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Autor Thema: Tol Thelyn  (Gelesen 19170 mal)

Fine

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Tol Thelyn
« am: 7. Okt 2016, 00:03 »
Valion, Valirë und Veantur mit der Súlrohír von der Bucht von Belfalas


Die Súlrohír ankerte vor einem breiten Sandstrand, der sich zwischen zwei von hohen Klippen gesäumten Küstenabschnitten befand. Der Kapitän stellte den Zwillingen das große Beiboot zur Verfügung und sie nahmen sieben Krieger vom Ethir mit als sie die kurze Strecke bis zum Ufer zurücklegten. Knirschend stieß die Unterseite ihres Boots auf Sand und sie sprangen durch das knöcheltiefe Wasser an Land. Zwei Mann blieben zurück um das Boot zu bewachen und zu siebt machten sie sich in Richtung des Turms auf, der in der Ferne hinter einem bewaldeten Stück Land zu sehen war.

"Was erzählt man sich unter Seefahrern über diese Insel?" fragte Valirë den ältesten ihrer Begleiter, einen alten Seefahrer vom Ethir.
"Viel weiß ich nicht," antwortete dieser. "Es gibt über die Weiße Insel nur alte Legenden. Angeblich ist sie von Schatten bewohnt."
"Schatten?" wunderte sich Valion. "Das ist doch nichts als Gerede. Was meint Ihr, wer wohl den Turm erbaut hat? Ganz offensichtlich ist er von númenorischer Bauart. Ich schätze, hier gab es einst einen Hafen der Dúnedain."
"Zumindest bis vor Kurzem," vermutete Valirë. "Doch wer auch immer den Turm in Brand gesteckt hat, er war ein Feind der Insel und seiner Bewohner. So viel steht fest."
Sie gingen weiter und näherten sich dem Turm. In der Nähe der Bäume fanden sie eine Straße, die durch das kleine Wäldchen direkt auf ihr Ziel zuführte. Sie folgten dem Weg und durchquerten den Hain während die Sonne ihren Zenit erreichte. Gesprochen wurde kaum. Sie alle hielten ihre Waffen griffbereit und die Anspannung war deutlich spürbar. Etwas lag in der Luft.

Die Gruppe verließ den Schatten der Bäume, und sie kamen auf eine Ebene, die zwischen ihnen und dem Turm lag. Überall sahen sie Spuren der Verwüstung. Offenbar hatte es hier einst bewohntes und bestelltes Land gegeben. Valion sah zerstörte Höfe und Felder, jedoch nirgendwo Zeichen der Inselbewohner. Sie durchquerten ein verlassenes Dorf in dem sich nichts regte als der Wind, der über die Dächer strich. Der Turm rückte näher. Eine traurige Stille lag über der Insel und selbst den Zwillingen war nicht nach draufgängerischen Sprüchen zumute. Die Verwüstung bedrückte sie alle, obwohl sie nicht wussten, wer hier gelebt hatte oder weshalb die Zerstörung angerichtet worden war.

