Narissa, Aerien, Gimli und Aragorn von der Ebene von GorgorothEine breite und gut ausgebaute Straße führte von der Kreuzung einige Wegstunden westlich der Isenmünde nach Norden ins Schattengebirge hinauf. Hier thronten die höchsten Gipfel des Ephel Dúath, die das eingeschlossene Tal von Durthang in ihrem Herzen bargen. Das Tal selbst maß nur wenige Meilen und wurde von der gewaltigen Bergfestung der Schwarzen Númenorer dominiert, die am jenseitigen Rand der kleinen Ebene einer Spinne gleich auf einem großen Felsplateau an den Knien der schwarzen Berge hockte. Die alten gondorischen Baumeister hatten sie als Kommandozentrale der Wachmannschaften erbaut, die einst nach Saurons Niederlage über das verlassene Mordor gewacht hatten, doch die ursprüngliche Festung war seit ihrer Inbesitznahme durch die Adûnâi stetig erweitert worden. Schlanke, düstere Türme reckten sich langen, scharfen Klauen gleich in den dunklen Himmel und die drohenden Mauern bestanden aus den schwarzen Felsen der umlirgenden Berge und wirkten ganz und gar undurchdringlich. Wer die Festung kannte, der wusste, dass ihr Äußeres einem nur einen Bruchteil ihrer ganzen Größe offenbarte, denn unter den Fundamenten ruhten zahllose Gruben und Verliese, in denen Folter und Qualen an der Tagesordnung waren.
"Was für ein trostloser Ort," kommentierte Narissa, als sie das Tal zum ersten Mal erblickte. Sie gingen auf einem der Nebenwege der Hauptstaße, der parallel zum Hauptzugang des Tales etwas weiter nördlich und in größerer Höhe verlief. Aerien wusste, dass dieser Zugang von weniger Wachen geschützt wurde als die Hauptstraße - und sie wusste, wann die Wachablösung stattfand. Zwei Biegungen weiter würden sie an ein kleines Wachhaus kommen, das den Pfad sicherte. Sie waren an einem Punkt stehen geblieben, der ihnen einen guten Ausblick über das gesamte Tal bot.
"Wenn die Wachablösung bevorsteht, geht einer der beiden Wächter hinein, um nach seiner Ablösung zu schicken. Für einige kurze Minuten wird der Pfad dann nur von einer Person bewacht werden," erinnerte Aerien die Gruppe an ihren Plan. Sie suchte Aragorns Blick. "Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Gleich erreicht die Sonne ihren höchsten Stand. Wir sollten gehen."
"Haltet euch dicht hinter uns," sagte Aragorn zu Narissa und Gimli, ehe er sich Aerien anschloss.
Sie gingen in unbehaglichem Schweigen nebeneinander her, bis Aerien Aragorn das Zeichen gab. Er verzerrte das Gesicht zu einer Maske der Schmerzen und stützte sich schwer auf ihre Schulter. Gemeinsam umrundeten sie die letzten Biegung und das Wachhaus kam in Sicht.
"Hilfe!" rief Aerien auf adûnâisch. "Wir brauchen Hilfe, er ist verletzt!"
Entgegen ihrer Hoffnung reagierte der Wächter zurückhaltend. Sein Helm mit dem schmalen Visier, der Aerien an Aglarân erinnerte, wandte sich ihnen zu und seine Hand wanderte zu dem Schwert an seiner Seite. "Wer geht dort?" blaffte der Soldat.
"Bitte!" wiederholte Aerien. "Der Pfad hinter uns ist nicht sicher! Ein Karagâth hat uns angefallen und drei von uns bereits in den Tod gerissen! Die Bestie wird gleich hier sein!" Sie stolperte mehrere Schritte auf den Wächter zu.
Der Soldat wirkte verwirrt. "Ein Karagâth? So weit im Norden?"
Aerien war nun beinahe heran. "Ihr müsst Durthang warnen!"
