Mitten in der Nacht schreckte Aerien aus dem Schlaf auf. Sie setzte sich ruckartig im Bett auf, schwer atmend. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie einen schlechten Traum gehabt hatte, oder was sie geweckt hatte. Sie spitzte die Ohren und hielt den Atem an: doch da war nichts bis auf die leisen Geräusche der Stadt, die durch das offene Fenster drangen. Sie hörte den regelmäßigen Atem zweier Lebewesen: Beregond, der in dem großen Sessel eingenickt war, und Sedh-heleth - die Katze hatte sich auf einem großen Kissen bei Aeriens Füßen zusammengerollt. Doch irgendetwas stimmte nicht. Aerien konnte geradezu spüren, dass Gefahr in der Luft lag. Langsam und vorsichtig tastete sie nach dem kermischen Dolch, der unter ihrem Kopfkissen lag... doch da legte sich eine Klinge an ihren nackten Hals.
"Sehr gut, Mädchen. Du bist wachsamer, als ich es dir zugetraut habe."
Die Stimme kam Aerien nicht bekannt vor. Sie war weiblich, volltönend und von einer gewissen Tiefe. Aerien wagte nicht, sich zu bewegen, doch ihre Hand verharrte am Griff des Dolches.
"Hab' keine Angst. Ich bin nicht hier, um dir deine hübsche Kehle aufzuschlitzen. Wäre dein Tod mein Ziel gewesen wärst du gar nicht erst aufgewacht. Du entstammst zwar dem Land des großen Feindes meines Ordens... doch du bist kein Feind. Du hast dich abgewandt."
"Wer seid Ihr, und was wollt Ihr von mir?" verlangte Aerien leise zu wissen.
Anstatt einer Antwort nahm Aerien eine Bewegung am Rand ihres Sichtfeldes wahr. Eine hochgewachsene Frau erschien an ihrer Bettseite, ein langes gebogenes Schwert in der Hand, dessen Klinge keinen Millimeter von Aeriens Hals abwich. Die Frau trug weiße Gewänder und schien ungefähr im selben Alter wie Aeriens Mutter zu sein - genau konnte sie es jedoch nicht sagen.
"Ich bin Elyana. Narissa hat dir nichts von mir erzählt, nicht wahr?" Die Frau in Weiß wartete nicht auf eine Antwort Aeriens. Stattdessen fuhr sie fort: "Nein, das hat sie natürlich nicht. Dieses Kind ist unglaublich dickköpfig. Und das hat sie nun erneut in Gefahr gebracht. Sie sollte wirklich lernen, auf mich zu hören."
"Narissa?" wiederholte Aerien verwirrt. "Ich verstehe nicht..."
"Nein, du verstehst nicht, ich weiß. Lass es mich dir erklären, Belkâli. Nun schau mich nicht so überrascht an; ich weiß, wer du bist. Mein Orden wurde deiner gewahr, als du die Grenzen dieses Landes überschritten und Harad betreten hast. Und als du nach Ain Sefra kamst, erkannte ich die wichtige Verbindung, die du zum Kind der Zeit - zu Narissa - haben wirst."
Ehe Aerien eine Frage stellen konnte fuhr Elyana fort: "Belkâli! Bist du bereit, für deine Freundin dein Leben zu riskieren? Willst du ihr beweisen, dass du es ernst gemeint hast als du sagtest, dass euch etwas Besonderes verbindet?"
Aerien blinzelte überrascht. Diese Frau schien wirklich über
alles Bescheid zu wissen. Doch sie schob ihre Zweifel für den Moment beiseite und traf ihre Entscheidung. "Ich habe es ernst gemeint, und ich vermute, das wisst Ihr bereits, sonst wärt Ihr nicht hier. Meine Antwort lautet Ja. Ich werde... mein Leben für Narissa riskieren, wenn es sein muss." Als sie die Worte ausgesprochen hatte, dachte sie einen Moment über die schwerwiegende Bedeutung nach, doch Elyana riss sie rasch wieder aus ihren Gedanken.
"Sehr gut - du überraschst mich erneut, Belkâli. Du bist tatsächlich nicht nur äußerlich strahlend, wie dein Name schon sagt. Aber genug davon. Da du entschlossen bist, Narissa zu helfen, werde ich dir erklären, weshalb ich hier bin. Narissa ist in Schwierigkeiten geraten - in große Schwierigkeiten. Sieben Leben gingen verloren um sie zu schützen - alle vergeblich. Sie ist in die Gewalt eines äußerst gefährlichen Mannes geraten. Und du bist die beste Chance, die sie noch hat."
"Was ist mit Euch?" wunderte sich Aerien. "Wenn Ihr wisst, wo Narissa ist, warum befreit Ihr sie nicht selbst?"
