Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Nah-Harad und Harondor

Aín Sefra - In der Stadt

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Melkor.:
Gemeinsam trafen Músab und Alára bei der Residenz ein, wo inzwischen auch Wa'aran Haywat angekommen war.
"Ah, Wa'aran, wie ich sehe, seid ihr auch wieder hier." Mit diesen Worten begrüßte Músab seinen Schwager und bedankte sich nochmals für dessen Bürgschaft bei Qúsay. Nach einem kurzen Gespräch verabschiedete sich Wa'aran von ihnen und Músab und Alára gingen in den Innenhof der Residenz. Dort waren bereits Tamal und Gatisen aktiv und trainierten erneut ihre Waffenkünste. Músab, der wie Alára einen Augenblick zuschaute, unterbrach schließlich den Kampf und rief seinen Sohn zu sich. Alára, gönn dir etwas Ruhe, " befahl Músab um zu symbolisieren dass er mit dem zukünftigen König Kermas unter vier Augen sprechen wollte. Alára nickte zögerlich und folgte Wa'aran ins Innere des Gebäudes.
"Vater, was gibt es zu besprechen?" fragte Tamal, der den richtigen Moment abgewartet hatte.
"Schicke eine Botschaft nach Kerma. Aspelta möge die erste, dritte und siebte Bogenschützenkompanien von Kerma nach Napata beordern." Tamal nickte, konnte jedoch nicht verstehen, warum Músab seinen Onkel von seinen Pflichten befreite. Bevor Músab weiter sprach schaute er sich um, ob niemand ihnen zuhören hätte können. "Der eigentliche Grund warum ich mit dir sprechen möchte ist..." Músab schnaufte kurz durch und sprach dann eilig weiter.  "Wir haben vielleicht einen Hinweis auf den Mörder meiner Mutter gefunden. Eine schwarze Numenorerin - zumindest habe ich die starke Vermutung dass es sich dabei um eine handelt - die sich in Ain Sefra aufhält." Tamal nickte verstehend.. "Du musst heute Abend zu den Fürsten der Nachbarländer gehen und neue Verträge erhandeln. Nimm Alára und Silko als deine Leibwächter mit, verstanden?" befahl Músab seinem Sohn. Tamal nickte erneut und Músab schickte ihn wieder zurück zu seinem Neffen.

Als Músab gerade auch die Residenz betreten wollte, hörte er vom Tor kommend eine helle, junge Stimme die von einer dunkleren Stimme oftmals übertont wurde. Fragend was dort wohl sei, lief er zum Tor. Um so näher er kam umso mehr konnte er Worte heraus hören.  "Aber ich muss zum König..." bat die junge Stimme erneut die jedoch von dem Leibwächter abgewiesen wurde. "Kinder haben hier nichts verloren, zudem empfängt der König gerade niemanden. Geh jetzt!" sagte der Leibwächter im ernsten Tonfall.  Durch das Gespräch mit dem Jungen abgelenkt bemerkte er nicht, dass Músab bereits hinter ihm stand. "Wachmann, was ist hier los?" fragte Músab den Wächter. Genau wie seine Kameraden nahm dieser sofort Haltung an. "Dieser Junge erbittet eine Audienz bei euch, Herr." sagte die Wache. "Lasst ihn gewähren," befahl Músab und der Junge stahl sich seinen Weg an den Wachen vorbei. Stotternd überbrachte der in alten zerrissenen Lumpen umhüllte Junge die Botschaft die ihm Aerien gegeben hatte. Nachdem der Junge nach einigen Anläufen die exakte Botschaft überbringen konnte legte Músab zwei Silbermünzen in die Hand des Kindes. Mit einem Dank auf den Lippen verschwand der Junge schnell wieder in die Gassen der Stadt.

Fine:
Als die Sonne bereits zu sinken begann machten sich Beregond, Narissa und Aerien auf den Weg zu König Músab. Von einem Einheimischen erfuhren sie schnell, wo sich die Residenz des Herrschers von Kerma befand. Auch am Tag nach dem Majles waren die Straßen Ain Séfras voller Menschen, die von einem Neuanfang für Harad sprachen, und Qúsays Name war in aller Munde. Auch wenn Aerien die meisten haradischen Sprachen und Dialekte nicht verstand konnte sie doch deutlich den Namen des frisch ernannten Maliks heraushören. Sie nickte zufrieden. Qúsay würde sich als ein guter und gerechter Herrscher erweisen, so viel hatte sie bei seiner Antrittsrede erkennen können.