Aragorn gab einen Schmerzenslaut von sich und brach zwei Schritte vor dem Wächter zusammen. Sofort war Aerien an seiner Seite und tastete ihn wie voller Sorge ab. Als der Wächter sich misstrauisch zu Aragorn hinab beugte, sah sie ihre Gelegenheit gekommen. Der schwarze Dolch, den sie sich von Narissa geliehen hatte, zuckte aufwärts und fand die schwache Stelle der adûnâischen Rüstung zwischen Schulter und Hals. Gurgelnd brach der Mann zusammen.
Gerade rechtzeitig, denn im selben Moment bogen Narissa und Gimli um die Wegbiegung. Sie hasteten heran und Aerien gab Narissa ihren Dolch zurück. Dann nahm sie dem Toten seinen Schlüsselbund ab und verriegelte die Tür des Wachhäuschens von außen - kaum eine Sekunde bevor die Klinge heruntergedrückt wurde. Als sich die eisenbeschlagene Tür nicht öffnete, erklang ein derber Fluch aus dem Inneren.
"Wir müssen weiter," drängte Aerien. "Das wird sie nicht lange aufhalten!"
Zweimal entgingen sie nur äußerst knapp der Entdeckung, als sie sich im Schutze der nahen Felswand am nördlichen Rand des Tals auf die Festung Durthang zu pirschten. Dank Aeriens Ortskenntnissen gelang es ihnen, ungesehen zum Rand einer unscheinbar wirkenden Felsspalte kaum einen Steinwurf außerhalb der ersten Mauern zu gelangen. Hier waren sie vor Blicken geschützt, doch was viel wichtiger war: Hier lag einer der geheimen Zugänge ins Innere von Durthang.
Aerien atmete tief durch.
So weit, so gut, dachte sie. Sie wechselte einen Blick mit Narissa, die aber sofort beiseite schaute. Noch immer war sie nicht damit einverstanden, dass Aerien alleine gehen wollte.
"Worauf wartest du, Kleine?" brummte Gimli. Der Zwerg wirkte abgekämpft. Die Flucht schien ihm mehr abverlangt zu haben, als er selbst zu glauben schien.
"Aerien," sagte Aragorn behutsam. "Gib dort drinnen gut auf dich Acht. Du bist unsere einzige Hoffnung."
Sie nickte.
Eigentlich ist es keine schwierige Aufgabe, dachte sie bei sich. Der Tunnel, der unter ihren Füßen jenseits einer verborgenen Falltür begann, führte auf direktem Wege in die innersten Gemächer ihrer Familie. In das Herz des kleinen Reiches, in dem Aerien aufgewachsen war. Er war als letzte Fluchtmöglichkeit von den Herren der Festung unter größtmöglichster Geheimhaltung angelegt worden. Alle Sklaven, die am Bau beteiligt gewesen waren, waren vom Baumeister persönlich ermordet worden, ehe dieser nach Abschluss seines Werkes im Gegenzug vom damaligen Fürsten von Durthang getötet worden war. Niemand außer Aeriens Familie kannte diesen Weg. Sie musste ihn nur beschreiten, in das Gemach ihres Vaters eindringen und den Reif der stummen Wächter stehlen. Sie würde im Nu wieder draußen sein.
Aerien fasste sich ein Herz und ging in die Knie, um die versteckte Falltür zu öffnen. Ein modriger Geruch schlug ihr entgegen, doch sie ignorierte ihn. Sie nahm keine Waffen bis auf den kleinen verzierten Dolch aus Kerma mit sich, denn sie hoffte, sie würde keine brauchen. Und so suchte sie ein letztes Mal Narissa Blick, welche dieses Mal nicht beiseite blickte. Langsam und zögerlich nickte Narissa. Und das war aller Ansporn, den Aerien brauchte. Sie stieg die Leiter hinunter und kam in den dunklen Gang darunter. Uralter Staub kitzelte ihre Nase und sie musste sich in völliger Dunkelheit voran tasten, doch sie kannte den Weg. Es ging stetig aufwärts, bis ihre tastenden Hände auf eine feste, gemauerte Steinoberfläche trafen. Mit einer geübten Handbewegung griff sie nach links, wo ihre Finger über eine unscheinbare Kuhle in der Felswand strichen. Sie verharrte, ehe sie langsam den Dolch zog und einen winzigen Schnitt in ihrer Handfläche machte. Kaum war das warme Blut in Berührung mit der Einkerbung gelangt, spürte Aerien, wie der Widerstand vor ihr sich löste und sie mit einiger Anstrengung die Felsplatte beiseite schieben konnte. Atemlos kletterte sie hinaus und sah sich vorsichtig um.
