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Tum-en-Dín

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Eandril:
Hilgorn aus Dol Amroth...

Langsam ritt Hilgorn die alte Straße durch die Cirith Lenthir hinauf, denn die Schlucht war eng und die Straße durch die vielen kleinen Wasserfälle, die der Limceleth herabfloss oftmals nass und glitschig. Dennoch kam er schließlich an den Punkt, an dem die Felswände zu beiden Seiten der Straße nach einem letzten steilen Anstieg plötzlich zurückwichen, und vor ihm breitete sich das Tal Tum-en-Dín im Abendlicht aus. Etwa eine halbe Meile vor ihm sah er die hellen Mauern von Tíncar leuchten, und obwohl er der Begegnung mit seinem Bruder nicht gerade freudig entgegensah, freute er sich den Ort seiner Kindheit vor sich liegen zu sehen.
Er folgte der Straße entlang des munter plätscherndem Limceleth, als er plötzlich eine leise Flötenmelodie vernahm. Hilgorn zog an den Zügeln, blickte sich suchend um, und die Flöte verstummte. Von links hörte er eine Kinderstimme fragen: "Wer bist du?" In einem kleinen Baum saß ein Mädchen in einem blauen Kleid auf einem dicken Ast saß und ließ die Beine baumeln. In der Hand hielt sie eine kleine Flöte. "Mein Name ist Hilgorn, und ich komme aus Dol Amroth.", antwortete er, und lenkte Nacht ein paar Schritte von der Straße weg auf den Baum zu. "Und wer bist du?"
"Iorweth.", erwiderte das Mädchen. "Und ich komme von da." Sie deutete in Richtung Tíncar, dessen Mauern sich etwa einhundert Fuß weiter erhoben. Hilgorn betrachtete das Mädchen genauer. Sie konnte nicht älter als sechs, sieben Jahre sein, und die schwarzen Haare und grauen Augen kamen ihm sehr bekannt vor.
"Ist dein Vater der Herr von Tíncar?", fragte er mit einem Lächeln.
Iorweth nickte eifrig. "Dann kannst du runterkommen.", meinte Hilgorn, und saß ab. "Dein Vater ist mein Bruder, also bin ich dein Onkel." Er machte einen Schritt auf den Baum zu, sodass er direkt unter ihr stand. "Nun komm schon."
Iorweth schüttelte den Kopf, dass die schwarzen Haare flogen. "Ich weiß nicht, wie.", gab sie zaghaft zu.
"Genauso, wie du rauf gekommen bist."
"Aber... ich weiß nicht mehr, wie ich rauf gekommen bin." Hilgorn musste unwillkürlich lächeln, denn ihm war einst genau das gleiche passiert - wenn auch der Baum damals etwas höher gewesen war. "Lass dich einfach fallen.", sagte er und breitete die Arme aus. "Ich fange dich auf."
"Aber... ich hab Angst.", kam es von oben zurück. "Brauchst du nicht.", versicherte Hilgorn dem Mädchen - seiner Nichte, wie ihm erst langsam wirklich bewusst wurde. "Vertrau mir, ich würde meine Nichte nicht fallen lassen."
"Ich... na gut." Im nächsten Moment plumpste das Mädchen schon direkt in Hilgorns wartende Arme, und er ging leicht in die Knie um den Aufprall abzufedern - auch wenn sie noch leichter war als er erwartet hatte. Für einen Augenblick wurde ihm bewusst, dass er Faniels Tochter in den Armen hielt, doch er verdrängte den Gedanken und stellte Iorweth rasch wieder auf die Füße.
"Und, willst du mit mir nach Hause reiten, Prinzessin?", fragte er das etwas atemlose Mädchen. Sie zog die Nase kraus und antwortete: "Ich weiß nicht. Ich soll nicht einfach mit Fremden mitgehen."
Na, wenigstens etwas. Hilgorn fragte sich, was in seinen Bruder gefahren sein mochte, seine Tochter einfach unbeaufsichtigt außerhalb des Gutes herumlaufen zu lassen - in diesen Zeiten. "Das ist auch richtig so, aber ich bin kein Fremder." Er ergriff Nachts Zügel und strich dem Rappen über den Hals.
"Aber was ist... wenn ich dich reiten lasse und nur daneben hergehe? Dann kannst du mir immer davon reiten."
Iorweth trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, offenbar zwischen dem verlockenden Gedanken auf Nacht reiten zu können und den Befehlen ihrer Eltern hin und her gerissen. "Na gut.", sagte sie schließlich, und Hilgorn hob sie auf den Rücken des Pferdes.
"Nicht so an der Mähne festklammern. Hier, nimm die Zügel." Er gab ihr die Zügel in die kleinen Hände, die Flöte hatte sie inzwischen in den Gürtel ihre Kleides gesteckt, ergriff selbst das Zaumzeug des Hengstes und gab Iorweth mit der anderen Hand halt.
"Auf gehts!"

Sie erreichten Tíncar ohne weiteren Zwischenfall, und als sie vor dem geschlossenen Tor standen rief sie eine Wache von oben an: "Wer kommt da?"
Hilgorn blickte auf, und der Wächter schien ihn sofort zu erkennen. "Herr Hilgorn, seid ihr das?"
"Bin ich.", gab Hilgorn zurück. "Schön, dass du immer noch hier bist, Ergon." Die Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten das Gesicht des alten Wachmannes, als er antwortete: "Schön euch mal wieder hier zu sehen, Herr. Und die Fräulein Iorweth habt ihr auch mitgebracht, da wird die Herrin aber erleichtert sein."
Ergon verschwand für einen Moment und rief auf der anderen Seite der Mauer etwas in den Innenhof hinunter. Kurz darauf schwangen die Torflügel auf, und Hilgorn führte Nacht auf den Gutshof.
Während sie unter dem Torbogen hindurchgingen beugte Hilgorn sich zu Iorweth hinüber und sagte leise: "Du durftest gar nicht draußen sein, oder?" Seine Nichte antwortete nicht, schüttelte aber unbehaglich den Kopf.