Es dauerte gar nicht lange bis sie in einen Stadteil kamen, wo die Häuser größer und prächtiger und die Straßen breiter und weniger belebt wurden. Músabs Residenz ragte vor ihnen auf. Am Eingangstor, das den Weg zum Innenhof und zum Hauptgebäude dahinter versperrte, standen vier aufmerksame Wächter, die ihre Speere bereit hielten und auf die Neuankömmlinge zeigen ließen.
"Wer seid Ihr, die Ihr Einlass begehrt zur Wohnstatt Músabs bin Kernabes, des Königs von Kerma?" verlangte einer der Gardisten zu wissen.
Aerien trat einen Schritt vor, achtsam, nicht zu nahe an die Speerspitzen zu geraten. Sie zeigte den Wächtern ihre offene Hand, um ihre friedlichen Absichten zu verdeutlichen. "Ich bin Aerien Bereneth, und dies sind meine Begleiter Beregond und Narissa, aus Gondor. Euer König hat uns... zum Abendessen eingeladen."
Der Wächter nickte und musterte die Gruppe einen Augenblick zweifelnd. Dann jedoch trat er beiseite. Unter dem Torbogen hindurch gelangen sie in den Innenhof, der rings um das Residenzgebäude in einen weitläufigen Garten überging. Der Eingang des Gebäudes lag direkt gegenüber. Ein gepflasterte Weg führte dorthin, der nur einige Schritte lang war. Auch an diesem Tor standen Wachen, die sie jedoch durchließen. Die Türen öffneten sich, und Beregond und die beiden Mädchen kamen in eine große Eingangshalle. Der Gardist, der sie ins Innere begleitet hatte, bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Er führte sie durch einen angrenzenden Flur bis sie in einen Speisesaal kamen, in dem ein reich gedeckten Tisch stand. An dessen Kopfende saß Músab, der von einem Berater flankiert wurde.
"Euer Hoheit! Eure Gäste sind eingetroffen." Er verbeugte sich und eilte wieder hinaus.
"Willkommen," sagte Músab und erhob sich. Er flüsterte seinem Berater etwas zu, der sogleich davon ging, nachdem er eine Schriftrolle vom Tisch genommen hatte. "Wie schön, dass ihr es einrichten konntet. Aerien Bereneth, es ist gut, dich zu sehen. Und du musst Narissa sein, nicht wahr?" fragte er in Narissas Richtung. Sie nickte vorsichtig, sagte jedoch nichts.
"Ich bin Beregond, Baranors Sohn," stellte Beregond sich vor. "Ihr ehrt uns mit dieser Einladung, König Músab."
"Bitte, nehmt Platz, meine Gäste," sagte Músab und ließ sich ebenfalls wieder nieder. Er bedeutete ihnen, mit dem Essen zu beginnen.

Seit ihrer Flucht aus Mordor hatte Aerien kein so gutes Essen mehr gekostet. Es gab vieles, das ihr unbekannt war: Früchte aus dem tiefen Süden, Fleisch von kermischen Antilopen sowie Wein, den sie jedoch nicht anrührte. Sie spürte noch allzu deutlich die Nachwirkungen der letzten Nacht. Daher beschränkte sie sich darauf, Wasser zu trinken, von dem es reichlich gab. Ein Blick zur Seite zeigte ihr, dass Narissa dasselbe tat. Sie aßen beinahe eine halbe Stunde, ohne dass viel gesprochen wurde, was Aerien relativ seltsam vorkam, doch sie wagte nicht, ungefragt ein Gespräch mit dem König zu beginnen, der auf sie einen strengen, aber dennoch auf eine Art und Weise gerechten Eindruck machte. Schließlich jedoch ertönte eine Glocke, und Diener begannen, den Tisch abzuräumen.

"Nun denn," ergriff Músab das Wort. "Zunächst, werte Aerien, möchte ich mich für die grobe Behandlung die du von meinem Bruder Alára erdulden musstest, entschuldigen. Er kann sehr impulsiv werden, wenn es um wichtige Angelegenheiten geht."
Aerien nickte langsam, doch Músab sprach weiter. "Die Umstände sind folgende: Mein Vetter, König Wa'aran Haywat von Da'amat, einem Reich südlich von Kerma, reiste mit mir und meinen Söhnen von Kerma in Richtung Ain Séfra, um den Majles beinzuwohnen und Malik Qúsay die Treue zu schwören. Auf der Harad-Straße im Einflussgebiet Sûladans wurden wir von feindlichen Haradrim-Kriegern überfallen. Unter ihnen war ein Mann aus Mordor: ein schwarzer Númenorer. Er tötete meine Mutter, Belazîl, und befreite einen meiner schlimmsten Feinde. Alára und ich suchen nun nach den Spuren des Mörders."
Aerien gelang es glücklicherweise, ihre Überraschung zu verbergen. Der Name Belazîl war ihr bekannt. Es war der Name der Schwester ihres Großvaters Belzagar, die in jungen Jahren aus Durthang geflohen war, ohne jemals wiederzukehren. Aerien fiel auf, dass sich das auf eine Art und Weise ganz nach ihrer eigenen Geschichte anhörte. Doch Belazîl war ein uneheliches Kind gewesen und hatte am Hofe einen schweren Stand gehabt. Aerien - Azruphel - hingegen hatte alles gehabt, was sie sich nur hätte wünschen können... außer der Freiheit, dorthin zu gehen wohin sie wollte. Sie konnte es zwar nicht zweifelsfrei nachweisen, aber sie vermutete, dass die Belazîl, von der Músab sprach, dieselbe Frau gewesen war, die Mordor damals für immer verlassen hatte. Doch wer sie umgebracht hatte wusste Aerien nicht. Sie kannte bei weitem nicht jeden schwarzen Númenorer, geschweigen denn deren Namen.
"Mein herzliches Beileid zu eurem Verlust," sagte Beregond. "Doch was hat all dies mit Aerien zu tun?" fragte der Gondorer.
Músab verzog die Mundwinkel ein wenig und sagte: "Um ehrlich zu sein vermutete ich, dass Aerien auch eine schwarze Númenorerin ist. Sie sieht meiner Mutter erstaunlich ähnlich. Daher hatte ich gehofft, dass sie Informationen für mich haben könnte."
"Ich muss Euch leider enttäuschen, König Músab," sagte Aerien vorsichtig. "Selbst wenn ich Bekanntschaft mit irgendwelchen Dienern Mordors geschlossen hätte - was für jemanden, der aus Gondor kommt, wohl sehr ungewöhnlich wäre - ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass es sich dabei genau um die Person handeln könnte, die Eure Mutter umgebracht hat."
"Das verstehe ich," sagte Músab. "Lasst mich den Mann beschreiben, nur für den Fall der Fälle: Er war ungefähr dreißig, hatte dunkles Haar und trug eine schwarze Rüstung sowie eine dunkle Kapuze. Die Gesichtszüge waren hart, auf eine Art und Weise vertraut, die ich nicht recht einordnen kann, aber dennoch..." er brach ab und sein Blick verweilte auf Aerien, die sich unbehaglich in ihrem Sitz wand. Sie wusste nicht, von wem Músab sprach, aber sie spürte, dass er dem Geheimnis ihrer Herkunft gefährlich nah kam. Sie wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn die Wahrheit tatsächlich als Licht kommen würde. Vielleicht würde Narissa sie auf der Stelle töten, wenn es Músab und seine Leibwächter nicht tun würden. Sie warf einen Blick auf das weißhaarige Mädchen, das dem Gespräch aufmerksam zugehört hatte, jedoch selbst noch kein einziges Wort gesagt hatte. Aerien fragte sich, was Narissa wohl von all dem hielt.
"Es tut mir Leid, Euer Hoheit. Ich kenne den Mann nicht, von dem Ihr sprecht," sagte sie und versuchte, Ruhe auszustrahlen.

