Córiel, Jarbeorn und Pallando aus Caras GaladhonDie dunklen Bäume am Saum des Düsterwaldes zogen rasch an Córiel vorbei, während sie Jarbeorn durch das dichte Unterholz folgte. Seitdem sie das kleine Boot am Ostufer des Anduins zurückgelassen hatten, hatten sie kaum ein Wort gesprochen. Der alte Mann, den der Beorninger als "Eldsten" bezeichnete, ging eiligen Schrittes voran. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte. Und tatsächlich dauerte es nicht länger als einige, anstrengende Stunden, bis sie auf eine Lichtung kamen, auf der die Finsternis des sie umgebenden Düsterwaldes weniger stark zu sein schien. Obwohl es früh am Morgen war, drangen bereits kräftige Sonnenstrahlen durch die Lücke im dichten Blätterdach über ihnen und schienen herab auf ein kleines, gemütlich aussehendes Haus aus Holz, das in der Mitte der Lichtung lag.
"Ah, da sind wir endlich," sagte Eldsten zufrieden. "Ich war mir sicher, dass es hier ist. Zu schade, dass der gute Aiwendil nicht zuhause ist."
"Ich habe von diesem Ort gehört," meinte Jarbeorn. "Mein Vater hat sich hier mehrere Male mit dem Zauberer Radagast getroffen. Dies ist Rhosgobel, nicht wahr?"
"Rhosgobel hat er es genannt? Wie passend." Eldsten schien amüsiert zu sein. "Ja, in der Tat. Dies ist Aiwendils Heim - oder Radagast, wie er in diesen Landen genannt wird. Die, die uns verfolgen, werden uns hier bis auf weiteres nicht finden. Kommt! Herein mit euch, es gibt viel zu besprechen."
Córiel fühlte sich noch immer merkwürdig. Seitdem sie der Zauberer - denn darum musste es sich bei Eldsten zweifelsfrei handeln, wie sie dachte - aus dem Bann gerissen hatte, in dem Vaicenya die Hochelbin gefangen gehalten hatte, war sie nicht mehr sie selbst gewesen. Sie erinnerte sich an Dinge, die ihr nie zugestoßen waren. Sie sah Eindrücke, die gar nicht da waren. Die wirkliche Welt kam ihr seltsam verschwommen vor und sie wusste mitunter nicht, was real und was Täuschung war. Sie trug wieder ihre Reisekleidung, die Jarbeorn aus Lórien gerettet hatte, und sie war froh darüber. Das einfache Elbenkleid, das Vaicenya ihr gegeben hatte, wäre im Unterholz des Düsterwalds längst zerfetzt worden.
"Komm, Stikke." Jarbeorn ergriff Córiels Hand und zog sie in das kleine Haus, in dessen Innerem es nur zwei Räume gab. Der kleinere der Beiden war offensichtlich der Schlafraum des Zauberers Radagast gewesen. Radagast der Braune, der den Gerüchten nach im Augenblick in Eriador weilte. Und Eldsten trug blaue Gewänder. Konnte es sein, dass...
"Wer seid Ihr, Meister?"
Eldsten, der gerade im Hauptraum des Hauses nach Vorräten gesucht hatte, drehte sich mit einem etwas verwunderten Gesichtsausdruck zu Córiel um, die sich erschöpft auf einen hölzernen Stuhl nahe der Türe sinken ließ. Jarbeorn setzte sich neben sie, einen besorgten Ausdruck im Gesicht.
"Ein alter Freund von mir pflegte als Antwort auf diese Frage zu sagen:
Viele Namen habe ich in vielen Ländern. Bei mir ist es ganz ähnlich. Die Nordmenschen nannten mich
Eldsten, den
ehrwürdigen Alten, doch bei den Elben des Alten Westens heiße ich Pallando, oder Rómestamo bei meinem eigenen Volk."
"Ich verstehe," sagte Córiel langsam. "Ihr seid also tatsächlich Pallando der Blaue, der Zauberer. Aber... wie seid Ihr hierher gekommen?"