"Iorweth!", hörte er eine Frauenstimme von rufen. "Wo hast du gesteckt?" Hilgorn führte Nacht nach rechts in Richtung der Ställe, aus der auch die Stimme gekommen war. Von dort kam eine schwarzhaarige Frau, die in ein schlichtes grünes Kleid gekleidet war, ihnen entgegen, und Hilgorns Herz begann bei ihrem Anblick sofort schneller zu schlagen.
"Ich danke euch, dass ihr..." Sie beendete den Satz nicht, sondern schlug entsetzt die Hand vor den Mund. "Hilgorn?"
Hilgorn nickte. "Faniel.", sagte er leise. Mehr brachte er nicht heraus, denn obwohl sie sich seit neun Jahren nicht mehr gesehen hatten, hatte sich für ihn nichts verändert. Sie war die Tochter des Herren von Tugobel, einem Gut, das weiter den See hinauf lag, und als Kinder hatten sie oft gemeinsam gespielt. Eine Zeit lang waren sie unzertrennlich gewesen, oftmals mit Hilgorns Bruder Aldar Verbündete gegen ihre älteren Brüder, Imradon und Beleg, die ebenfalls eng befreundet gewesen waren. Nachdem Hilgorn sich nach dem Tod seines Vaters der Wache von Dol Amroth angeschlossen hatte, hatten sie sich nur noch selten getroffen, das letzte Mal als sie neun Jahre zuvor ihren Bruder Beleg nach Dol Amroth begleitet hatte. Damals hatten sie einen ganzen Abend miteinander verbracht, und sie hatte ihn zum Abschied geküsst.
Nur wenige Tage später kam aus Tíncar die Nachricht, dass sie Hilgorns ältesten Bruder Imradon geheiratet hatte, und an diesem Tag hatte Hilgorn sich geschworen, nie mehr nach Tíncar zurück zu kehren. Und nun war er doch hier.

Hilgorn räusperte sich, um die unangenehme Stille zu durchbrechen die sich über sie beide gelegt hatte, und hob Iorweth, die mit geöffnetem Mund zwischen beiden hin und her geschaut hatte, aus dem Sattel. "Ich bringe dir deine Tochter zurück.", sagte er mit belegter Stimme, und schob das Mädchen sanft in Faniels Richtung. Dabei konnte er den Blick nicht von Faniels Gesicht lösen, der Andeutung von Sommersprossen unter ihren grauen Augen, den glänzenden schwarzen Haaren, den sanft geschwungenen Lippen... Er zwang sich, den Blick abzuwenden, und zog unbewusst den leicht verrutschten Mantel zurecht.
Iorweth machte ein paar langsame Schritte auf ihre Mutter zu, und sagte schließlich: "Es tut mir Leid, Mutter, dass ich weggelaufen bin." Jetzt gelang es auch Faniel, sich von Hilgorns Anblick zu lösen und ihre Tochter anzusehen. "Aber Belegorn hat..."
"Ich weiß, was dein Bruder getan hat.", unterbrach Faniel ihre Tochter. "Das entschuldigt aber nicht, dass du einfach so wegläufst. Deine Großmutter und ich waren krank vor Sorge."
"Ich weiß, aber ich..." Wieder wurde Iorweth von ihrer Mutter unterbrochen. "Du gehst sofort auf dein Zimmer, und kommst erst wieder raus wenn ich es dir erlaube. Keine Widerrede!"
Hilgorn sah, wie sich die Augen des Mädchens mit Tränen füllten, doch sie gab keine weiteren Widerworte und lief in Richtung des Haupthauses davon.
"Ist das nicht ein bisschen hart?", wagte Hilgorn leise zu fragen. "Du weißt wie Imradon früher war, und wenn mein Neffe nur halbwegs nach meinem Vater kommt..." Faniel schüttelte den Kopf und schloss einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, erschrak Hilgorn über die Müdigkeit, die er darin sah. Kein Funken mehr von der Lebensfreude, die sie früher ausgestrahlt hatte. "Hilgorn, ich... Du weißt wie die Zeiten sind, und..." Sie stockte, und schüttelte abermals den Kopf. "Ich denke, du solltest jetzt gehen, bevor..."

Vor dem Tor erschallte ein gebieterischer Ruf, und mit einem unwillkürlichen Schaudern erkannte Hilgorn die Stimme seines ältesten Bruders. Er stählte sich innerlich während die Wachen zu Tor eilten um ihrem Herrn zu öffnen und sagte mit einem gequälten Lächeln und so leise, dass Faniel ihn nur gerade so noch hören konnte: "Na schau an, wenn das nicht mein Lieblingsbruder ist..."