In der Nähe des Turms durchquerten sie einen überwucherten Garten, der wohl einst ordentlich und gepflegt gewesen war, nun jedoch mit dem Rest der Insel dem Verfall preisgegeben war. Zu ihrer Überraschung fanden sie dort einen Mann vor, der regungslos auf den verkohlten Turm starrte. Er war von hochgewachsener Gestalt und trug haradische Gewänder, doch seine Gesichtszüge erinnerten Valion eher an seine Verwandten, die Fürsten von Pelargir, als an einen Südländer.
Vorsichtig näherten sie sich und als der Mann keine Reaktion zeigte sprach Valirë ihn an.
"Zum Gruße, Freund. Was bringt euch an diesen düsteren Ort?"
Der Fremde wandte sich ihr zu, den Blick von jemandem, der aus einem Traum erwacht in den grau schimmernden Augen. "Wer seid ihr?" fragte er. "Ihr seid keine Haradrim, nein.... keine von Sûladans Schergen." Er musterte sie der Reihe nach und sein Blick blieb an Valion hängen. Einen Augenblick starrten die beiden Männer einander an, doch dann senkte der Fremde den Blick. "Dies ist Tol Thelyn. Einst war es die Insel des Sonnenuntergangs. Die Insel der Standhaften. Die Weiße Insel. Doch heute ist sie nichtsmehr von alldem. Der Schatten Sûladans hat sie verschluckt. Und es ist meine Schuld!"
Verzweiflung flackerte in den Augen des Fremden auf. Er schien ein gebrochener Mann zu sein.
"Wir sind gondorische Seefahrer," erklärte Valirë, der ihr Bruder das Reden überließ. "Unser Schiff liegt vor dem Nordufer. Die Strömung trieb uns während einer Flaute hierher."
"Gondor..." stieß der Mann hervor. "Gondor hat uns vergessen. Gondor hat den Bund vergessen. Ihr kommt zu spät. Die Dúnedain von Harad wurden vernichtet und die Turmherren sind gefallen."
"Wer sind die Turmherren?" fragte Valirë. "Und was hat Euer Gerede zu bedeuten? Erklärt Euch, dann helfen wir Euch, die Insel sicher zu verlassen."
"Ich bin.. Tayyad," gab der Fremde zurück. "Oder zumindest war ich das in den vergangenen Jahren. Doch geboren wurde ich hier, auf Tol Thelyn, als Beorn Dúnadan. Mein Vater Hador gab mir später den Namen Thorongil."
"Thorongil!" rief Valion überrascht. Der letzte große Held Gondors (vor Boromir, dem Sohn Denethors) war im Ethir und in Pelargir bei jedem Kind bekannt. "So seid Ihr also der Fluch Umbars?"
"Nein, das war vor meiner Zeit," sagte Thorongil. "Nach seinem Sieg erhielt ich zu Thorongils Ehren dessen Namen. Ja, dieser Thorongil war ein Held, denn er war der einzige, der sich der Dúnedain des Südens erinnerte. Über das Haus Hallatans ist er auch ein Verwandter der Turmherren und in den alten Schriften im Norden las er über Arandir den Reisenden, der seinen Vetter Hallatan in Arnor besuchte. Thorongil berief sich auf das Bündnis, dass mein Vorfahr mit Isildur selbst geschlossen hatte und so unterstützten die Männer der Insel seinen Angriff auf Umbar. Ohne ihre Hilfe wäre er gar nicht möglich gewesen. Doch davon weiß in Gondor niemand etwas, habe ich Recht? In Gondor schert es niemand, dass der Turm, der drei Jahrtausende überdauerte, von Sûladan in Brand gesetzt wurde und sein Bewahrer auf dessen Schwelle erschlagen wurde. In Gondor hat man die Turmherren vergessen."
"Es war also Sûladan, der die Insel angriff?" hakte Valirë nach. "Wie lange ist das her? Hat irgendjemand überlebt?"
"Ich weiß es nicht," seufzte Thorongil. "Ich... habe mich einst mit meinem Vater überworfen und verließ die Insel. Erst als ich vom Fall des Turms hörte kehrte ich zurück. Einige Dúnedain haben überlebt, vor allem jene, die in den Städten und Reichen Harads mit Missionen meines Vaters unterwegs waren. Auch habe ich gesehen, dass bei den zerstörten Schiffen im Hafen zwei fehlen; die Rossigil, das Flaggschiff der Turmherren mit dem einst mein Ahnherr Ciryatan von Númenor hierher kam, und ein zweites, kleineres Schiff. Noch besteht ein klein wenig Hoffnung, dass an Bord dieser beiden Schiffe einige Dúnedain entkommen sind."