Pallando schmunzelte. "Sie hat so viele Fragen, und doch stellt sie die Unwichtigsten zuerst," sagte er zu Jarbeorn. "Ich kam auf demselben Weg hierher wie du, liebe Córiel. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, durchquerte den dichten Wald, bis ich die Lichtung erreichte, auf der dieses Haus steht in dem wir uns nun befinden."
Jarbeorn mischte sich ein. Ernst sagte er: "Als ich endlich aus Elrond herausbekommen hatte, was du getan hattest, und wohin du gegangen bist, wäre ich am liebsten sofort losgestürmt und hätte versucht, dich einzuholen. Ich weiß nicht, ob es eine Laune des Schicksals oder nur ein günstiger Zufall war, aber am Ausgang von Elronds Haus versperrte mir ein Mädchen mit dem schlimmsten Mundwerk, das mir je begegnet ist, den Weg. Sie schien über irgend etwas furchtbar erbost zu sein und ich verlor eine halbe Stunde, bis ich mit ihr fertig wurde. Und in dieser halben Stunde kam ein Adler nach Bruchtal und brachte Elrond die Nachricht, dass Vaicenya auf dem Weg nach Lothlórien sei und die Minen von Moria betreten hätte. Da wusste ich, dass ich dir dorthin nicht würde folgen können. Ich beschloss also, eine Abkürzung zu nehmen und über den Hohen Pass durch das Tal des Anduin zu gehen. Ich kenne das Land meiner Heimat noch immer so gut, dass ich nur wenige Tage benötigen würde. Den Pass fand ich frei von Feinden vor, auch wenn er dank des frischen Schneefalls nicht mehr lange offen bleiben wird. Ich eilte weiter, ließ den Carrock links liegen und war gerade dabei, die Schwertelfelder zu passieren, als ich
ihm begegnete." Er deutete auf Pallando, der sich ihnen gegenüber niedergelassen hatte und außerordentlich guter Laune zu sein schien.
"Ich suchte gerade nach Kräutern für einen guten Tee, gegen die Kälte," setzte Pallando die Erzählung fort. "Ich war auf Meister Elronds Anraten wegen einiger wichtiger Angelegenheiten in Angmar unterwegs gewesen, und hatte einige Zeit in den Kerkern von Gundabad verbracht - eine Erfahrung, die ich wirklich nicht weiterempfehlen kann. Dank glücklicher Umstände fand ich mich schließlich nahe der Quelle des Anduins wieder und machte mich von dort auf den Weg nach Süden, um wieder in wärmere Gefilde zu gelangen. Als mir der liebe Jarbeorn erzählte, weshalb er so hastig durch die schöne Landschaft stapfte und dabei mein Teekraut zertrampelte, merkte ich rasch, wie wichtig die Angelegenheit war. Ich habe viele Jahre im Osten verbracht, und hatte schon mit der guten Vaicenya zu tun. Wäre nur Curunír nicht seiner Machtgier verfallen! Er wüsste, wie man mit ihr fertig wird. Er hat sie schon einmal in die Schranken gewiesen, und er könnte es mit Leichtigkeit wieder tun. Doch nun höre ich, dass er mit seiner Armee vor dem Einsamen Berg steht und versucht, den Obersten der Ringgeister auszuräuchern. Was für absonderliche Zeiten dies sind!"
Jarbeorn übernahm wieder und fuhr fort: "Wir kamen rasch nach Lothlórien, und dank Eldstens Fertigkeiten gelangten wir ungesehen nach Caras Galadhon. Wir hatten Glück, dass die meisten Orks südlich der Stadt beschäftigt waren und dass sich am Ufer des Anduins ein herrenloses Boot fand."
"Der Ork, der darin saß, hätte sein Eigentum sicherlich nicht als
herrenlos bezeichnet," warf Pallando schmunzelnd ein.