Eandril:
Imradon ritt ohne anzuhalten durch das Tor in den Hof, so nah an Nacht vorbei dass Hilgorns Rappe nervös tänzelte, hielt direkt vor den Ställen und sprang in einer fließenden Bewegung von seinem Pferd.
Hilgorns Bruder war zur Jagd in braun-grünes Leder gekleidet und hatte einen Bogen über der Schulter hängen. Hinter ihm kamen langsamer als er seine Jagdgefährten.
"Kleiner Bruder!", rief Imradon mit einem eindeutig falschem Lächeln aus, und war die Zügel seines Pferdes achtlos einem eilig herbeigeeilten Stallburschen zu. Während er mit langen Schritten auf Hilgorn und Faniel zuging betrachtete Hilgorn den Bruder, den er so lange nicht gesehen und kein bisschen vermisst hatte. Was er sah, erschreckte ihn. Imradons Gesicht war fahl, seine Augen trübe und in seinem schwarzen Haar waren viele graue Strähnen zu sehen.
Imradon küsste seine Frau, und die Geste war eindeutig demonstrativ. Mit leichter Genugtuung stellte Hilgorn jedoch fest, dass Faniel den Kuss keineswegs leidenschaftlich erwiderte, sonder eher über sich ergehen ließ. Schließlich wandte Imradon sich ihm zu.
"Was führt dich her, kleiner Bruder? Habt ihr in Dol Amroth nicht genug eigene Probleme?"
"Die Probleme in Dol Amroth sind fürs erste gelöst.", gab Hilgorn so kühl und ruhig wie möglich zurück. "Ich bin hier um Mutter zu sehen." Sein Bruder verzog das Gesicht als ob ihm etwas Schmerzen bereiten würde. "Nur zu."
Er wandte sich an Faniel. "Lass das Essen vorbereiten, Hilgorn isst mit uns. In einer halben Stunde!" Mit diesen Worten ging er in Richtung des Haupthauses davon, und Faniel eilte mit einem letzten Blick auf Hilgorn in Richtung der Küchen.


"Also, Bruder. Hast du es schon zu etwas gebracht in deiner geliebten Stadt?", fragte Imradon kauend. Der Herr von Tíncar saß am Kopfende der Tafel, flankiert von seiner Mutter und seiner Frau. Das Wiedersehen zwischen Hilgorn und seiner Mutter Iorweth war wesentlich freudiger und ehrlicher gewesen als die mit Faniel und Imradon, und sie hatten sich bis zum Essen unterhalten - wie es Aldar ging, ob Hilgorn inzwischen verheiratet war und über seine Nichte und seinen Neffen. Seine Mutter erzählte begeistert von ihren Enkeln, die sie offenbar ganz ins Herz geschlossen hatte.
"Nun... so könnte man es sagen.", antwortete Hilgorn vorsichtig. Es war nicht seine Art mit seinen Leistungen anzugeben, aber an Imradons Miene konnte er sehen, dass sein Bruder bereits einiges zu wissen schien.
"Erzähl.", sagte Faniel, die Hilgorn schräg gegenüber saß. "Was ist dir so widerfahren?" Hilgorn blickte ihr für einen Moment in die Augen - eigentlich zu lange um noch schicklich zu sein, doch er konnte sich nicht beherrschen.
"Nun... nach dem zweiten Angriff auf Dol Amroth hat der Fürst mir den Befehl über einen großen Teil seiner Streitkräfte gegeben und mir ein Stück Land an der Küste versprochen, sobald der Krieg vorüber ist." Imradon steckte ein Stück Fleisch in den Mund, kaute einen Moment und erwiderte dann: "Sehr beeindruckend. Obwohl ich gehört habe, dass der Angriff eher von diesem Edrahil von Belfalas abgewehrt worden ist. Wie kommt es dann, dass du dafür belohnt wurdest?"
Hilgorn biss zornig die Zähne zusammen, antwortete aber: "Ich hatte den Befehl über die Männer die das Tor verteidigten auf das der Hauptangriff geführt wurde, und ich habe das Tor gehalten."
"Soso.", gab sein Bruder zurück, und trank genüsslich einen Schluck Wein. Es war bereits sein dritter Becher im Lauf des Essens. "In Dol Amroth wird man also schon belohnt, nur weil man seine Arbeit tut... ist das Pflichtbewusstsein der Soldaten Dol Amroths so gering, dass es schon auffällt wenn jemand seine Pflicht erfüllt? Oder hat nur dein Freund, der Prinz ein gutes Wort für dich eingelegt?"
"Elphir hatte nichts damit zu tun.", sagte Hilgorn in so eisigem Tonfall, dass sowohl Faniel als auch seine Mutter vor Schreck aufhörten zu essen und das Besteck sinken ließen. Von der anderen Tischseite ihn seine Nichte Iorweth mit offenem Mund, in dem zwei Zahnlücken zu sehen waren, an, während ihr Bruder Belegorn langsam zwischen Hilgorn und Imradon hin und her blickte. "Und das Pflichtbewusstsein der Soldaten von Dol Amroth steht außer Zweifel, und ist mit Sicherheit höher als das mancher Adligen, die sich lieber hinter ihren Mauern verkriechen als ihr Land zu verteidigen."
Er sah, wie Imradon den Weinkelch so fest umklammerte, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
"Ich muss mich in meinem eigenen Haus nicht von meinem Bruder beleidigen lassen." Imradon stand auf und stellte den Becher so heftig auf den Tisch, dass der rote Wein herausschwappte. "Morgen früh verlässt du Tíncar, und solange ich lebe wirst du nie wieder zurückkehren."
Mit einem Schwung seines goldbestickten Mantels wandte er sich um und verließ den Raum, wobei der die Tür hinter sich zuknallte und den Rest der Tischgesellschaft in bedrücktem Schweigen zurückließ.