"Ich habe noch andere Pflichten, Belkâli. Und ich verbrauchte bereits viel von meiner Kraft bei dem Versuch, Narissa vor ihrem Häscher zu schützen. Ich muss mich wieder erholen, bevor ich ihr erneut zu Hilfe kommen kann. Deswegen brauche ich dich. Du musst sogleich nach Westen reiten, immer der Straße nach Umbar folgend, bis du zu einem Hof kommst, der von einem Zaun umgeben ist. Er besteht aus einem Haupthaus und einer Scheune. Dort musst du Narissas Spur aufnehmen. Ich werde dir alle Hilfe zuteil werden lassen, die ich kann... triff mich, sobald du bereit bist, unten an den Stallungen. In der Zwischenzeit werde ich dafür sorgen, dass dein Pferd die Strecke schnellstmöglichst zurücklegen kann."
Die Klinge verschwand von Aeriens Hals und mit einem Wirbeln ihres weißen Gewandes verschwand Elyana aus Aeriens Sichtfeld.
Aerien atmete tief durch und wog für einen Moment die Möglichkeit ab, dass all dies nur ein Traum sein könnte. Doch sie spürte noch immer eine Kälte an ihrer Kehle, wo Elyanas Klinge so lange geruht hatte. Sie zog sich rasch an und stupste Beregond vorsichtig an. Der Gondorer öffnete ein Auge und sah Aerien müde an. "Was ist los? Du solltest schlafen."
"Ich muss gehen, Beregond. Narissa ist in Gefahr." gab Aerien zurück.
"Du kannst nicht gehen. Was wird Damrod dazu sagen? Du würdest alles Vertrauen verlieren, das du bisher aufgebaut hast."
"Ich
muss," beharrte Aerien. "Wenn ich Narissa retten kann ist es mir das Vertrauen der Waldläufer wert. Außerdem wird Serelloth für mich bürgen. Sie kann ihren Vater daovn überzeugen, dass ich keine Bedrohung darstelle."
Beregond blickte ihr zweifelnd in die Augen. "Ich verstehe nicht, warum du mitten in der Nacht aufbrechen musst. Das klingt, ehrlich gesagt, ziemlich nach einer dunklen Angelegenheit deiner Verwandten. Es klingt nach Mordor."
Aerien wand sich. "Es ist mir bewusst, wie sich das anhören muss, Beregond. Ich wünschte, die Umstände wären anders. Aber ich habe gerade erst erfahren, dass Narissa in Schwierigkeiten steckt, und habe keine Zeit mehr zu verlieren, wenn ich sie retten will. Ich werde.... ich werde dich irgendwie wiederfinden, wenn ich bei meiner Mission Erfolg hatte. Und dir dann alles erklären."
"Aerien. Ich vertraue dir. Aber ich kann nicht versprechen, dass Damrod das auch tun wird," sagte Beregond und legte ihr die Hände auf die Schultern. "Wenn du gehen musst, dann geh mit meinen besten Wünschen. Ich hoffe, du weißt, was du tust, Aerien."
Sie nickte. Aerien konnte erkennen, dass sie Beregond in der kurzen Zeit, in der sie sich kannten, auf eine gewisse Art und Weise ans Herz gewachsen war; und sie stellte selbst ebenfalls fest, dass der Gondorer ein guter Freund für sie geworden war; ein Gefährte, den sie nur ungern zurückließ. Doch Beregond hatte Verpflichtungen, denen er nicht einfach entsagen konnte.
"Pass auf dich auf, Beregond," sagte sie.
"Und du auf dich, Aerien Bereneth."
Sie schulterte ihre Habseligkeiten und eilte zum Stall, wo Elyana bereits auf sie wartete.
"Da bist du ja, Belkâli. Ich sehe, dass du noch immer Fragen hast. Doch das wird warten müssen," sagte sie. "Wenn die Zeit reif ist, werde ich dir alles erklären, wenn es Narissa nicht selbst tun wird. Ich habe meinen Orden alarmiert, du wirst also nicht allein sein. Doch du bist jetzt die beste Hoffnung für das Kind der Zeit. Weiche nicht vom Weg ab und zögere nicht!"
Aerien saß auf und Elyana trat ein letztes Mal neben sie. "Der Segen der Schwestern begleitet dich, mutiges Mädchen. Geh nun, und ergreife dein Schicksal. Wir werden uns wiedersehen." Damit wandte die geheinmisvolle Frau in Weiß sich ab und verschwand.
"Jetzt sind nur noch wir beide übrig, nicht wahr?" sagte Aerien zu dem Pferd, das sie den ganzen Weg von Ithilien aus begleitet hatte. Sie verstand nicht genug von Pferden um zu wissen, ob es ein Hengst oder eine Stute war, also beschloss sie, das Tier
Karab(1) zu taufen, was "Ross" in ihrer Muttersprache, dem Adûnâischen, bedeutete.
"Auf geht's!" flüsterte sie Karab zu, und preschte in westlicher Richtung davon.
Aerien von Ain Séfra aus nach Westen
(1) adûnâisch "Pferd, Ross, Reittier"