Sie schaute wieder in Richtung Músab, der sie immer noch musterte. Gerade als sie dachte, sein Blick würde sie durchbohren, wandte der König sich jedoch Narissa zu.
"Nun, das ist schade. Doch was ist mir dir, Narissa? Du stammst von den Turmherren ab, wenn ich richtig gehört habe?" fragte er.
Narissa setzte eine misstrauische Miene auf. "Ja, das ist richtig," beantwortete sie die Frage kurzangebunden.
"Ein altes und ehrwürdiges Haus," kommentierte Músab. "Eins herrschten deine Vorfahren über ein Reich, das sogar bis an die Grenzen des Landes von Kush reichte - dem Vorgänger Kermas. Mich interessiert, was du von Malik Qúsay hältst, werte Narissa. Du hattest nach dem Ende des Majles einige Fragen an ihn. Bist du zufrieden mit seiner Wahl?"
"Fürs Erste schon," gab Narissa zurück, doch sie hielt sich weiterhin bedeckt. "Es wird sich zeigen ob die Wahl gerechtfertigt wird."
Músab nickte erneut, offenbar zufrieden mit dieser Antwort. "Qúsays Aufstieg bedeutet großen Umsturz und Veränderungen. Ein Krieg wird kommen. Und ich bin nun gezwungen, gegen meine eigenen Verwandten zu kämpfen. Dies sind wahrlich finstere Zeiten."
"Gegen Eure Verwandten? Wie das?" fragte Beregond.
"Meine Großmutter entstammt der Linie der Sûladaniden," erklärte Músab. "Der Sultan von Harad ist mein Vetter zweiten Grades."
Als Músab Sûladan erwähnte bemerkte Aerien, wie Narissa sich beinahe unmerklich anspannte. Und da fiel ihr wieder ein, was ihr das Mädchen am Abend zuvor im Geheimen anvertraut hatte: Sie war die Tochter Sûladans.
"Und dennoch steht Ihr nun auf Qúsays Seite," stellte Beregond fest. "Wie kommt es dazu?"
"Der Feind, der bei dem Überfall entkam, war der vorherige König Kermas - mein Bruder Kashta. Und er ist ein Diener Saurons. Durch seinen Sturz stellte sich Kerma offen gegen den Herrn von Mordor. In Qúsay haben wir den Verbündeten gefunden, den wir brauchen, um gegen unsere Feinde zu bestehen."
Beregond nickte verstehend. "Nun, das ergibt Sinn. Ich hoffe, Euer Land ist gut geschützt."
"Ich wäre ein schlechter König wenn ich nicht dafür gesorgt hätte," sagte Músab mit einem Lächeln.

Eine Pause entstand. Ehe sie das Gespräch fortsetzen können betraten zwei Männer den Raum. Einen der beiden hatte Aerien in nur allzu guter Erinnerung: es war jener, der sie am Vortag grob angegangen hatte. Neben ihm stand ein jüngerer Mann, der Músab so ähnlich sah, dass Aerien eine nahe Verwandschaft vermutete. Músab bestätigte dies als er sagte: "Dies ist mein Sohn und Erbe Tamal. Er kehrt von einem wichtigen Auftrag zurück. Wir werden später darüber sprechen, mein Sohn. Warte im Kartenraum auf mich."
Tamal nickte, deutete eine Verbeugung an und verließ den Raum wieder, gefolgt von Alára. Músab erhob sich und sagte: "Ihr seid herzlich eingeladen, die Nacht unter meinem Dach zu verbringen."
Ehe Aerien sich überlegen konnte, wie sie möglichst höflich ablehnen könnte kam ihr Narissa bereits zuvor und sagte: "Vielen Dank, Euer Hoheit, doch dafür fehlt uns die Zeit. Wir haben noch einige Dinge zu erledigen, die nicht warten können."
"So ist es," bestätigte Beregond, dem nicht entgangen war, wie vorsichtig die beiden Mädchen Músab gegenüber waren.
"Ein andermal vielleicht," fügte Aerien höflich hinzu.
"Ein andermal," wiederholte Músab lächelnd und zog zwei Beutel hervor. "Dies sind meine Geschenke an die Damen." Er legte die Beutel auf den Tisch und schob sie ihnen zu. Dabei war zu hören, dass sie voller Münzen waren. Ein Diener trat heran und legte zwei Dolche dazu. "Feine kermische Arbeit," kommentierte Músab. "Mögen sie euch auf euren Reisen beschützen."
"Vielen Dank," sagte Narissa und ließ die Geschenke in ihrer Tasche verschwinden, nachdem sie Aerien ihren Beutel gereicht hatte. Er war schwerer, als sie vermutet hatte. Beregond erhielt ein Schwert, das den Dolchen glich und offenbar von der gleichen Machart war. Auch er bedankte sich bei Músab und machte eine Verbeugung.