Eandril:
Zwei Stunden nach dem katastrophalen Abendmahl stand Hilgorn auf der kleinen Plattform an der Spitze des östlichen Turmes und blickte nach Osten über das Tal. Der Mond stieg langsam über die Berge im Norden, und warf einen silbernen Streifen auf den Cenedril-See, der nur eine kurze Strecke östlich des Gutes begann. Hilgorn erinnerte sich, wie er oft als Kind hier oben "Wache gestanden" hatte. Es war eine von den vielen kleinen Aufgaben, die die Soldaten aus der Kaserne ihm gegeben hatte, damit er sich nützlich fühlen konnte - natürlich war ihm inzwischen klar geworden, dass es damals keinen Grund gegeben hatte, eine Wache auf den Türmen aufzustellen, denn Überfälle der Korsaren auf Belfalas waren selten geworden und überhaupt waren diese selten bis nach Tíncar vorgedrungen.
Hilgorn seufzte, und stützte die Ellbogen auf die Mauerkrone. Er ließ den Blick schweifen, von den steilen Bergen im Süden über die Felder zu den Lichtern des Dorfes am Rand des Cenedril, und dann über den See nach Norden zu den sanfter ansteigenden Berghängen im Norden, wo das Jagdgebiet der Herren von Tíncar lag. Es sah ruhig, friedlich, idyllisch aus - und seltsam unberührt. Allein auf dem kurzen Ritt von Dol Amroth hier her war Hilgorn durch zwei niedergebrannte Dörfer und an der Ruine eines Gutes vorbeigekommen. Und auch wenn das Tal abgelegen lag, vor dem Bruch der Belagerung war ganz Belfalas fest in Mordors Hand gewesen.

Er hörte leise Schritte die Wendeltreppe hinaufkommen und ein Kleid rascheln, und als er sich umwandte stand er Faniel gegenüber.
"Dein Bruder will dich von hier vertreiben.", sagte sie ansatzlos, und machte einen Schritt auf ihn zu. Dann einen weitern. "Ich weiß.", meinte Hilgorn. Sie nahm seine Hand, und die Berührung schien seinen ganzen Arm zu elektrisieren.
"Ich will aber nicht, dass du wieder gehst." Kaum waren die Worte gesprochen packte Hilgorn sie, zog sie in seine Arme und küsste sie. Faniel ließ ihn widerstandslos gewähren, und erwiderte den Kuss sogar mit einer Leidenschaft, die Hilgorn überraschte. Dennoch, als sie sich etwas atemlos voneinander lösten schob er sie sanft von sich, obwohl es ihn geradezu unmenschliche Überwindung kostete.
"Wir sollten das nicht tun. Du bist verheiratet, hast Kinder und..." Er stockte, als er Tränen in Faniels wunderschönen Augen glitzern sah. "Ich hasse ihn." Die Worte kamen leise, und sobald sie heraus waren schlug Faniel die Hände vor den Mund, offenbar erschrocken über ihre eigenen Worte.
"Warum hast du ihn geheiratet?" Hilgorn machte sicherheitshalber einen Schritt zurück, und stieß mit dem Rücken gegen die Mauerkrone.
"Weil... ich..." Im Mondlicht sah er ihre Unterlippe zittern, und wünschte sich nichts mehr als sie erneut zu küssen. "Er war so nett und charmant zu mir als er mich umworben hat. Mein Vater wollte die Hochzeit auch, und so... habe ich damals eingewilligt." Faniel klang hilflos.
"Hast du ihn geliebt?", fragte Hilgorn nach, und erschrak über den verbitterten Klang seiner eigenen Stimme.
"Ich weiß nicht... ich denke nicht wirklich.", antwortete Faniel. "Aber du warst nicht hier und mein Vater wollte nicht dass ich nach Dol Amroth gehe - außerdem warst du nur ein Mann der Wache, und mein Vater wollte etwas besseres für mich." Auch wenn die Erinnerung an den Tag, als er von ihrer Hochzeit erfahren hatte noch immer wie ein Stachel in seinem Herzen steckte, taten ihre Worte Hilgorn gut, und er öffnete die Arme, die er vor der Brust verschränkt hatte. Zu seiner Erleichterung nahm Faniel die Umarmung an und legte den Kopf an seine Brust, obwohl er befürchtet hatte, sie mit seinen Fragen verärgert zu haben.
"Aber jetzt bin ich ein General von Dol Amroth, und sobald der Krieg vorüber ist werde ich mein eigenes Land besitzen.", sagte er leise und strich Faniel sanft über den Rücken. "Würdest du mich also jetzt nehmen?" Fanieln hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. "Sofort.", erwiderte sie mit einem Lächeln, dass allerdings sofort wieder verschwand. "Aber dazu ist es zu spät." Sie legte den Kopf wieder auf seine Brust, und für einen Moment verharrten sie schweigend, während unten der Limcelleth leise plätscherte.