"Zu dumm, dass er nicht schwimmen konnte," erwiderte Jarbeorn ungerührt. "Als ich sah, was dieses verdammte Elbenweib mit dir anstellte, Stikke, hätte ich beinahe die Kontrolle verloren. Ich sprang los und vergeudete unser Überraschungsmoment. Sie hörte mich kommen, aber ich fegte sie beiseite und riss dich aus dem Wasser. Du hast dich nicht bewegt, aber deine Augen waren offen und starrten ins Leere. Ich hätte schwören können, dass sie wie Sterne geleuchtet haben, aber Eldsten behauptet, dass ich mir das eingebildet habe."
"Wir hatten natürlich keine Zeit zu verlieren. Bis zu unserem Boot war es nicht weit, und dort angekommen hatte ich Zeit, dich zurückzurufen, während unser kräftiger Freund hier eine ordentliche Distanz zwischen uns und unsere Feinde brachte, ehe sie dein Verschwinden bemerken konnten. Ich muss schon sagen, es ist wirklich eine Schande, was Curunírs Horden aus dem Goldenen Wald gemacht haben. Das Land gleicht nun einer Wunde in dieser Welt, die erst dann heilen wird, wenn er seine Fehler eingesehen hat und zu seinem wahren Auftrag zurückkehrt."
Jarbeorn stand schweigend auf und begann, ein Feuer in dem kleinen Ofen zu machen, der in einer der Ecken des Raumes stand. Pallando nahm den Platz des Beorningers neben Córiel ein und blickte sie prüfend an.
"Du hast noch immer Fragen, nicht wahr?"
Córiel nickte langsam. "Ich... weiß nicht, was dort in Caras Galadhon mit mir geschehen ist. Ich sah Dinge... die gar nie passiert sind."
"Erzähle mir davon. Was hast du gesehen?"
Langsam und stockend berichtete die Hochelbin dem Zauberer von den Dingen, die sie unter Vaicenyas Bann gesehen hatte. Es war ihr alles sehr real vorgekommen, doch gleichzeitig wusste sie, dass sie niemals an diesem fernen Strand gestanden hatte, den sie gesehen hatte. Während sie Pallando Detail für Detail weitergab, sah sie die Erinnerung daran bildlich vor sich, als wäre es tatsächlich ein Ereignis, das sie selbst einst miterlebt hätte.
"Kein Zweifel, du hast das Erwachen der Elben gesehen," sagte Pallando, nachdem Córiel geendet hatte. "Und doch bist du selbst im Zweiten Zeitalter geboren, nicht wahr?"
"Ja. Meine Eltern stammen..."
"...aus Gondolin, ja, ich weiß. Ich habe schon von Haus Arheston gehört. Und doch klingt das, was du erzählst, nicht einem Bild der Täuschung, sondern nach einer echten Erinnerung."
"Aber wie kann das sein? Ich war nicht dabei!" Während Córiel noch diese Worte sagte, spürte sie, dass das nicht ganz stimmte. Weshalb sie sich so fühlte, wusste sie nicht.
"Hmm," machte Pallando nachdenklich. "Ich habe eine Vermutung, aber zunächst muss ich mehr darüber wissen, was Vaicenya eigentlich vorhatte. Erzähl' mir von ihr. Was wollte sie von dir?"
"Das habe ich mich die ganze Zeit ebenfalls gefragt," antwortete Córiel. "Sie ist vollkommen wahnsinnig. Irgendetwas an mir bringt sie dazu, mich mit ihrer einstigen Kampfgefährtin Melvendë zu verwechseln, die in den ersten Kriegen gegen die Diener des Schattens fiel."
"Níthrar sagte, Melvendë wäre dir wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen," meinte Jarbeorn, der gerade einen Topf voller Wasser auf dem Ofen erhitzte.
"Ist das nicht derselbe Name aus der Erinnerung von den Wassern des Erwachens?" fragte Pallando nach.
Das war Córiel noch gar nicht aufgefallen.
Wie lautet dein Name? hatte Vaicenya sie in der Erinnerung gefragt. Und sie hatte geantwortet...
