Nachdem Saleme den Raum verlassen hatte, bedeutete Edrahil Bayyin und Narissa mit einer Geste zu schweigen. Er wartete einen Moment ab, stand dann auf und begann, die Wände auf Löcher oder Geheimverstecke abzuklopfen, von denen aus Saleme oder ihre Getreuen sie belauschen könnten.
Narissa begriff offenbar schnell was er vorhatte und tat es ihm gleich, während der Schreiber verwundert dabeistand. Nachdem sie alle Wände sowie die beiden kleinen angrenzenden Räume, in denen jeweils zwei Betten standen ergebnislos abgesucht hatten, kehrten sie wieder in den Hauptraum zurück. Edrahil ließ sich auf der einen Seite des Tisches nieder und streckte erleichtert sein schmerzendes Bein aus, während Narissa und Bayyin sich ihm gegenüber setzten.
"Also.", begann Edrahil mit einem etwas gezwungenen Lächeln, und rieb sich unter dem Tisch das Knie. "Da wir jetzt unter uns sind, würde ich gerne unser angefangenes Gespräch fortsetzen."
Narissa öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch Edrahil hob in einer gebieterischen und lang geübten Geste die Hand. "Nein, ich will für den Moment nichts über deine Insel hören sondern viel lieber, was euch nach Umbar geführt hat und warum Saleme denkt es hätte einen Sinn mit euch zusammen zu arbeiten."
Die beiden wechselten einen raschen Blick, der Edrahil sofort verriet dass sie beide wussten wovon er sprach.
"Nun...", begann das Mädchen zögerlich. "Das hängt wahrscheinlich schon mit meiner Herkunft zusammen." Und sie begann zu erzählen, von der Weißen Insel, Tol Theyn, wo auch weit im Süden noch Nachfahren der Númenorer lebten und gegen den Schatten kämpften. Zwar war das meiste davon Edrahil tatsächlich neu, doch er erinnerte sich an den geheimnisvollen Dírar, den er bei Thorongils Angriff auf Umbar gesehen hatte, und der dort an der Seite des Hauptmannes gefallen war. Welche Rolle diese Turmherren über die Jahrhunderte in Harad als heimliche Unterstützer Gondors gespielt hatten war Edrahil nicht bekannt gewesen, und er wunderte sich nicht länger dass Saleme es für sinnvoll befunden hatte, dieses Mädchen für ihre Zwecke zu rekrutieren - erst recht als sie erzählte, wie Suladans Truppen die Insel überfallen und ihre Bewohner vernichtet hatten. Das erklärte zumindest teilweise ihren Hass auf den Sultan, und machte sie zu einer sicheren Verbündeten.
So stur und verschlossen Narissa auch vorher gewesen war, jetzt nachdem er die Barrieren durchbrochen hatte erzählte sie alles und schien erleichtert, vieles davon endlich loszuwerden. Sie erzählte wie sie gemeinsam mit Bayyin von der Insel entkommen war, aber schließlich wieder von ihm getrennt und gefangen genommen wurde. Wie sie mit der Hilfe eines Elben namens Níthrar wieder entkam und sich in der Folgezeit bis nach Umbar durchschlug, wo Saleme und Edrahil sie letztendlich gefunden hatten.
Als Narissa ihre Erzählung beendet hatte, meinte Edrahil: "Jetzt weiß ich, warum Saleme uns zusammengebracht hat. Wir verfolgen beide das gleiche Ziel, und wie es aussieht bist du bestens dafür geeignet." Er wandte sich dem Schreiber zu. "Ich weiß allerdings noch nicht, was sie an dir gesehen hat. Fälscher gibt es in dieser Stadt wahrlich genug."
Bayyin schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht, dass ihr Interesse daher rührt, sondern eher von meiner Bekanntschaft mit Narissa. Vielleicht hat sie geglaubt, ich würde ebenfalls den Dúnedain vom Turm angehören.", sagte er, und überraschte Edrahil damit, denn der Spion war zum gleichen Schluss gekommen.
"Allerdings...", setzte Bayyin zu einer Ergänzung an, brach auf einen warnenden Blick Narissas hin aber wieder ab.
Edrahil seufzte, und kratzte sich das Kinn auf dem ihn die Bartstoppeln furchtbar juckten. "Es gibt also eine Verbindung von der Saleme nichts weiß, ja?", fragte er, erntete also nur Schweigen.
"Meine lieben neuen Verbündeten, ihr braucht nicht zu befürchten dass ich Saleme irgendetwas von dem erzähle, was ihr mir hier sagt." Er zuckte mit den Schultern. "Narissa, ich habe dir vorhin sehr deutlich gemacht, dass ich dieser Spionin keineswegs vertraue, sondern nur aus der Not heraus mit ihr zusammenarbeite. Du jedoch bist eindeutig eine Feindin Suladans und Mordors, und stehst allein deshalb auf meiner Seite und hast von mir nichts zu befürchten." Das Mädchen schaubte verächtlich, deshalb sprach Edrahil rasch weiter um einer scharfen Erwiderung zuvor zu kommen. Er kannte diese Art junger Leute, die meinten von Alten nichts befürchten zu müssen.