Sie verabschiedeten sich von König Músab, der sie herzlich einlud, ihn in seinem Königreich Kerma zu besuchen. "Ich kehre bald in meine Heimat zurück, um Vorbereitungen für den Krieg zu treffen. Ihr werdet mir dort stets willkommen sein," sagte er. Sie bedankten sich für das Essen, die Geschenke und die Einladung und verließen die kermische Residenz auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren. Inzwischen war die Sonne untergegangen, und auf den Straßen kehrte etwas mehr Ruhe ein. Aerien atmete innerlich auf, da sie den Abend einigermaßen gut überstanden hatte. Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zur Herberge.

Eandril:
"Was haltet ihr von diesem König?", fragte Narissa, während sie langsam durch die nächtlichen Straßen zu ihrer Herberge zurückgingen. "Er schien mir ziemlich misstrauisch zu sein, was dich angeht, Aerien", fügte sie hinzu, während sie unbewusst einen Blick über die Schulter warf. Niemand schien ihnen zu folgen.
"Dabei sieht man euch beiden doch eindeutig an, dass ihr aus Gondor kommt - Jedenfalls seid ihr bestimmt keine schwarzen Númenorer." Sie lächelte, und ihr entging vollkommen der unbehagliche Blick, den Beregond und Aerien bei ihren letzten Worten tauschten.
"Qúsay sollte ihn auf jeden Fall im Auge behalten", erwiderte Beregond. "Selbst wenn König Músab es ernst meint, seine Verwandschaft mit Suladân machen ihn oder zumindest seine Familie zu einem Risiko."
Narissa zuckte innerlich zusammen, und protestierte: "Ich denke nicht, dass man jemanden nur wegen einer zufälligen Verwandschaft verdächtigen sollte." Neben ihr lächelte Aerien, die ja über ihre Beziehung zu Suladân im Gegensatz zu Beregond Bescheid wusste, in sich hinein. "Es ist nicht wichtig, mit wem man verwandt ist", warf sie schließlich langsam ein, und diesmal entging Narissa Aeriens nachdenklicher Blick nicht. "Es kommt nur darauf an, was man aus sich selbst macht." Vielleicht hatte Aerien ja in Gondor selbst Verwandte, auf die sie nicht allzu stolz war - und vielleicht war das der Grund, warum sie sich auf eine solche Mission begeben hatte. Ganz gleich was der Grund war, Narissa war froh, dass sie es getan hatte. Sie hatte sehr lange keine Freundin gehabt, mit der sie das Gefühl hatte über fast alles reden zu können - nicht seit Yana damals in Qafsah.
Für einen Augenblick schweiften Narissas Gedanken zu ihrer Kindheitsfreundin ab, und sie fragte sich, was wohl aus Yana geworden sein mochte. Ob sie immer noch in Qafsah lebte? Und ob ihr Vater noch immer seinen kleinen Laden hatte? Narissa zwang sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren, denn Gedanken an Qafsah brachten auch schmerzhaftere Erinnerungen mit sich.
"König Músab sieht allerdings nicht schlecht aus", sagte sie um sich abzulenken. "Allerdings etwas zu alt für meinen Geschmack, ich würde da eher seinen Sohn vorziehen. Und wie es aussieht, hat er ja sogar númenorisches Blut." Narissa zwinkerte Aerien zu, die leicht errötete, und Beregond schmunzelte.
"Anscheinend habt ihr zwei gestern ein paar interessante Dinge besprochen", sagte er.
"Ziemlich interessante Dinge", gab Narissa zurück, und kicherte als sie hinzufügte: "Sogar ein paar über euch."
Aerien versetzte ihr einen spielerischen Schlag gegen den Arm, und Beregond zog eine Augenbraue in die Höhe. "Über mich? Das müsst ihr mir dringend erzählen." Er drückte die Tür der Herberge, die sie inzwischen erreicht hatten, auf, und gemeinsam betraten sie den schwach erleuchteten Schankraum.
"Ich glaube, darüber wäre Aerien nicht sonderlich erfreut, denn..." Sie wurde unterbrochen, als ein in einen schwarzen Mantel gekleideter Mann bei ihrem Anblick ruckartig vom seinem Tisch aufstand, und Aerien ansprach: "Azruphel Belkâli! Was tust du denn hier?"