Schließlich brach Hilgorn das Schweigen. "Was hat Imradon getan, dass du ihn hasst?"
"Müssen wir wirklich über ihn reden?" Faniel löste sich aus seiner Umarmung und blickte ihm ins Gesicht. Hilgorn schüttelte den Kopf. "Nicht, wenn du nicht willst. Aber ich wüsste gerne, warum."
"Er... seit einiger Zeit behandelt er mich, als wäre ich eine Dienerin, und wenn er mich ansieht kann ich keine Gefühle in seinen Augen erkennen. Das einzige was ihn noch interessiert sind Macht und Geld."
"Und seine Kinder?" Faniel lachte bitter auf. "Für Belegorn ja, er ist ja sein Erstgeborener und Erbe. Aber für meine kleine Iorweth hat er kaum einen Blick übrig, nur wenn sie etwas angestellt hat - und deshalb stellt sie immer wieder irgendetwas an, nur um ein wenig Aufmerksamkeit zu bekommen."
Hilgorn beschloss, dass Thema etwas von Imradon wegzulenken, denn Faniels Augen glänzten wieder verdächtig. "Wie stehen die Dinge in Tugobel? Wie geht es deinem Vater?" Zu seinem Entsetzen begann Faniel nun doch zu weinen, und er zog sie erneut an sich und strich ihr etwas hilflos über die Haare.
"Ist er etwa..." "Tot.", schluchzte sie. Die Nachricht erschütterte Hilgorn. Lanhael Glórin war zwar nur wenig jünger als sein eigener Vater gewesen, doch Ithons Tod war ein Unfall gewesen und Lanhael hätte sicherlich noch einige Jahre zu leben gehabt.
"Wie ist das passiert?", fragte er nach, obwohl der Gedanke daran für Faniel schmerzhaft sein musste.
"Orks aus Mordor.", sagte sie leise. "Sie haben Tugobel überfallen und geplündert und meinen Vater getötet."
"Sie haben..." Hilgorn legte ihr beide Hände auf die Schultern, beugte sich vor sodass ihre Gesichter auf einer Höhe waren, und blickte ihr direkt in die Augen. "Wer ist jetzt Herr von Tugobel?"
"Imradon.", erwiderte sie, und verzog bei der Erwähnung ihres Gemahls das Gesicht. "Nachdem Beleg gefallen ist war ich die Erbin, und da ich eine Frau bin..."
Eine sehr schöne, dachte Hilgorn unwillkürlich.
"... ist Imradon nun der Herr." Für einen Moment herrschte Stille, und Hilgorn spürte wie sich eine eisige Faust um sein Herz zu schließen schien. Ihm kam ein furchtbarer Verdacht.
"Faniel, wie kann es sein dass Tugobel geplündert wurde aber Tíncar nicht - so glücklich ich darüber auch bin?" Mit einem Mal wurde ihm klar, dass ihm Tíncars Unversehrtheit schon seit seiner Ankunft stärker hätte auffallen müssen.
"Ich..." Für einen Augenblick schien Faniel sich zu kämpfen, und zu versuchen die Treue zu ihrem Gemahl zu überwinden. Gedankenverloren strich Hilgorn ihr eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, aus dem Gesicht.
"Wir hörten Gerüchte, dass Mordor die Dörfer unten an der Küste plünderte.", sagte sie schließlich tonlos. "Imradon ist hingeritten um sie auszuspähen, und kurz nachdem er zurückkehrte kam eine Gruppe Orks die von ganz in schwarz gekleideten Menschen angeführt wurde, die Cirith Lenthir hinauf. Aber anstatt Tíncar anzugreifen sind sie einfach am Gut vorbeimarschiert, haben einen Bogen um das Dorf geschlagen und sind nach Osten weitergezogen. Zwei Tage später kamen sie mit Beute und Sklaven wieder zurück, haben uns aber wieder nicht behelligt. Und..."
Sie stockte als sie den Ausdruck auf Hilgorns Gesicht sah, doch er bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, weiterzusprechen. "Seit dem Tag war Imradon auf Herr von Tugobel, und fing an, Lebensmittel die Straße herunter zu schicken. Er sagte, es wäre für Widerstandskämpfer die von außerhalb der Stadt gegen Mordor kämpfen würden, aber..." Faniel verstummte abermals, denn Hilgorn hatte sie losgelassen und vor Wut mit der Faust gegen eine Zinne geschlagen. Der Schmerz brachte ihn wieder zur Besinnung und ließ ihn klar denken. Es ergab Sinn: Mordors Streitkräfte mussten sich auf eine längere Belagerung einstellen, und geplünderte Ländereien warfen auf lange Sicht keine Lebensmittel ab.
"Imradon hat einen Pakt mit Mordor geschlossen.", sagte er mit belegter Stimme. Faniels graue Augen wichen seinem Blick nicht aus. "Ich habe es geahnt.", flüsterte sie. "Ich habe es geahnt, aber ich wollte es nicht wahrhaben."
Hilgorn griff an seine Seite, doch sein Schwert hatte er unten in seinem Zimmer gelassen. Und das war auch gut so, denn ansonsten hätte er seinen Bruder wahrscheinlich sofort aufgesucht und auf der Stelle erschlagen, doch das Fehlen der Waffe gab ihm Zeit zum Nachdenken.
"Er hat ihnen den Weg nach Tugobel gewiesen, damit sie deinen Vater töten und ihn zum Herren machen. Und dann hat er sie bis zum Ende der Belagerung mit Nahrung versorgt. Dafür wird er hängen.", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und es war ihm egal dass Imradon sein Bruder war.
"Du musst es beweisen.", unterbrach Faniel ihn. "Finde einen Beweis oder bring ihn zum gestehen, dann übergib ihn dem Fürsten und... ich bin frei." Ihre Blick fand kühn den seinen.
"Aber wie? Wie soll ich so etwas beweisen?", fragte Hilgorn.
"Imradon lässt niemanden in sein Studierzimmer hinein." Er erinnerte sich an dieses Studierzimmer, dort hatte er sich als Kind regelmäßig die Strafpredigten seines Vaters anhören müssen. Faniel stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn sanft auf die Wange und sagte: "Ich muss jetzt gehen, bevor Imradon sich fragt wo ich bin. Viel Glück."
Mit diesen Worten wandte sie sich um, eilte die Treppe vom Turm hinunter und ließ Hilgorn alleine im Mondlicht stehen.