"Ich habe nur zwei Interessen, die ich um jeden Preis verfolge: Das überleben Dol Amroths und Gondors, und Saurons Sturz. Beides kann ich nur erreichen, indem ich gegen Suladan und Hasael vorgehe, und dazu benötige ich jede Information die hilft, diese zu stürzen. Eure Ziele sind die gleichen, von daher ist es in eurem Interesse, mir diese Informationen zu geben."
Auf einen Blick Bayyins verdrehte Narissa die Augen, und erwiderte: "Eigentlich sind es sogar zwei Dinge, die euch interessieren könnten. Da wäre zum einen ein Dokument, dass Bayyin in der Bibliothek von Aín Sefra gefunden hatte, dass ihn über den Weißen Turm nach Umbar geführt hat."
"Darin war von einem geheimen Weg von Süden nach Mordor die Rede, der nicht einmal dem Dunklen Herrscher bekannt wahr.", erklärte Bayyin leise. "Wo genau dieser Weg liegt konnte ich noch nicht herausfinden, aber der Verfasser des Berichts hat sich nach seiner Reise einige Zeit in Umbar aufgehalten. Also habe ich gehofft, hier genauere Informationen zu finden, aber bislang hatte ich keinen Erfolg."
Edrahil spürte, wie sein Herz schneller schlug. Ein geheimer Weg nach Mordor! Das nützte ihm zwar bei seiner unmittelbaren Aufgabe wenig, aber jede Information dieser Art die den Weg nach Dol Amroth fand, verbesserte ihre Chancen Sauron letzten Endes zu besiegen. "Das klingt schon äußerst vielversprechend.", meinte er, bemüht sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. "Und worum handelt es sich bei der zweiten Sache."
"Ein Mann namens Qúsay, der sich mit Gondor verbündet hat, hat eine Versammlung seiner Verbündeten in Aín Sefra einberufen, die in sechs Tagen stattfinden wird."
Dieses Mal zuckte Edrahil sichtbar zusammen. Natürlich wusste er bereits von Hasaels Neffen und seinem Bündnis mit Gondor, doch von dieser Versammlung hörte er zum ersten Mal.
"Woher weißt du davon?", fragte er, und dachte dabei fieberhaft nach. Diese Versammlung konnte eine Gelegenheit sein, mit diesem Qúsay direkt in Kontakt zu treten, auch wenn ihm eigentlich widerstrebte mit einem Haradrim zusammen zu arbeiten. Aber man musste Kompromisse eingehen. Zu seiner Überraschung antwortete Bayyin. "Ich habe gestern einen Brief entschlüsselt, der von einem meiner Auftraggeber abgefangen worden war. Darin schilderte einer von Narissas Volk die Ereignisse in Linhir, und wie er Qúsay und einen seiner Verbündeten namens Marwan beim Gespräch über diese Versammlung belauscht hat."
"Er wusste offenbar nicht, dass unser Volk nicht länger existiert.", fuhr Narissa an seiner Stelle tonlos fort. "Bayyin hat mir den Brief gezeigt und seinem Auftraggeber gegenüber behauptet, dass er ihn nicht entschlüsseln könnte. Ich hatte gerade überlegt nach Aín Sefra zu gehen und mir diesen Qúsay anzusehen, als ihr aufgetaucht seid."
Edrahil schwieg einen Augenblick, und dachte fieberhaft nach. Eigentlich wollte er Narissa am liebsten in der Nähe behalten, denn sie würde ihm bei seiner Aufgabe ziemlich nützlich sein. Allerdings... hin und wieder musste man ein Risiko eingehen.
"Geh nach Aín Sefra.", meinte er, und genoss für einen Augenblick den Ausdruck der Überraschung auf den Gesichtern der beiden. "Versuch dich mit Qúsay zu treffen und finde heraus was er für ein Mann ist. Wenn er ehrlich ist und sein Bündnis mit Gondor einhalten und gegen Mordor kämpfen will, erzähl ihm von mir. Sag ihm, dass Edrahil von Linhir in Umbar ist und Hasaels Position für ihn schwächen wird."
"Aber...", unterbrach das Mädchen ihn. "Ich lasst mich einfach so gehen?"
Edrahil lächelte. "Ja, das tue ich. Vielleicht begehe ich einen Fehler, vielleicht fliehst du einfach oder ich habe dich falsch eingeschätzt und du schließt dich unseren Feinden an. Doch die Gelegenheit ist dieses Risiko alle mal Wert. Allein können wir nicht viel ausrichten, doch wenn wir mit Qúsay zusammenarbeiten, können wir dieses ganze Reich zum Einsturz bringen."
Narissa nickte, die Antwort schien sie zufrieden zu stellen. "Ich werden sofort aufbrechen."
Edrahil erwiderte: "Gut. Bayyin, du bleibst hier. Ich werde dir helfen diesen Bericht über den Weg nach Mordor zu finden. Im Gegensatz dazu wirst du deine Kontakte zu Unterwelt von Umbar nutzen, um mir dabei zu helfen, Hasael zu schwächen oder sogar zu stürzen."
Zu seiner Überraschung widersprach keiner der beiden.
Narissa auf die Straßen von Umbar...