Auf Aeriens Gesicht malten sich Schock und eine Spur Angst, sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Langsam sickerte in Narissas Verstand die Erkenntnis ein, dass der Mann Adûnaisch gesprochen hatte, Aerien zu kennen schien, und sie mit einem Namen angesprochen hatte, der irgendeine verborgene Erinnerung in Narissa berührte.
"Aglazôr... ich..." Aerien stockte, und warf Narissa einen besorgten Blick zu. "Habt ihr sie gerade... Azruphel genannt?", brachte Narissa hervor. Irgendwie schien ihr Verstand langsamer zu arbeiten als sonst. Ein Teil von ihr hatte längst begriffen, womit sie es zu tun hatte, doch ein anderer Teil weigerte sich standhaft, es zu verstehen.
"Natürlich, das ist doch ihr Name", erwiderte der Mann im Tonfall der Verwunderung, und Narissa warf Beregond einen Blick zu. Zu ihrer Verwirrung zeigten sich auf dem Gesicht des Gondorers weder Überraschung noch Schock.
Er hat es gewusst, schrie eine Stimme in ihrem Kopf, und aus einem Winkel ihrer Erinnerung fügte sich das letzte Teilchen in das Bild ein. Sie erinnerte sich, wie ihr Großvater ihr die Geschichte der Turmherren erzählt hatte, an Atanar den Schwarzen und seine Frau Azruphel - eine schwarze Númenorin aus Mordor.
"Du kommst nicht aus Gondor", sagte sie langsam, und der letzte Rest Farbe wich aus Aeriens Gesicht. Narissa wich einen Schritt zurück, dann noch einen, und legte die Hand auf den Griff ihre Dolches - Ciryatans Dolch, durch den der Legende zufolge mehr als ein schwarzer Númenorer sein Leben verloren hatte. "Du kommst aus Mordor." Inzwischen flüsterte sie beinahe. "Was hattest du vor, mich einwickeln und dann an Suladân ausliefern? Mich benutzen um Qúsay zu ermorden?"
Aerien machte eine Bewegung in ihre Richtung, und sofort wich Narissa einen weiteren Schritt zurück und zog ihren Dolch. "Lass mich in Ruhe!"
In ihrem Kopf flüsterte eine leise, hämische Stimme: Närrin, Närrin, Närrin.

Bevor irgendjemand etwas sagen konnte, fuhr Narissa herum, stieß die Tür mit einem kräftigen Fußtritt auf und lief in die Nacht hinaus. Sie umrundete die Herberge, stürmte in den Stall und zog Grauwind am Halfter hinaus. Dann schwang sie sich auf den Rücken der Stute, beugte sich über ihren Hals und flüsterte ihr ins Ohr: "Bring mich weg aus dieser Stadt." Narissa stieß Grauwind die Hacken in die Flanken, das Pferd machte einen Satz nach vorne und galoppierte los, wobei Narissa keine Rücksicht auf die wenigen Leute nahm, die noch auf den Straßen unterwegs waren.
Als sie eines der Stadttore, sie wusste nicht, welches, durchquerte, spürte sie, wie ihr Tränen über das Gesicht liefen - Tränen der Wut, Enttäuschung, und des Verrats. Kurz stand ihr Aeriens bleiches, schockiertes Gesicht vor Augen, doch sie vertrieb das Bild rasch wieder. Sie wollte nur so weit wie möglich fort von hier und Aerien - nein, Azruphel, ihre sogenannte Freundin - niemals wiedersehen.

Narissa fort aus Aín Sefra

Fine:
"Narissa, warte!" rief Aerien, die endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte. Doch es war längst zu spät. Als sie die Tür durchquert und die Straße erreicht hatte konnte sie nur noch zusehen, wie Narissa auf dem Rücken ihres Pferdes davonpreschte.
"Ich wollte dich warnen," sagte Beregond behutsam und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Ich hatte schon geahnt, dass Narissa dein Geheimnis irgendwann herausfinden würde. Du hättest es niemals für immer verheimlichen können."
"Aber ich hätte es ihr selbst sagen sollen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergeben und sie mir mehr vertraut hätte," gab Aerien verbittert zurück. Obwohl sie Narissa nur zwei Tage gekannt hatte fühlte sich der Verlust überraschend schmerzhaft an. Ihre Gedanken fanden rasch den Schuldigen: den Mann, der sie verraten hatte als er Aerien mit ihrem wahren Namen angesprochen hatte.

Zornig kehrte sie ins Innere des Gasthauses zurück, wo Aglazôr noch immer bei dem Tisch stand, an dem er gesessen hatte als er Aerien entdeckt und enttarnt hatte.
"Azruphel, was ist denn los?" fragte er leise auf adûnâisch, als sie zurückkehrte.
"Du Narr hast meine Tarnung auffliegen lassen," warf sie ihm wütend vor. "Was bei allen Sternen tust du hier in Ain Séfra, Onkel?"
"Dasselbe könnte ich dich fragen, meine Liebe - um genau zu sein habe ich dir diese Frage sogar bereits gestellt."
"Zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt," zischte Aerien.
"Weiß dein Vater, dass du hier bist?" fragte Aglazôr wachsam. "Ich war einige Jahre nicht in Durthang, doch ich vermute nicht, dass sich mein Bruder in meiner Abwesenheit allzu sehr verändert hat." Er musterte Aerien nachdenklich und schien seine Schlüsse zu ziehen. "Du warst schon immer mehr als das brave Mädchen und die anmutige Hofdame, die du zu sein vorgabst, Belkâli(1). Der Name steht dir, wirklich. Du wirst eines Tages noch die Schönheit deiner Mutter übertreffen. Doch unter dieser Fassade lauert ein abenteuerlustiger Geist, wie ich jetzt erkenne. Du bist aus Mordor geflohen, nicht wahr?" Aerien gab keine Antwort, doch ihr Schweigen schien ihrem Onkel zu genügen. "Also ist es wahr. Das erklärt, weshalb vor wenigen Tagen ein Auftrag an mein Ohr drang, nach einer Verräterin in unseren Reihen Ausschau zu halten." Er warf einen raschen Blick auf Beregond, der sich wachsam bereit hielt und abzuwarten schien, wie sich das Gespräch zwischen Aerien und ihrem Onkel entwickeln würde. "Deiner Begleitung nach bist du nach Gondor gegangen. Stehst du jetzt im Dienst der Herren des Westens? Ich hoffe, sie bezahlen dich gut."