Eandril:
Auch nachdem Faniel gegangen war blieb Hilgorn noch einige Zeit auf der Turmspitze, ging ein wenig hin und her und genoss die kühle Nachtluft. Inzwischen waren auch die letzten Lichter im von Tíncar und Tugobel auf der anderen Seite des Sees erloschen, und das Tal wurde nur noch von Mond und Sternen erhellt. Im Wald im Norden rief eine Eule.
Schließlich gab Hilgorn sich einen Ruck und ging die Treppe hinunter. Am unteren Ende durchquerte er mit ein paar Schritten den dunklen Flur und betrat sein altes Zimmer, dessen Fenster nach Norden hinaus auf den Limceleth ging. Er entzündete die Kerze, die auf dem Tisch in der Zimmerecke stand und packte sein Schwert, dass an das Bett gelehnt stand. Er zog die Waffe ein kleines Stück aus der Scheide und betrachtete die Klinge nachdenklich, steckte sie jedoch nach einem Augenblick wieder zurück. Er würde seinen Bruder nicht kaltblütig in seinem Bett ermorden, und nun war auch nicht die Zeit, sich in Imradons Studierzimmer zu schleichen. Mitten in der Nacht mochte das Licht jemandem auffallen, also blies er die Kerze aus und legte sich schlafen.


Am nächsten Morgen erwachte Hilgorn früh, die Sonne war gerade im Osten über den Bergen aufgegangen. Er kleidete sich an, schnallte sein Schwert um und verließ den Raum. Draußen auf dem Flur hielt er eine junge Dienerin an, und fragte: "Ist der Herr Imradon schon auf?"
Das Mädchen starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, und schüttelte schließlich zaghaft den Kopf. "Nein, d-der Herr bevorzugt es, länger zu schlafen. B-bitte, ich muss jetzt gehen." Hilgorn bedeutete ihr mit einer Geste zu gehen, und ging nachdenklich den Flur entlang in Richtung des Hauptteils des Hauses, wo Imradon residierte. Er erreichte das Studierzimmer seines Vaters - nun Imradons - und blieb vor der geschlossenen Tür stehen. Versuchsweise drückte er dagegen, doch die Tür rührte sich kein Stück. Faniel hatte also recht gehabt, dass Zimmer war abgeschlossen.
Hilgorn kratzte sich das noch unrasierte Kinn und wog seine Optionen ab. Er könnte die Tür mit Sicherheit eintreten, aber das würde Lärm machen und Imradon mit Sicherheit wecken. Nach Norden hin hatte das Zimmer einen kleinen Balkon über dem Limceleth, doch er bezweifelte dass er es schaffen würde, diesen zu erklettern. Während er noch darüber nachgrübelte, hörte er hinter sich Faniels Stimme: "Ich habe den Schlüssel."
Hilgorn wandte sich um, und spürte sein Herz bei ihrem Anblick schneller schlagen. Heute trug sie ein weinrotes Kleid, dass hervorragend zu ihren schwarzen Haaren passte. "Imradon versteckt ihn immer in seiner Truhe wenn er schlafen geht, ich habe ihn dabei beobachtet."
Hilgorn riss sich zusammen, und erwiderte: "Wird er dich nicht vermissen?"
"Ich stehe meistens vor ihm auf und helfe den Dienern alles für ihn vorzubereiten.", verneinte Faniel, und ihre Stimme bekam einen bitteren Klang. Sie zog einen eisernen Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn Hilgorn entgegen. "Hier, der Schlüssel."
Hilgorn nahm ihn entgegen, und wog ihn für einen Moment in der Hand. "Du solltest vielleicht lieber gehen. Wenn er uns hier zusammen sieht..."
Faniel schüttelte den Kopf, und ihre Augen glänzten wie purer Stahl. "Nein, ich komme mit dir. Ich will die Wahrheit wissen." Hilgorn erwog nur kurz zu widersprechen, zuckte dann aber angesichts des Ausdrucks in ihren Augen nur resigniert die Schultern und öffnete die Tür. Heute erschien Faniel ihm deutlich weniger verletzlich und stärker als in der Nacht zuvor.

Gemeinsam betraten sie das Studierzimmer, und Hilgorn warf einen raschen Blick durch den Raum. Es sah noch fast genauso aus wie zu Lebzeiten seines Vaters, als er oft hier gewesen war um sich eine weitere Strafpredigt oder sogar Tracht Prügel abzuholen. Direkt gegenüber der Tür führte eine weitere Tür hinaus auf den kleinen Balkon. Auf der rechten Seite des Zimmers stand ein alter, wuchtiger Schreibtisch, an dem schon Hilgorns Großvater seine Geschäfte erledigt hatte. An den Wänden standen mehrere hohe, schmale Regale, in denen die Herren von Tíncar Bücher mit Aufzeichnungen über Ein- und Ausgaben, Grundbücher und Verträge aufbewahrten. An der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Wand hing ein großer Stammbaum des Hauses Thoron, und auf dem Boden darunter standen zwei große Truhen.
Beide Truhen standen offen, und in einer blitzten verschiedene Gold- und Silbermünzen, während sich in der anderen verschiedene Papiere stapelten. Auch der Schreibtisch war von Briefen und anderen Dokumenten bedeckt. Zaghaft machte Faniel ein paar Schritte in den Raum hinein, und Hilgorn folgte ihr langsam.
"Such du auf dem Tisch, ich durchsuche die Truhe.", sagte er, und kniete sich vor der Truhe vorsichtig auf den Boden, bemüht seine Kleidung nicht übermäßig zu beschmutzen. Offenbar erlaubte Imradon nicht, dass in dem Studierzimmer geputzt wurde, denn auf dem Steinboden lag eine Staubschicht.
"Wonach soll ich suchen?", hörte er Faniel hinter sich fragen. "Ich weiß nicht.", antwortete er, und nahm das oberste Dokument aus der Truhe. "Irgendetwas verdächtiges."