"Schluss mit der Geschichtsstunde," unterbrach Valion. "Wir können auf keinen Fall hier bleiben. Vielleicht sind Sûladans Leute noch in der Nähe."
"Du hast Recht," stimmte Valirë zu. "Thorongil, kommt doch mit uns. Auf unserem Schiff könnt Ihr uns alles über die Insel erzählen."
Doch der Fremde schüttelte den Kopf. "Ich habe mein Erbe lange genug mit Füßen getreten. Ich muss hierbleiben und retten, was zu retten ist."
"Welches Erbe?" fragte Valirë, doch Valion wusste bereits was der Mann antworten würde.
"Das der Turmherren," sagte er daher, und Thorongil nickte.
"Ich bin der Sohn Hadors vom Turm. Es wird Zeit, dass ich mich auch so verhalte. Ich werde sammeln was von den Dúnedain Tol Thelyns übrig ist. Wenn ihr Angehörige meines Volkes trefft, berichtet ihnen bitte davon. Ihr erkennt sie an ihren meergrauen Augen."
Die Zwillinge nickten. Valion hatte des merkwürdige Gefühl, Thorongil bedenkenlos vertrauen zu können, weshalb er ihm viel Erfolg wünschte und dies auch so meinte. Sie verabschiedeten sich und versprachen, auf der Rückreise von Umbar erneut einen Halt auf der Insel einzulegen und Thorongil beim Wiederaufbau zu unterstützen. Dann machten sie sich auf den Rückweg zu ihrem Schiff.

Am Strand angekommen fanden sie das Beiboot noch immer wartend vor. Der Nachmittag war beinahe vorbei als sie schließlich wieder die Planken der Súlrohír betraten. Veantur berichtete, dass seine Leute in der Nähe eine Quelle gefunden und die Wasservorräte aufgestockt hatten. Doch hatte er auch weniger gute Neuigkeiten: während ihrer Abwesenheit waren am Horizont mehrere schwarze Segel gesehen worden.
"Die Korsaren sind unterwegs," sagte er beunruhigt. "Wir sollten zusehen, dass wir hier verschwinden."
Und genau das taten sie. Die untergehende Sonne im Rücken setzten sie Kurs nach Osten, in Richtung Festland, und in Richtung Umbar.


Valion und Valirë nach Umbar
« Letzte Änderung: 24. Sep 2017, 17:03 von Fine »
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Unsanftes Erwachen
« Antwort #1 am: 14. Jan 2017, 00:33 »
Lothíriel, Valirë, Bayyin, Tuór, Veantur, Lóminîth und Valion mit der Súlrohír vom Kap Umbar