Aerien erinnerte sich, dass ihr Onkel in ihrer Familie keinen guten Ruf hatte. Er und sein Sohn Karnûzîr hielten sich nur selten in Mordor auf sondern durchstreiften die weiten Länder im Süden ohne jemals irgendwo einen festen Wohnsitz zu nehmen. Aglazôr hatte bei den Haradrim sogar eine Frau gefunden. Zwar stand er nominell noch immer in Saurons Diensten, doch damit hatte er es schon immer nicht allzu genau genommen. Aglazôr war ein Mann, dessen Loyalität stets käuflich gewesen war - und er verkaufte seine Informationen und seine Fähigkeiten stets an den Meistbietenden.
"Das geht dich nichts an," gab Aerien also zurück und zog den Geldbeutel hervor, den sie von König Músab erhalten hatte. "Hier. Das sollte genügen, um dein Stillschweigen über die Angelegenheit zu wahren. Du hast mich nicht gesehen und du weißt nicht, wo ich bin. Verstanden?"
Aglazôr wog den Beutel einen Augenblick in der Hand, dann öffnete er ihn und ließ einige der Münzen auf den Tisch fallen. Seine Augen weiteten sich ein wenig als er sie genauer untersuchte. "Beeindruckend. Das sind echte kermische Münzen. Du scheinst mächtige Freunde zu haben, Azruphel." Er nickte und steckte das Geld ein. "Also gut. Du hast mein Wort - ich beginne bereits zu vergessen, dich überhaupt getroffen zu haben."
Aerien wusste, dass ihr Onkel sein Wort halten würde. Wenn es eine Konstante in seinem Leben gab, dann war es hartes Geld. Einmal bezahlt galt ein Vertrag bis zu seiner Erfüllung.
"Wo hast du das her?" fragte er neugierig.
"Vom König von Kerma. Er ist auf der Suche nach Informationen darüber, wer seine Mutter ermordet hat. König Músab hat die schwarzen Númenorer im Verdacht. Weißt du etwa etwas darüber?"
Aglazôr deutete ein verschlagenes Lächeln an. "Möglich. Es ist gut zu wissen, dass Músab von Kerma bereit ist, für Informationen gut zu bezahlen. Vielleicht sollte ich ihm einen Besuch abstatten."
"Tu, was du nicht lassen kannst," sagte Aerien gleichgültig.
"Oh, das werde ich, meine Liebe. Ich hoffe, unser nächstes Wiedersehen erfolgt unter... besseren Umständen."
"Wir werden sehen," sagte Aerien. Aglazôr nickte ihr zu und eilte hinaus.

Beregond ließ sich ihr gegenüber am Tisch nieder und setzte eine mitfühlende Miene auf. "Das... hätte besser laufen können," kommentierte er und meinte offensichtlich die Art und Weise, wie Narissa von Aeriens wahrer Herkunft erfahren hatte. Aerien wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. Ein Teil von ihr hatte sich immer gewünscht, Narissa die Wahrheit sagen zu können, doch ihre Befürchtungen über die Reaktion darauf hatten sich soeben bewahrheitet. Sie hatte den Verlust vermeiden wollen... doch er war durch Pech erzwungen worden."
"Ich weiß nicht, was ich tun soll, Beregond," sagte sie und unterdrückte die Tränen, die in ihr aufstiegen. "Narissa ist fort... für immer."
"Du wirst bestimmt neue Freunde finden," versuchte der Gondorer sie zu trösten.
"Mein Geheimnis wird immer zwischen uns stehen," stellte Aerien traurig fest. "Der Schatten Mordors liegt auf mir. Es war dumm von mir, zu glauben, dass ich ihn abschütteln könnte. Es war dumm, hier her zu kommen. Ich sollte nach Hause zurückkehren... und mich dem Zorn des Gebieters stellen."
"Tu nichts unüberlegtes, Aerien," sagte Beregond mit Sorge in der Stimme. "Du kannst nicht mehr zurück nach Mordor. Man wird dich töten - wenn du überhaupt soweit kommst. Die Waldläufer Ithiliens bewachen die Furten des Poros, schon vergessen?"
"Und noch hast du meinen Vater nicht von deiner Aufrichtigkeit überzeugt," sagte Serelloth, die wie aus dem Boden gewachsen neben Aerien aufgetaucht war.
"Ich nehme an, du hast alles mitangesehen?" fragte Aerien nachdem sie sich von der Überraschung erholt hatte.
"Nein, nur das Ende. Wer ist der Mann, mit dem du gesprochen hast?" wollte Serelloth wissen und setzte ihre Kapuze ab. Verwuschelte Haarsträhnen quollen darunter hervor, und sie warf sie lässig über ihre Schultern.
"Das war mein Onkel, Aglazôr Sandläufer."
"Noch ein schwarzer Númenorer?"
"Nun... er selbst hat einmal gesagt, dass er sich eher als "grau" bezeichnen würde. Aber wenn er eine Farbe haben würde, wäre es eine Mischung aus Silber und Gold. Denn nur dafür lebt er: Geld und Reichtum," erklärte Aerien.
"Und deswegen konntest du sein Schweigen erkaufen," folgerte Serelloth. "Nun, dazu sage ich: Glück im Unglück. Sieh mal, Aerien, es hätte viel schlimmer kommen können. Immerhin weiß keiner in Mordor, dass du hier bist. Narissa war nett, aber auch irgendwie seltsam, findest du nicht? Du hast doch gesehen, was sie mit den Männern gemacht hat, die ihr gestern Abend aufgelauert hatten. Und da war sie sturzbetrunken! Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wozu sie im nüchternen Zustand fähig ist." Aerien wollte widersprechen, doch sie musste zugeben, dass Serelloth zumindest teilweise recht hatte.

