Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Mordor
Barad-dûr, der Dunkle Turm
Fine:
Als Aragorn Aeriens Hände nahm, wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück. Auf seinen Satz hatte sie keine passende Antwort. Ein seltsames Gefühl von Ehrfurcht hatte Aerien ergriffen, nun, da ihr Gegenüber kein Gefangener mehr war. Aragorn schien es entweder nicht aufzufallen, oder er ging nicht weiter auf Aeriens Reaktion ein. Rasch unterdrückte sie die Emotion und zog stattdessen das Schwert, das sie aus der Trophäenkammer geholt hatte.
"Ich denke, dies gehört Euch," sagte sie demütig und reichte die Waffe an Aragorn, mit dem Griff nach vorne.
Aragorn betrachtete das Schwert mit einem nachdenklichen Blick. "Woher hast du es?" fragte er leise. Mit der rechten Hand tastete er sanft über das dunkle Leder, mit dem der Schwertgriff umwickelt war.
"Sauron hat es mit anderen Trophäen in einem seiner Heiligtümer hier im Turm ausgestellt," erklärte Gimli. "Ich hätte gute Lust, die Sammlung noch etwas mehr zu plündern, wenn wir nur mehr Zeit hätten."
"Zeit ist das richtige Stichwort," mischte sich Narissa ein. "Die läuft uns nämlich davon, wenn wir noch länger hier herum stehen."
"Aerien," sagte Aragorn und richtete den Blick auf die Angesprochene. "Ich bin nicht gerade in bester Verfassung, wie du sehen kannst. Und du wirst eine Klinge brauchen. Führe Andúril an meiner Stelle, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin."
Aerien wagte nicht, ihm zu widersprechen. Pflichtbewusst nickte sie und nahm das Schwert zurück.
"Zeig uns den schnellsten Weg hier raus," forderte Narissa Aerien auf.
Die Gruppe musste ihr gesamtes Wissen und Können aufbieten, während sie sich durch die uralte Bastion des Bösen bewegten, immer auf der Suche nach einem Ausgang. Aeriens Ortskenntnis wurde auf eine harte Probe gestellt, doch es gelang ihr, die Gruppe weiter und weiter nach unten zu führen, ohne dass ihnen viele Feinde begegneten. Begünstigt wurde ihre Flucht dadurch, dass der Turm bereits vor ihrer Ankunft nur noch schwach besetzt gewesen war, denn der Großteil seiner Garnison war mit ihrem Meister auf den Feldzug nach Norden gezogen.
Narissas geschärfte Sinne halfen ihnen, wenn sie doch einmal auf Orks oder andere Wächter trafen, weshalb sie Fallen und Hinterhalten aus dem Weg gehen konnten.
Am meisten staunte Aerien jedoch über Gimli, den Zwerg. Sie selbst fühlte sich nach den unzähligen Gefechten im Turm längst unfassbar müde, doch Gimli zeigte nicht einmal einen Anflug von Schwäche. Der Zwergenkrieger schreckte vor keinem noch so grausamen Ork zurück und schien geradezu Freude daran zu haben, seine Feinde mit Leichtigkeit niederzumähen. Er hatte einer der Statuen des Dunklen Herrschers dessen eisernen Hammer entwendet und richtete mit der schweren Waffe absolute Verwüstung an.
Während sie sich ihren Weg über verlassene Treppenstufen und durch gespenstische Gänge suchten, warf Aerien immer wieder verstohlene Blicke zu Aragorn hinüber. Sie konnte sich selbst nicht recht erklären, woher ihre Ehrfurcht jenem Mann gegenüber kam, der unlängst noch ein nahezu gebrochener Gefangener gewesen war. Jetzt, wo keine Fesseln ihn mehr banden, umgab ihn eine spürbare Ausstrahlung, die Aerien deutlich wahrnahm. Spätestens jetzt war es für sie unmissverständlich klar, dass Aragorn von reinem númenorischen Geblüt war. Seine grauen Augen begegneten Aeriens Blicken, doch er sprach kein Wort.
