wenn mein Herz mir sagt, dass es zwecklos sein wird."
Narissa spannte sich bei diesen Worten spürbar an. "Nein. Das kann nicht richtig sein. Es hätte hier sein müssen. Es hätte..." ihre Stimme versagte.
"Schhhh," machte Aerien und legte den Arm um ihre Freundin. "Das ist nicht das Ende. Wir können..."
"Trotz all eurem Stolz und hochfahrenden Worten seid ihr dennoch zu blind, um jenes zu sehen, das sich genau vor eurer Nase befindet," ertönte Karnuzîrs verhasste Stimme und ließ Aerien aufschrecken.
"Was redest du da für einen Unsinn," antworteten Narissa.
"Seht doch. Das Mondlicht bringt das uralte Geheimnis hervor." Karnuzîr stand am Nordrand des Plateaus und zeigte auf etwas, das Aerien nicht sehen konnte. Widerwillig erhob sie sich und trat neben ihren Vetter. Und riss voll Staunen die Augen auf. Vor ihr, inmitten der steinigen Felswand, die am Rande des Plateaus nach Norden aufragte, war im Mondlicht eine schwach leuchtende Form aufgetaucht. Ein Baum, über dem sieben Sterne prangten.
"Mondrunen," flüsterte Narissa andächtig. "Mein Großvater hat mir davon erzählt."
"Arandir muss sie hier einst angebracht haben," mutmaßte Aerien ehrfürchtig. "Ich dachte... bis jetzt dachte ich, Arandirs Geschichte wäre nicht mehr als das. Eine Geschichte. Doch jetzt wird mir klar, dass sein Bericht wahr sein muss. Narissa... es tut mir Leid, dass ich gezweifelt habe."
Narissa nickte fröhlich. "Mit Mondrunen hätte ja niemand rechnen können. Ich drücke also in Arandirs Namen nochmal ein Auge zu, Sternchen." Sie fuhr andächtig mit dem Finger über die feinen Linien im Fels. "Hier muss der Eingang sein." Ihre Hand tastete weiter und erreichte eine unscheinbare Felsspalte neben dem Weißen Baum und Narissas Finger glitten hinein. Sie zog daran - und wäre beinahe von dem sich nach vorne neigenden Felsen erschlagen worden, wenn Aerien und Karnuzîr den großen Stein nicht rechtzeitig abgestüzt hätten. Der Spalt hatte sich verbreitert und Narissa schlüpfte rasch hindurch.
"Hier ist ein Weg! Er führt durch eine Höhle, aber ich sehe Licht am anderen Ende! Das muss Arandirs Geheimnis sein!" Sie tauchte auf der anderen Seite des Felsens auf und hielt ihn fest, sodass auch Aerien und Karnuzîr sich durch den Spalt zwängen konnten, ehe der Stein mit einem tiefen Grollen wieder in seine ursprüngliche Position rutschte. Dunkelheit umfing die drei Menschen, doch Narissa hatte die Wahrheit gesagt. Ein Licht am Ende der Höhle leitete ihre Schritte, die stetig steil bergauf führten. Als sie den Ausgang erreicht hatten, fanden sie sich auf der anderen Seite der großen Felswand wieder, in der Arandirs Felsen eingelassen war. Vor ihnen lag ein sich windender Pfad, der hinauf ins Schattengebirge führte.
"Wir haben Arandirs Weg gefunden," sagte Narissa. "Und jetzt werden wir ihn beschreiten." Entschlossen ging sie voran, und Aerien folgte ihr auf dem Fuß.
Narissa, Aerien und Karnuzîr nach Mordor