Beregond, Aerien und Serelloth verbrachten den Rest des späten Abends damit, im Schankraum des Gasthauses am Tisch zu sitzen und sich zu unterhalten. Aerien war klar, dass die beiden versuchten, sie auf andere Gedanken zu bringen, doch sie ließ es geschehen. Teilweise funktionierte es sogar und sie hörte gespannt zu, wie die Gondorer ihr Geschichten vom verborgenen Widerstand in Ithilien und vom Aufstand in Minas Tirith erzählten. Doch wieder und wieder kam ihr das in den Sinn, was Narissa ihr wütend an den Kopf geworfen hatte: Lass mich in Ruhe. Du kommst aus Mordor. Lass mich in Ruhe.
Endlich wurde es Zeit, ins Bett zu gehen. Aerien konnte es kaum erwarten, durch Schlaf Ruhe in ihren Gedanken zu haben, was ihr glücklicherweise rasch gewährt wurde.


(1) adûnâisch "hübsche junge Frau"

Fine:
Mitten in der Nacht schreckte Aerien aus dem Schlaf auf. Sie setzte sich ruckartig im Bett auf, schwer atmend. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie einen schlechten Traum gehabt hatte, oder was sie geweckt hatte. Sie spitzte die Ohren und hielt den Atem an: doch da war nichts bis auf die leisen Geräusche der Stadt, die durch das offene Fenster drangen. Sie hörte den regelmäßigen Atem zweier Lebewesen: Beregond, der in dem großen Sessel eingenickt war, und Sedh-heleth - die Katze hatte sich auf einem großen Kissen bei Aeriens Füßen zusammengerollt. Doch irgendetwas stimmte nicht. Aerien konnte geradezu spüren, dass Gefahr in der Luft lag. Langsam und vorsichtig tastete sie nach dem kermischen Dolch, der unter ihrem Kopfkissen lag... doch da legte sich eine Klinge an ihren nackten Hals.
"Sehr gut, Mädchen. Du bist wachsamer, als ich es dir zugetraut habe."
Die Stimme kam Aerien nicht bekannt vor. Sie war weiblich, volltönend und von einer gewissen Tiefe. Aerien wagte nicht, sich zu bewegen, doch ihre Hand verharrte am Griff des Dolches.
"Hab' keine Angst. Ich bin nicht hier, um dir deine hübsche Kehle aufzuschlitzen. Wäre dein Tod mein Ziel gewesen wärst du gar nicht erst aufgewacht. Du entstammst zwar dem Land des großen Feindes meines Ordens... doch du bist kein Feind. Du hast dich abgewandt."
"Wer seid Ihr, und was wollt Ihr von mir?" verlangte Aerien leise zu wissen.
Anstatt einer Antwort nahm Aerien eine Bewegung am Rand ihres Sichtfeldes wahr. Eine hochgewachsene Frau erschien an ihrer Bettseite, ein langes gebogenes Schwert in der Hand, dessen Klinge keinen Millimeter von Aeriens Hals abwich. Die Frau trug weiße Gewänder und schien ungefähr im selben Alter wie Aeriens Mutter zu sein - genau konnte sie es jedoch nicht sagen.
"Ich bin Elyana. Narissa hat dir nichts von mir erzählt, nicht wahr?" Die Frau in Weiß wartete nicht auf eine Antwort Aeriens. Stattdessen fuhr sie fort: "Nein, das hat sie natürlich nicht. Dieses Kind ist unglaublich dickköpfig. Und das hat sie nun erneut in Gefahr gebracht. Sie sollte wirklich lernen, auf mich zu hören."
"Narissa?" wiederholte Aerien verwirrt. "Ich verstehe nicht..."
"Nein, du verstehst nicht, ich weiß. Lass es mich dir erklären, Belkâli. Nun schau mich nicht so überrascht an; ich weiß, wer du bist. Mein Orden wurde deiner gewahr, als du die Grenzen dieses Landes überschritten und Harad betreten hast. Und als du nach Ain Sefra kamst, erkannte ich die wichtige Verbindung, die du zum Kind der Zeit - zu Narissa - haben wirst."
Ehe Aerien eine Frage stellen konnte fuhr Elyana fort: "Belkâli! Bist du bereit, für deine Freundin dein Leben zu riskieren? Willst du ihr beweisen, dass du es ernst gemeint hast als du sagtest, dass euch etwas Besonderes verbindet?"
Aerien blinzelte überrascht. Diese Frau schien wirklich über alles Bescheid zu wissen. Doch sie schob ihre Zweifel für den Moment beiseite und traf ihre Entscheidung. "Ich habe es ernst gemeint, und ich vermute, das wisst Ihr bereits, sonst wärt Ihr nicht hier. Meine Antwort lautet Ja. Ich werde... mein Leben für Narissa riskieren, wenn es sein muss." Als sie die Worte ausgesprochen hatte, dachte sie einen Moment über die schwerwiegende Bedeutung nach, doch Elyana riss sie rasch wieder aus ihren Gedanken.
"Sehr gut - du überraschst mich erneut, Belkâli. Du bist tatsächlich nicht nur äußerlich strahlend, wie dein Name schon sagt. Aber genug davon. Da du entschlossen bist, Narissa zu helfen, werde ich dir erklären, weshalb ich hier bin. Narissa ist in Schwierigkeiten geraten - in große Schwierigkeiten. Sieben Leben gingen verloren um sie zu schützen - alle vergeblich. Sie ist in die Gewalt eines äußerst gefährlichen Mannes geraten. Und du bist die beste Chance, die sie noch hat."
"Was ist mit Euch?" wunderte sich Aerien. "Wenn Ihr wisst, wo Narissa ist, warum befreit Ihr sie nicht selbst?"
"Ich habe noch andere Pflichten, Belkâli. Und ich verbrauchte bereits viel von meiner Kraft bei dem Versuch, Narissa vor ihrem Häscher zu schützen. Ich muss mich wieder erholen, bevor ich ihr erneut zu Hilfe kommen kann. Deswegen brauche ich dich. Du musst sogleich nach Westen reiten, immer der Straße nach Umbar folgend, bis du zu einem Hof kommst, der von einem Zaun umgeben ist. Er besteht aus einem Haupthaus und einer Scheune. Dort musst du Narissas Spur aufnehmen. Ich werde dir alle Hilfe zuteil werden lassen, die ich kann... triff mich, sobald du bereit bist, unten an den Stallungen. In der Zwischenzeit werde ich dafür sorgen, dass dein Pferd die Strecke schnellstmöglichst zurücklegen kann."
Die Klinge verschwand von Aeriens Hals und mit einem Wirbeln ihres weißen Gewandes verschwand Elyana aus Aeriens Sichtfeld.