Eine zeitlang suchten sie beide schweigend, und das einzige Geräusch das zu hören war, war das rascheln von Papier. Schließlich hörte Hilgorn Faniel entsetzt einatmen. Er warf den Stapel Briefe von seinem Bruder Aldar zurück in die Truhe und stand auf. "Hast du etwas gefunden?"
Faniel stand am Schreibtisch und hatte ein altes Grundbuch aufgeschlagen in der Hand. Sie nickte. "Ja, ich denke schon." Hilgorn ging um den Schreibtisch herum und blickte ihr über die Schulter, wobei er unauffällig ihren Duft einatmete. In dem Buch lag ein Brief, der an Imradon adressiert war.
Gutsherr Imradon Thoron,
wir sind euch für eure Informationen über Dol Amroth dankbar, obwohl uns einiges davon bereits bekannt war. Eure Bezahlung liegt am vereinbarten Ort.
Die kurze Nachricht trug keine Unterschrift, doch ihr Inhalt war kein bisschen missverständlich.
"Imradon hat Informationen über Dol Amroth verkauft.", sagte Faniel. Trotz allem klang sie noch erschüttert.
"Mhm...", Hilgorn strich sich über das Kinn, wobei er sich über das Gefühl der Bartstoppeln ärgerte. "Aber an wen? Und woher hatte er nennenswerte Informationen? Er ist seit Ausbruch des Krieges nicht mehr dort gewesen." Für einen Augenblick herrschte Stille, bis Hilgorn die Briefe wieder einfielen, die er in der Truhe gefunden hatte. Er durchmaß den Raum mit drei langen Schritten und nahm den obersten Brief vom Stapel. Das Schreiben war von Aldar an ihre Mutter gerichtet, und trug ein Datum dass nur wenige Tage in der Vergangenheit lag. Sein Bruder schilderte darin erstaunlich detailliert die Lage in der Flotte von Dol Amroth und berichtete von Lóthiriels Entführung. Ein älterer Brief schilderte die Schlacht von Linhir. Kurz kam Hilgorn der furchtbare Verdacht, dass auch Aldar in den Komplott verstrickt sein könnte, aber einige Formulierungen, die Imradon in wenig schmeichelhaften Licht erschienen ließen, beruhigten ihn. Wenn Aldar nur zur Tarnung an seine Mutter geschrieben hätte, hätte er so etwas mit Sicherheit ausgespart.

"Hat meine Mutter in letzter Zeit Briefe von Aldar erwähnt?", fragte Hilgorn.
"Nein, ich kann mich nicht daran erinnern.", erwiderte Faniel verwundert, stellte sich neben ihn und sah sich den Brief an, den er in der Hand hielt. "Imradon muss sie abgefangen haben."
"Richtig.", meinte Hilgorn grimmig. "Und alles was er daraus erfahren hat, hat er weitergegeben."
Bevor Faniel antworten konnte, unterbrach sie eine zornige Stimme von der Tür her. "Was soll das werden? Ein Verschwörung?"
Hilgorn blickte auf und sah sich Imradon gegenüber, der mit vor Zorn und Schreck weißem Gesicht in der Tür stand, das Schwert gezogen und mit der Spitze auf Hilgorn gerichtet.

Eandril:
Hilgorn machte einen vorsichtigen Schritt, wobei er Faniel mit einer unauffälligen Bewegung hinter sich schob, und hob beschwichtigend eine Hand. Imradon machte einen Schritt in den Raum hinein, auf Hilgorn zu, wobei seine Schwertspitze geradewegs auf Hilgorns Gesicht gerichtet blieb. Das Schwert zitterte leicht.
"Ich habe mich gegen niemanden verschworen.", sagte Hilgorn, wobei er das Wort ich betonte.
"Was soll das heißen?" Imradons Blick fiel auf das Buch, dass Faniel aufgeschlagen auf dem Tisch liegengelassen hatte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. "Ihr habt doch nicht etwa..."
"Doch.", gab Hilgorn zurück. "Wir haben die Nachricht gefunden, die deine Auftraggeber dir geschrieben haben. Du bist ein Verräter."
"Du stellst also die Treue zu deinem Fürsten über die zu deiner Familie?" Imradon starrte Faniel an, die schräg hinter Hilgorn stand. "Und du, Weib? So vergiltst du mir also alles, was ich für dich getan habe?"
"Ein angemessene Vergeltung, so viel ist sicher." Sie blickte ihrem Mann furchtlos in die Augen, und Imradon Gesicht verzog sich noch mehr zu einer hässlichen Fratze. "Dafür werde ich euch beide töten." Er holte aus, doch Hilgorn war schneller als er, ließ Aldars Briefe fallen, zog in einer blitzschnellen Bewegung sein eigenes Schwert und parierte den Hieb. Imradon machte verunsichert einen Schritt zurück, und diesmal trat Hilgorn einen nach vorne.
"Du wirst und nicht anrühren, Bruder.", knurrte er, und schlug mit dem Schwert einen lockeren Bogen. Er machte einen Schritt vor, und Imradon wich wieder zurück. Und noch einen. Inzwischen standen sie auf dem Flur, und Imradon mit dem Rücken zur Treppe die ins Erdgeschoss hinunter führte. "Weißt du, Imradon, ich würde dich gerne töten.", sagte Hilgorn und schlug leicht nach dem Arm seines Bruders, der den Streich mühelos parierte. "Aber trotz allem bist du mein Bruder, und außerdem muss deine Angelegenheit dem Fürsten vorgetragen werden."
"Und dann werde ich hängen.", erwiderte Imradon, trat auf die oberste Stufe, wandte sich um und lief schnell die Treppe herunter. Hilgorn folgte ihm ebenso schnell, und unten nahmen sie ihre alte Position wieder ein.
"Dann wirst du hängen.", bestätigte Hilgorn mit einem Nicken und einem grimmigen Lächeln. "Und zwar zurecht."
Imradon wich immer weiter zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Haupttür des Hauses stieß, die zu seinem Glück nach außen aufschwang. Sie traten hinaus in den hellen Sonnenschein auf dem Innenhof. Imradon zuerst, rückwärts und immer das Schwert auf Hilgorn gerichtet, dann Hilgorn, der immer wieder kurze Schläge mit ihm austauschte, und schließlich in sicherem Abstand Faniel.