Aragorn in der Mitte der Gruppe haltend eilten sie so immer tiefer in die unteren Stockwerke Barad-dûrs herab, bis sie schließlich wieder in die Nähe der Eingangshalle kamen. Hier waren die meisten verbliebenen Wachen postiert worden, und schon bald gab es keine Verstecke mehr für Aerien und Narissa. Als zwei Gruppen Orks sie aus Seitengängen her gleichzeitig entdeckten, gab es nur noch eine Option: Flucht nach vorne.
"Lauft!" schrie Aerien und stürmte voran, mitten in die riesige Eingangshalle hinein. Das Tor nach draußen war noch weit entfernt, doch es stand offen. Sie spürte ihr Herz heftig in ihrer Brust schlagen. Aragorns Rettung hatte ihr Hoffnung gegeben, aus deren Funken nun ein tosendes Feuer geworden war.
Orks polterten die Treppen hinab, auf denen die Gruppe vor Kurzem noch gestanden hatte. Hinter ihnen strömten mehr und mehr Feinde in die Eingangshalle. Ein Blick nach vorne zeigte Aerien, dass der Weg zum Tor noch frei war. Sie mobilisierte ihre letzten Energiereserven zu einem Endspurt und sah, wie Narissa es ihr gleich tat. Gimli stützte Aragorn so gut es ging, doch im Endeffekt zerrte der Zwerg ihn mehr mit sich, als dass er Aragorn trug. Den steinernen Hammer hatte er längst beiseite geworfen.
Einem schwarzen Pfeil gleich bohrte sich ein eisiger Stich in das Herz von Aeriens Hoffnung, als sie mit ansehen musste, wie aus verborgenen Zugängen neben dem Ausgangstor Menschen in dunklen Roben kamen und sich schweigend vor dem Tor aufreihten. Der Weg war versperrt worden, so kurz vor dem Ziel. Alle Kraft verließ Aeriens Beine und sie kam entmutigt zum Stehen. Der Rest der Gruppe folgte. In Narissas Händen blitzten ihre Dolche drohend auf, als aus der Menge vor ihnen eine Gestalt auftauchte. Eine dunkle Rüstung, ein schwarzer Umhang, eine Maske aus Stahl - der Bleiche Herold war gekommen. Und mit ihm kam das Ende von Aeriens Hoffnung.
"Glaubtet ihr wirklich, ihr könntet einfach so gehen?"
Die Stimme klang in Aeriens Ohren noch kälter und unerträglicher als sie es bei ihrer ersten Begegnung mit dem Meister des Ordens des Roten Auges getan hatte.
"Welch Torheit. Niemand hat diesen Turm jemals verlassen, ohne dass der Große Gebieter es wünschte. Auch ihr werdet es nicht."
Aerien bemerkte kaum, wie die Orks langsam einen Kreis um sie schlossen. Etwas in ihr verspotte sie dafür, jemals gehofft zu haben. Sie nahm nur noch die abscheuliche Maske des Bleichen Herolds wahr, die sich Schritt für Schritt näherte.
"Eine gibt es, die einst diesem Ort entflohen ist," sagte Aragorn leise. Der Herold blieb stehen und es wurde still in der großen Eingangshalle. "Mit List und Geschick täuschte sie die Diener deines Meisters, obwohl Sauron selbst damals noch hier war."
"Schweig, Gefangener!" donnerte der Herold, doch Aragorn ließ sich nicht beirren. Trotz seines zerlumpten Aussehens strahlte er in jenem verzweifelten Augenblick eine königliche Aura aus.
"Sauron mag auf dem Schlachtfeld siegen, doch wisse dies: die Dunkelheit wird nicht anhalten. Ob heute oder in einem Jahrhundert: Mordors Macht wird vergehen, so wie auch die Macht Angbands vergangen ist."
Dann verstrich der Moment, und Aragorn war wieder nur ein beinahe gebrochener Gefangener, gezeichnet von Folter und Qual, der sich kaum selbst auf den Füßen halten konnte.
