Das eintönige Land, durch das Laedor sie brachte, zog weiter und weiter an Kerry vorbei und bot kaum interessante Eindrücke. Felsen und Büsche wechselten sich ab, vereinzelte Bäume tauchten auf und verschwanden wieder. Hin und wieder kamen sie an kleinen Ruinen arnorischen Ursprungs vorbei, was Kerry immerhin zeigte, dass sie sich noch immer innerhalb der Grenzen des vergangenen nördlichen Königreiches befand. Doch noch immer hatte sie keinen Hinweis darauf bekommen, in welche Himmelsrichtung das Pferd galoppierte. Den Süden schloss sie allerdings aus, da sie das Gebiet zwischen Fornost und Bree bereits mehrfach bereits hatte und sich dort auskannte. Doch abgesehen vom Süden konnte Laedor in jede andere Richtung unterwegs sein. Kerry hoffte, dass der Hinweis, den sie hinterlassen hatte, Mathan und Oronêl auf ihre Spur bringen würde.
Einmal tauchte am Horizont ein bewohntes Dorf auf, von dem der Rauch mehrerer Schornsteine aufstieg. Kerry fragte sich, ob es von Kriegsflüchtlingen bewohnt oder vielleicht ein Dorf der Dúnedain war, und auf wessen Seite die Bewohner standen, Doch als Laedor einen Bogen um das Dorf machte schloss Kerry daraus, dass er dort wohl nicht willkommen war. Somit mussten dort wohl Feinde der Weißen Hand leben, wie Kerry schlussfolgerte.
Nur wenige Tage vergingen bis die Temperaturen begannen, merklich kälter zu werden, und schon bald fror Kerry trotz Halarîns Umhang, da sie noch immer das Kleid trug, das Irwyne ihr geliehen hatte.
Ich hoffe, ich sehe sie wieder, und kann es ihr zurückgeben, dachte sie als Laedor sie wie gewöhnlich fesselte wenn er seinem Ross eine Verschnaufpause gönnte.
"Mir ist kalt," klagte sie als Laedor sie an einen großen Felsen band. "Ich werde mich erkälten, und dein schöner Plan wird zugrunde gehen, wenn ich erfroren bin."
Laedor betrachtete sie einen Moment mit einem seltsamen Blick. Ohne etwas zu sagen strich er beinahe sanft über ihren Arm. Seine Finger fühlten sich noch kälter als die Luft an. Er fuhr hinunter bis zu Kerrys Hand und tastete über ihren Daumen. Dann ließ er los und trottete zu seinem Pferd hinüber. Wortlos kramte er etwas dichtes, Pelziges hervor, das Laedor ihr über Schultern und Armen ausbreitete. Er verharrte, halb über sie gebeugt, und starrte sie einen langen Augenblick an. Dann fuhr seine Hand aus dem Schatten und versetzte ihr eine Ohrfeige, dass Kerry die Ohren klingelten.
"Bitte mich
nie wieder um einen Gefallen," zischte er und sprang auf.
Kerry blinzelte voller Verwirrung.
Was hatte das denn jetzt zu bedeuten? fragte sie sich. Doch sie fand keine Erklärung.
Sie versuchte zu schlafen, nachdem sie wieder auf dem Rücken von Laedors Pferd lag und die Sonne untergegangen war. Doch die Gedanken an ihre Familie und das ständige Auf und Ab des Rittes hielten sie davon ab. Sie stellte sich vor, wie Halarîn Tränen der Sorge vergoss und wie Mathan voller Zorn Dinge zerschlug. Zwar war sie erst so kurz Teil der Nénharma-Familie, doch Kerry - Morilië - fühlte sich ihnen bereits so verbunden, dass es sie geradezu körperlich schmerzte, so von ihnen getrennt zu sein. Sie vermisste Halarîns tröstliche Worte, ihre Späße und den melodischen Klang ihrer Stimme. Morilië vermisste Mathans Beschützerinstinkt, den Stolz in seinem Gesicht, wenn er sie ansah, und die Geborgenheit, die sie in seinem Arm gefunden hatte. Morilië vermisste Faelivrins schwesterliche Zuneigung, ihre beeindruckende Ausstrahlung und das Band, das sich so schnell zwischen ihnen gebildet hatte. Sie fühlte sich deutlich an die ersten Monate nach ihrer Flucht aus Rohan erinnert, in denen sie sich so allein wie noch nie gefühlt hatte. Erst als sie Rilmir getroffen hatte war sie wieder etwas zur Ruhe gekommen, doch wahren Frieden hatte sie erst bei ihrer neuen Familie gefunden.
Am nächsten Tag fiel der erste Schnee. Sie kamen durch einen kleinen, aber dichten Wald, in dessen Zentrum eine kleine, geradezu verwunschen wirkende Lichtung lag. Wieder band Laedor Kerry an einen der Bäume und verschwand für eine Weile. Wahrscheinlich suchte er etwas zu essen. Kerry blieb mit dem Pferd allein zurück.
"Wie heißt du überhaupt," fragte sie in Richtung des Tieres, das ihr den Kopf zuwendete aber keine Antwort gab. "Hätte ich mir ja denken können," sagte Kerry missmutig. "Dann gebe ich dir eben einen Namen. Ich werde dich "Pechsträhne" nennen - nein, halt: "
Pechmähne". Das ist es. Pechmähne, hörst du?" Doch das Pferd schnaubte nur leise und sagte nichts.