Aerien atmete tief durch und wog für einen Moment die Möglichkeit ab, dass all dies nur ein Traum sein könnte. Doch sie spürte noch immer eine Kälte an ihrer Kehle, wo Elyanas Klinge so lange geruht hatte. Sie zog sich rasch an und stupste Beregond vorsichtig an. Der Gondorer öffnete ein Auge und sah Aerien müde an. "Was ist los? Du solltest schlafen."
"Ich muss gehen, Beregond. Narissa ist in Gefahr." gab Aerien zurück.
"Du kannst nicht gehen. Was wird Damrod dazu sagen? Du würdest alles Vertrauen verlieren, das du bisher aufgebaut hast."
"Ich muss," beharrte Aerien. "Wenn ich Narissa retten kann ist es mir das Vertrauen der Waldläufer wert. Außerdem wird Serelloth für mich bürgen. Sie kann ihren Vater daovn überzeugen, dass ich keine Bedrohung darstelle."
Beregond blickte ihr zweifelnd in die Augen. "Ich verstehe nicht, warum du mitten in der Nacht aufbrechen musst. Das klingt, ehrlich gesagt, ziemlich nach einer dunklen Angelegenheit deiner Verwandten. Es klingt nach Mordor."
Aerien wand sich. "Es ist mir bewusst, wie sich das anhören muss, Beregond. Ich wünschte, die Umstände wären anders. Aber ich habe gerade erst erfahren, dass Narissa in Schwierigkeiten steckt, und habe keine Zeit mehr zu verlieren, wenn ich sie retten will. Ich werde.... ich werde dich irgendwie wiederfinden, wenn ich bei meiner Mission Erfolg hatte. Und dir dann alles erklären."
"Aerien. Ich vertraue dir. Aber ich kann nicht versprechen, dass Damrod das auch tun wird," sagte Beregond und legte ihr die Hände auf die Schultern. "Wenn du gehen musst, dann geh mit meinen besten Wünschen. Ich hoffe, du weißt, was du tust, Aerien."
Sie nickte. Aerien konnte erkennen, dass sie Beregond in der kurzen Zeit, in der sie sich kannten, auf eine gewisse Art und Weise ans Herz gewachsen war; und sie stellte selbst ebenfalls fest, dass der Gondorer ein guter Freund für sie geworden war; ein Gefährte, den sie nur ungern zurückließ. Doch Beregond hatte Verpflichtungen, denen er nicht einfach entsagen konnte.
"Pass auf dich auf, Beregond," sagte sie.
"Und du auf dich, Aerien Bereneth."

Sie schulterte ihre Habseligkeiten und eilte zum Stall, wo Elyana bereits auf sie wartete.
"Da bist du ja, Belkâli. Ich sehe, dass du noch immer Fragen hast. Doch das wird warten müssen," sagte sie. "Wenn die Zeit reif ist, werde ich dir alles erklären, wenn es Narissa nicht selbst tun wird. Ich habe meinen Orden alarmiert, du wirst also nicht allein sein. Doch du bist jetzt die beste Hoffnung für das Kind der Zeit. Weiche nicht vom Weg ab und zögere nicht!"
Aerien saß auf und Elyana trat ein letztes Mal neben sie. "Der Segen der Schwestern begleitet dich, mutiges Mädchen. Geh nun, und ergreife dein Schicksal. Wir werden uns wiedersehen." Damit wandte die geheinmisvolle Frau in Weiß sich ab und verschwand.
"Jetzt sind nur noch wir beide übrig, nicht wahr?" sagte Aerien zu dem Pferd, das sie den ganzen Weg von Ithilien aus begleitet hatte. Sie verstand nicht genug von Pferden um zu wissen, ob es ein Hengst oder eine Stute war, also beschloss sie, das Tier Karab(1) zu taufen, was "Ross" in ihrer Muttersprache, dem Adûnâischen, bedeutete.
"Auf geht's!" flüsterte sie Karab zu, und preschte in westlicher Richtung davon.


Aerien von Ain Séfra aus nach Westen


(1) adûnâisch "Pferd, Ross, Reittier"

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