"Es gibt zwei Möglichkeiten," sagte der Zauberer. "Entweder hat Vaicenya versucht, dich so lange den Erinnerungen an ihre gefallene Gefährtin auszusetzen, bis sie deine eigenen Erinnerungen überdecken und du vergisst, wer du wirklich bist, oder..."
"Oder?" wiederholte Córiel zaghaft. Sie hatte Angst davor, was Pallando als Nächstes sagen würde, aber sie musste es aus seinem Mund hören.
Der Zauberer stand langsam auf und nahm seinen Stab von der Wand, an der er gelehnt hatte. "Oder du bist tatsächlich Melvendë von den Tatyar, deren Geist nach ihrem Tod in den Hallen des Mandos verweilte, bis ihr die Rückkehr nach Mittelerde gestattet wurde und sie in einem neuem Körper geboren wurde, ohne jegliche Erinnerungen an ihr früheres Leben und unter einem neuen Namen aufwachsend."
Klirrend fiel der große Löffel zu Boden, mit dem Jarbeorn die Suppe umgerührt hatte, die er während des Gesprächs zubereitet hatte.
"Das kann nicht sein. Das klingt noch verrückter als alles, was wir bis jetzt von Vaicenya gehört haben! Niemand kehrt von den Toten zurück."
"Die Seelen der Eldar verlassen Arda nicht, wie es die der Menschen tun, Jarbeorn. Es geschieht zwar nur äußerst selten, aber einige von ihnen können tatsächlich nach Mittelerde zurückkehren. Glorfindel, der heute die Heere des Westens befehligt, hat dies getan. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist deiner Freundin ein ähnliches Schicksal wiederfahren, ohne dass sie davon wusste."
Córiel wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste, dass der Zauberer recht hatte, denn sie spürte es deutlich in ihrem Herzen. Und doch wollte sie nicht, dass er recht hatte. Sie wollte vergessen, was Melvendë wiederfahren war. Sie wollte an diesem früheren Leben nicht teilhaben. Doch je mehr sie daran dachte, desto mehr Erinnerungen kehrten in ihr Gedächtnis zurück. Noch waren sie undeutlich und verschwommen, doch Córiel befürchtete, dass sie schon bald klarer werden würden.
"Was können wir dagegen tun?" fragte sie.
"Dagegen tun?" wiederholte Pallando verwundert. "Nichts. Du wirst dich erinnern - doch was du dann damit anfängst, entscheidest du selbst."
"Ich will mich nicht erinnern," erwiderte sie. "Ich wünschte, ich könnte einfach so weitermachen wie früher, ohne diese neue Last."
"Du wirst sie akzeptieren müssen," sagte der Zauberer mit überraschender Härte in der Stimme. "Daran können wir nichts ändern. Aber es gibt etwas, das wir tun können. Wir können Vaicenya aufhalten."
"Wie?" fragte Jarbeorn.
"Wir stellen ihr eine Falle. Sie wird schon bald unsere Spur aufgenommen haben, daran gibt es keinen Zweifel. Aber ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass sie uns zunächst aus den Schatten heraus beobachten wird, ehe sie sich zeigt. Deswegen müssen wir ihr etwas geben, das sie hervorlocken wird. Etwas, das sie über alles andere begehrt." Er blickte Córiel prüfend an.
"Ich... ich verstehe," sagte sie langsam. "Aber... wie? Wo?"
"Wir lassen diesen Wald hinter uns und gehen nach Osten. Dort lebt eine alte Freundin von mir, die uns helfen wird. Doch zunächst müssen wir uns für die Reise stärken. Die Suppe riecht wirklich ausgezeichnet, mein gutmütiger Freund."
Jarbeorn fand drei Teller in Radagagst Haus und füllte sie mit der Suppe, die er gekocht hatte. Sie war heiß, aber schmackhaft, und sie brachte Córiel zumindest für einige Zeit auf andere Gedanken.
Sie rasteten noch drei Stunden in Rhosgobel. Dann brachen sie in östlicher Richtung auf, den Düsterwald rasch durchquerend.
Córiel, Jarbeorn und Pallando nach Rhovanion