Kerry seufzte leise und versuchte, den Pelzkragen tiefer über ihren Oberkörper zu ziehen. Einige Schneeflocken waren in ihrem Ausschnitt gelandet und drückten sich wie kalte Fingerspitzen auf ihre Haut. Sie mühte sich ab, die Fesseln zu lockern, doch wie zuvor musste sie feststellen, dass Laedors Knoten unerbittlich waren.
Immerhin weiß ich jetzt, dass wir wohl nach Norden unterwegs sind, schlussfolgerte sie als der Schneefall dichter und die Flocken größer wurden.
"Sing für mich, kleines Rotkehlchen," flüsterte Laedors Stimme neben ihrem Ohr. "Sing ein Lied aus deiner Heimat."
"Für dich? Niemals," gab Kerry trotzig zurück.
"Wie ungezogen," meinte Laedor. "Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass man eine freundliche Bitte nicht ohne guten Grund ablehnt? Moment - du
hast ja gar keine Eltern mehr." Seine Stimme troff vor Gehässigkeit.
"Ich habe Eltern," stieß Kerry hervor. "Sie heißen Mathan und Halarîn Nénharma, und sie kommen, um mich zu retten.
Ní am Ténawen Morilië Nénharma," sagte sie mit fester Stimme.
Eine weitere Ohrfeige ließ ihre Wange glühen. "Nimm die Sprache nicht in den Mund, du unwürdiges Geschöpf," zischte Laedor sichtlich aufgebracht. "Deine Art ist verkommen und mehr auf einer Stufen mit wildem Getier als mit den Erstgeborenen. Du bist allein - bis auf Oronêl wird niemand kommen. Dafür habe ich gesorgt. Deine Familie hat dich bereits im Stich gelassen."
"Du lügst," wehrte Kerry sich. "Sie sind unterwegs und haben uns bald eingeholt."
"In der Wildnis werden sie nur wenige Spuren finden," sagte Laedor mit einem selbstsicheren Grinsen. "Es ist dir vielleicht nicht aufgefallen, Rotkehlchen, aber es schneit. Der Schnee wird unsere frischen Spuren so schnell verdecken dass nichteinmal einer der Jagdhunde Húans sie finden könnte."
"Meine Eltern werden nicht aufgeben," antwortete Kerry standhaft. "Ich weiß, dass sie mich finden werden."
"Dann ist dein Verstand noch beschränkter, als ich angenommen hatte," sagte Laedor heiser und starrte sie für einen kurzen Moment an. "Und jetzt - sing." Schneller als sie es sehen konnte hatte er sein Messer hervorgezogen und an ihre Kehle gelegt. Sie spürte die kalte Klinge, die in ihre Haut ritzte. Kerry schloss die Augen. Sie stellte sich vor, dass sie an einem ganz anderen Ort war: im wieder aufgebauten Eregion, umgeben von ihrer Familie. Zarte Harfenkänge wehten durch den Raum, der von sanftem Sonnenlicht durchflutet war, und Morilië sang ein Ständchen für die Elben, in einer Sprache, die Mathan und Halarîn bislang unbekannt war, bevor sie auf Westron wechselte:
Sindon we bald, Sindon we strang, Eorlingas, Fram ond trum.
Sindon we bald, Sindon we strang, Eorlingas, Arë lang.
Wir sind standhaft, wir sind stark, Eorlingas, frei und treu.
Wir sind standhaft, wir sind stark, Eorlingas, aufrecht im Ruhm.
Laedor zog die Klinge weg und brachte Kerry damit in die Wirklichkeit zurück. "Ein Singvogel bist du also wirklich, Rotkehlchen. Du hast dir gerade dein Mittagessen verdient."
"Wie großzügig von dir," stieß Kerry hervor.
"Gewöhne dich nicht daran," sagte Laedor drohend. "Sobald Oronêl eingetroffen ist, wird es dir schlecht gehen. Ich werde ihn hilflos mitansehen lassen, wie ich sein Spielzeug langsam zerstöre. Oh, die Schmerzen, die ich ihm bereiten werde!"
"Dazu wird es nicht kommen," sagte Kerry tapfer. "Deine Pläne werden scheitern."
"Wir werden sehen, "
Ténawen"," flüsterte Laedor bedrohlich. "Wir werden sehen..."
Dann schnellte sein Messer erneut hervor und hinterließ einen langen Schnitt an ihrem linken Unterschenkel, der durch ihre Sitzposition nicht vom Saum ihres Kleides bedeckt gewesen war. Kerry schrie auf und wollte die Wunde umklammern, doch ihre Fesseln verhinderten, dass sie die Arme bewegen konnte. Ungerührt riss Laedor einen breiten Streifen von Halarîns Umhang ab und wickelte ihn fest um die Wunde, ohne sich darum zu scheren, dass das Kerrys Schmerzen noch verstärkte. Sie brachte kein Wort mehr hervor und presste die Augen fest zusammen. Sie war entschlossen, ihm nicht die Genugtuung zu geben und zu weinen. Kerry biss die Zähne aufeinander und versuchte, den heißen Schmerz auszublenden. Gnädigerweise war der Schnitt nicht tief gewesen und begann nach einiger Zeit, endlich etwas weniger weh zu tun.
Laedor machte sie schließlich los und lud sie wieder auf Pechmähnes Rücken. Die Reise nach Norden ging weiter.
Kerry und Laedor nach Angmar