Auf dem Innenhof schien Imradon etwas Selbstbewusstsein zurückzugewinnen. Er grinste überheblich, so wie Hilgorn es seit seiner Kindheit von ihm kannte, ließ sein Schwert, die alte Familienwaffe, hin und her schwingen und sagte: "Komm schon, kleiner Bruder. Ich war schon immer besser als du."
"Das war einmal." Hilgorn stellte einen Fuß leicht versetzt nach vorne und ging leicht in die Knie, das Schwert zur Seite auf den Boden gerichtet. Dieser Kampfstil unterschied sich sehr davon, wie er in der Schlacht Seite an Seite mit anderen Soldaten kämpfte, doch ein solches Duell war etwas völlig anderes als eine Schlacht. "Ich bin nicht mehr elf und du nicht mehr fünfzehn. In wie vielen Schlachten hast du in den letzten Jahren gekämpft?"
Ein Hauch von Unsicherheit schien über Imradons Gesicht zu huschen, doch er sagte nichts sondern griff an. Hilgorn riss sein Schwert in die Höhe, parierte den Schlag und stieß sich von Imradons Klinge ab. Er nutzte den Schwung um sich in einer halben Pirouette um seinen Bruder herumzudrehen und aus der Drehung heraus nach dessen Kniekehle zu schlagen. Imradon gelang es gerade noch, den Schlag zu parieren, was Hilgorn zeigte dass er zwar etwas eingerostet, aber dennoch ein fähiger Kämpfer war. Er würde vorsichtig sein müssen.
"Warum hast du es getan?", fragte er, und schlug nach Imradons Schulter. Dieser parierte den Schlag und revanchierte sich mit einem Stoß gegen Hilgorns Brust, dem Hilgorn gerade noch so ausweichen konnte.
"Was getan?", fragte Imradon gereizt und wich einen Schritt zurück um sich eine Atempause zu verschaffen. Hilgorn senkte das Schwert, um seinen Bruder zu einem unvorsichtigen Angriff zu provozieren. "Du hast Mordors Truppen mit Nahrung versorgt, während sie Dol Amroth belagerten."
"Woher..." Imradon schüttelte den Kopf. "Was ich getan habe geschah nur, um Tíncar zu beschützen." Er griff erneut an, und für einen Moment tauschten sie schweigen Schläge aus, wobei Hilgorn feststellen musste, dass Imradon sich nicht mit Entwaffnen aufhalten würde, sondern tatsächlich versuchte ihn zu töten.
"Und war es", keuchte er, als sie wieder einmal voneinander zurückwichen: "...auch nötig, Mordor nach Tugobel zu schicken? Oder war das nur, um deine Gier nach Macht zu befriedigen?" Hilgorn bemerkte, dass sich inzwischen einige Diener und Wachen im Hof versammelt hatten und den Kampf entsetzt beobachteten. Allerdings wagte niemand einzugreifen.
"Und warum war es nötig, Informationen an unsere Feinde zu verkaufen?"
"Du verstehst nichts.", erwiderte Imradon außer Atem. Er blutete aus einem Schnitt am Oberschenkel, und auch Hilgorn fühlte ein Rinnsal Blut an seiner Wange herunterlaufen. "Als Herr muss man manchmal Dinge tun, die andere nicht verstehen."
"Das weiß ich." Hilgorn schlug zu, und erneut war nur das Klirren der Schwerter und das Keuchen der Kämpfer zu hören. Schließlich gingen sie langsam im Kreis, die Schwerter wachsam aufeinander gerichtet und nach einer Schwachstelle des Gegners suchend. "Aber das was du getan hast ist simpler Verrat - an Gondor, an Dol Amroth, und an deiner eigenen Familie!"
Er hoffte, dass Imradons Kinder nicht zusahen, und ließ sein Schwert zu Boden fallen. Hinter sich hörte er Faniel entsetzt aufkeuchen, und in Imradons Augen flackerte Überraschung auf, die allerdings schnell von Mordlust ersetzt wurde.
"Wenn du mich jetzt tötest, gewinnst du nichts.", sagte Hilgorn warnend. "Du hast dann einen General von Dol Amroth auf dem Gewissen, und dann wird nicht nur ein Mann kommen um dich zur Rechenschaft zu ziehen."
Imradon biss die Zähne zusammen. "Nein.", sagte er, und griff an.
Hilgorn tauchte unter seinem mit Wucht geführten Schlag weg, zog ihm mit einer raschen Bewegung das Standbein unter dem Körper weg, und Imradon taumelte unkontrolliert rückwärts. Ohne das Schwert war Hilgorn deutlich beweglicher und nicht mehr durch die Länge der Waffe eingeschränkt - und er hatte in Dol Amroth einige Erfahrung während Kneipenschlägereien gesammelt. Er setzte nach und packte das Gelenk von Imradons Schwerthand. Für einen Moment rangen die Brüder miteinander, und Hilgorn spürte wie das Schwert ihm schmerzhaft die Seite aufschnitt, doch schließlich keuchte Imradon vor Schmerz auf und ließ die Waffe klirrend zu Boden fallen. Sofort ließ Hilgorn ihn los, hieb ihm die Faust mit ganzer Kraft in den Magen, und als Imradon sich zusammenkrümmte rammte er ihm das Knie ins Gesicht. Es knackte, aus Imradons Nase schoss Blut und er brach bewusstlos zusammen.

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