Sie war im Vorzimmer des Gemaches von Varakhôr, dem Herrn von Durthang angekommen. Es war größtenteils leer bis auf einige Kriegstrophäen und diverse Banner, die von den Wänden hingen. Drei Türen führten aus dem Raum heraus. Zur Rechten ging es zu den Zugangswegen zum Rest der Festung, und mit Schrecken erkannte Aerien, dass dort zu beiden Seiten der Türe, außerhalb des Raumes, zwei finstere Wächter standen. Äußerlich waren sie kaum von Aglarân zu unterscheiden, selbst der dunkle Helmbusch war derselbe. Doch sie atmete auf, als ihr einfiel, dass die Wächter den Raum nur mit einem ausdrücklichen Befehl betreten würden, da ihnen ansonsten der Tod drohte. Solange sie Aerien nicht hörten, würden sie an Ort und Stelle bleiben.
Geradeaus führte ein weiterer Gang zu den Zimmern, die Aeriens Geschwistern gehörten. Ganz am Ende lag ihr eigenes Gemach und etwas in ihr bettelte sie an, dorthin zu gehen, sich ins Bett zu legen und einfach alles zu vergessen. Es wäre so leicht. Alles könnte wieder so wie früher sein, als sie keine Angst und keine Sorge gekannt hatte.
Narissas Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und Aerien schüttelte den verlockenden Gedanken ab. Sie wandte sich nach links. Hier ging es ins Allerheiligste der Festung von Durthang - die Kommandozentrale des Herrn des Tales. Ein großer, schwarzer Tisch dominierte den mit grauen Teppichen ausgelegten Raum, doch zu Aeriens Überraschung war dessen Oberfläche nahezu leer. Seitdem sie sich erinnern konnte, hatte Aeriens Vater stets allerlei Karten, Pergamente und Briefe auf seinem Tisch gestapelt gehabt und nur selten Ordnung geschaffen. Dass dem nun nicht so war, musste bedeuten, dass Varakhôr schon seit längerer Zeit nicht in Durthang gewesen war. Aerien war froh darüber.
Verborgen in einer Bodenluke unterhalb des steinernen Sitzes jenseits des Kartentisches fand sie, was sie gesucht hatte: Die Truhe mit den wichtigsten Besitztümern ihres Vaters. Aerien musste ein wenig darin herumkramen, bis sie den eisernen Armreif gefunden hatte, der ihren Freunden den Weg aus Mordor frei machen würde. Sie wagte nicht, das Schmuckstück überzustreifen, sondern steckte es in eine ihrer Taschen. Erleichtert verschloss sie die Truhe und die Bodenluke, richtete sich hinter dem Tisch auf - und erstarrte.
Aus den Augenwinkeln sah sie zu ihrer Linken eine Gestalt stehen. Langsam drehte Aerien sich zur Seite. Das Gemach ihres Vaters ging dort in einen großen Balkon über, der direkt über dem Haupttor der Festung lag und von dem man einen spektakulären Blick nicht nur über das Tal, sondern über die gesamte Ebene von Gorgoroth hatte. Sie sah in der Ferne den Orodruin und jenseits davon den Dunklen Turm aufragen. Doch vor Aerien, im Zentrum des Balkons, war jemand, der sich nun ihrer gesamten Aufmerksamkeit bemächtigte.
"So kehrst du also zu mir zurück, meine Tochter. Wie eine gewöhnliche Diebin aus den Schatten," sagte Lóminzîl, Gemahlin des Varakhôr, mit trauriger Stimme. Aeriens Mutter trug ein dunkelrotes Kleid, das ihrem Stand entsprach - verziert mit silbernen Stickereien und von exquisitem Schnitt. Um ihren schlanken Hals hing eine dünne Kette aus dunklem Stahl und in ihrem nachtschwarzen Haar steckten drei Blüten aus Silber. Ihre Ohrringe waren wie zwei blutrote Rubine. Doch Aerien bemerkte kaum etwas davon. Sie sah nur die Augen ihrer Mutter: grau, wie ihre eigenen. Und doch vollkommen anders.