Auch dem bleichen Herold entging die Veränderung nicht. "Hoffnung ist eine Illusion," höhnte er. "Für euch gibt es kein Entkommen. Doch seid unbesorgt! Wir werden euch nicht töten. Stattdessen wird euch die vollständige Gastfreundschaft des Dunklen Turmes zuteil werden, und ihr werdet verwandelt werden, bis ihr kein anderes Gefühl als ewige Treue zum Großen Gebieter mehr kennen werdet." Er machte eine Pause und Aerien wusste, dass der Herold unter seiner Maske grinste. "Ergreift sie," befahl er.
In diesem Augenblick geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Gimli brüllte einen Kriegsschrei und ballte die Fäuste, um sich auf den ersten Ork zu stürzen, der sich ihm zu nähern wagte. Narissa spannte sich an wie zum Sprung, als wollte sie vor ihrem Tod oder ihrer Gefangennahme wenigstens noch den Anführer des dunklen Ordens mitnehmen. Aerien packte Andúril mit beiden Händen, erfüllt von trotziger Verbitterung, während Aragorn sich mühsam aufrichtete und die Augen schloss. Die Orks gerieten in Bewegung und würden jeden Augenblick johlend auf die Gruppe losstürmen.
Doch noch etwas anderes ereignete sich. Die Akolythen des Bleichen Herolds standen stumm und unbewegt vor dem Tor und versperrten ihnen noch immer den Weg nach draußen - bis auf einen. Einer unter ihnen geriet in Bewegung und warf sich nach vorne, auf seinen Ordensmeister zu. Eine schwarze Klinge blitzte auf - und brach blutverschmiert aus der Brust des Herolds hervor.
Aerien konnte später nicht mehr sagen, wie es ihr gelungen war, instinktiv zu reagieren, als der Herold mit einem unnatürlichen Schrei in die Knie brach. Der zuvor so merkwürdig stille Eingangshalle ertrank schier in einem gewaltigen Chaos. Die Diener des Herolds gerieten in vollkommene Unordnung, als hätte das Verhängnis ihres Meisters sämtliche logischen Gedanken in ihren Köpfen ausgelöscht. Ganz ähnlich erging es den Orks, die wie von einem Wahn gepackt über einander herfielen. Aerien nahm Aragorns Arm und hievte den Menschen mit sich, während Gimli geistesgegenwärtig vorwärts eilte, um ihnen einen Weg durch das heillose Durcheinander zu bahnen. Narissa ging rückwärts hinter ihnen und deckte sie von hinten. Als sie an der verkrümmten Leiche des Herolds vorbeikamen, erhaschte Aerien einen Blick auf dessen Mörder, der inzwischen ebenfalls seinen letzten Atemzug getan hatte. Es war Karnuzîr. Irgendwie musste es ihm gelungen sein, sich mit letzter Kraft unter die Akolythen zu mischen...
Gimli hieb die letzten beiden verbliebenen Wachen außerhalb des Tores nieder und dann waren sie draußen. Es war zwar noch immer Mordors verpestete Luft, die in ihre Lungen strömte, doch für Aerien fühlte es sich an, als würde jeder Atemzug sie mit neuer Kraft erfüllen. Sie blieben nicht stehen, sondern hasteten die lange Brücke jenseits des Eingangsportal von Barad-dûr entlang. Auf der anderen Seite angekommen übernahm Narissa die Führung, während Aerien noch immer Aragorn stützte. Sie wusste nicht, wohin sie nun gehen sollten; sie wusste nur eines: weg von diesem bösartigen Bauwerk und fort von den Echos von Saurons Gegenwart. Narissa wählte die Straße, die geradewegs nach Westen führte, an der Südseite jenes Berges entlang, der sich inmitten der Hochebene von Gorgoroth erhob: Orodruin, der Schicksalsberg.
Narissa, Aerien, Aragorn und Gimli nach Gorgoroth
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