"Hohe Mutter," brachte sie hervor.
"Azruphel. Was tust du hier?" fragte Lóminzîl. "Du solltest nicht hier sein, wenn du nicht gekommen bist, um Abbitte für deine Vergehen zu leisten."
Mit einem scharfen Blick forderte ihre Mutter Aerien dazu auf, zu ihr zu kommen. Jahrelang eingeübte Reflexe setzten ein, und wie im Traum bewegte sich Aeriens Körper, ohne dass sie es wollte. Schon stand sie vor ihrer Mutter auf dem weitläufigen Balkon.
"Ich... bin nicht hier, um..."
"Ich weiß," unterbrach Lóminzîl sie sanft. Noch immer war ihre Stimme von Traurigkeit geprägt. "Und du bist auch nicht gekommen, um Lebewohl zu sagen. Denn das hast du bereits."
Aerien erinnerte sich. Als sie aus Mordor geflohen war, hatte ihre Mutter sie gedeckt. Gewiß würde sie das auch wieder tun. Sie begann, Hoffnung zu schöpfen. Noch war nicht alles verloren. "Ich werde nicht wieder hierher zurückkehren," sagte sie mit nur leicht zitternder Stimme.
Lóminzîl nickte. "Nein, das wirst du nicht, meine Tochter. Oh Azruphel. Sage mir eines, Kind: War es all die Schmerzen und das Leid wert?"
Aerien blickte verwundert auf. "War
was es wert?"
"Deine Flucht. Deine vielzähligen Torheiten, die du im wilden Süden begangen hast. Dein Abfall vom Auge des Gebieters. Du hast seinen Zorn auf dich geladen, Azruphel."
"Ich... ich fürchte ihn nicht," wagte sie zu behaupten.
Doch ihre Mutter schüttelte den Kopf. "Deine Lügen haben ihre Glaubwürdigkeit verloren, Kind."
Aerien wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Als Lóminzîl ihr die Arme entgegen streckte, ließ sie zu, dass ihr Körper sich mit zwei verhaltenen Schritten ihrer Mutter näherte - und sich sanft umarmen ließ.
In diesem Augenblick fielen alle Gedanken von Aerien ab. Sie erwiderte die Umarmung so innig sie es vermochte. Es war ihr, als würde dieser Augenblick ewig andauern.
"Ich bin froh, dass du zu mir zurückgekehrt bist, Azruphel," sagte Lóminzîl leise. "Es ist gut, dich wiederzusehen."
Aerien nickte und konnte nicht verhindern, dass ein Schniefen ihrer Nase entwich. Sie fühlte sich sicher. Ihre Mutter würde sie nicht im Stich lassen.
"Werdet Ihr... mir helfen, Hohe Mutter?"
"Das werde ich, Kind. Hab' keine Angst."
Ein kaum hörbarer Laut drang an Aeriens Ohr - wie ein Fuß, der leise und verstohlen auf eine weiche Oberfläche gesetzt wird. Sie spürte, wie ihre Mutter sich in der Umarmung regte.
"Hohe Mutter..."
"Es ist gut, Azruphel," hauchte Lóminzîl an ihrem Ohr. "Finde...
Frieden."
Ein grausamer Stachel bohrte sich einer glühenden Klinge gleich in Aeriens Unterleib. Erstickt keuchte sie auf und taumelte einen Schritt rückwärts aus der Umarmung ihrer Mutter. Fassungslos starrte sie auf den blutbefleckten Dolch in Lóminzîls Hand, deren sonst so beherrschte Miene nun von Schmerz und Trauer gezeichnet war.
Eine Morgulklinge, gelang es Aerien noch zu denken, ehe es schwarz um sie wurde und sie in die Leere stürzte.