Valion erwachte, als die Türe zu seiner Kabine mit einem lauten Krachen weit aufgerissen wurde. Er blinzelte verwirrt in das helle Sonnenlicht, das hereinflutete und war für einen Augenblick völlig orientierungslos. Sein Kopf und Oberkörper lagen auf etwas weichem, und gut riechenden... seine Hand ertastete vorsichtig, worum es sich dabei handelte und stellte fest, dass die Oberfläche zwei ausgeprägte Erhebungen direkt oberhalb von der Stelle aufwies, an der Valions linke Wange ruhte...
Jemand räusperte sich. Deutlich. Valions Hand verharrte und er riskierte einen zweiten Blick ins Licht. Vor den Sonnenstrahlen zeichnete sich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt ab, die offenbar die Hände in die Hüften gestützt hatte.
"Bist du fertig damit, die Dame zu betatschen, kleiner Bruder?" sagte Valirë, und Valion konnte das Grinsen aus der Stimme seiner Schwester heraushören. Schnell zog er die Hand weg. In der Hoffnung, dass Lóminîth nichts bemerkt hatte richtete er sich auf - und stellte fest, dass er keine Kleidung trug. Schnell wickelte er die dünne Decke um sich, die seinen Unterkörper bedeckt hatte, doch das löste ein anhaltendes Kichern von Valirë aus.
"Willst du ihr wirklich noch den letzten Schutz vor ungenierten Blicken nehmen?" fragte sie und deutete auf die schlafende Lóminîth, deren blankes Hinterteil gerade zum Vorschein kam.
"Mach die verdammte Tür zu," herrschte Valion seine Schwester an und warf die Decke über seine Verlobte. Dann sprang er aus dem Bett und durchsuchte das kleine Zimmer nach seinen Kleidern, die in allen Ecken verstreut lagen.
Valirë kam aus dem Kichern gar nicht mehr heraus. "Wie ich sehe hast du die Zeit gut genutzt," stichelte sie.
"Jetzt tu' nicht so scheinheilig," knurrte Valion während er sich anzog. "Wer hat denn die erste Gelegenheit genutzt, um mit dem Schreiber unter die Decke zu springen?"
"Das hatte nichts zu bedeuten," gab Valirë zurück. "Aber das..." sie wies auf die nun wieder anständig verhüllte Lóminîth "...ist eine andere Angelegenheit. Immerhin seid ihr beide verlobt. Hast du etwa vor, einen Erben zu zeugen?"
"Unsinn," antwortet Valion. "Hör lieber auf so zu sprechen, bevor noch jemand etwas davon erfährt. Das war eine einmalige Sache. Die Verlobung ist jetzt sowieso hinfällig... genau wie der Rest von Umbar."
"Was kümmert uns das? Wir haben Lothíriel, und damit ist unser Auftrag erfüllt. Lass' uns mit Veantur sprechen und den Kurs ändern," schlug Valirë vor. "Wir sollten nach Dol Amroth, nicht zur Insel."
Valion streifte sich sein Obergewand über und schloss vorsichtig hinter sich die Tür. Glücklicherweise schien Lóminîth trotz all dem Lärm, den Valirë verursacht hatte, nicht erwacht zu sein.
"Ich schätze, für einen Kurskorrektur ist es zu spät," kommentierte er, als er einen Blick auf das Meer warf, denn im Südwesten war bereits die Silhouette des Turms von Tol Thelyn zu erkennen.
"Der war vorher noch nicht da," brummte Valirë missmutig. "Als ich dich wecken ging, war noch nicht einmal Land gesichtet worden."
"Das ist das Geheimnis dieses Schätzchens," warf Veantur stolz ein, der gerade um eine Ecke bog, und er tätschelte die Planken des Schiffes geradezu zärtlich. "Sie schafft es immer wieder, die Leute zu überraschen. Ihr hättet sehen sollen, wie sie die Korsarenschiffe in der Nacht abgehängt hat."
"Korsarenschiffe?" wiederholten die Zwillinge wie aus einem Mund.
"Tja, ja," sagte Veantur nickend. "Waren kaum am Leuchtturm von Kap Umbar vorbei, da kamen sie auch schon aus der Bucht gefahren: eine stattliche Flotte von Schwarzseglern, und allen voran eines ihrer großen Kriegsschiffe. Wenn mich nicht alles täuscht, war das eines der wenigen, die sie noch übrig haben. Muss wohl in den Schlachten bei Dol Amroth und Pelargir geschont worden sein. Das war schon ein ziemlich großer Kahn! Stärker, aber nicht schneller als diese Schönheit hier." Erneut strich er zärtlich über die Planken der Súlrohir. "In Sachen Geschwindigkeit und Wendigkeit macht ihr keiner was vor."
"Gut zu hören," sagte Valirë.
"Wir sollten diesmal im Hafen der Weißen Insel anlegen," schlug Valion vor. "Sie scheint noch immer verlassen zu sein."
"Aye!" bestätigte Veantur und gab seiner Mannschaft den entsprechenden Befehl.

Nicht einmal eine Stunde später stand Valion am Kai des kleinen Hafens von Tol Thelyn, der Platz für vier Schiffe von der Größe der Súlrohír bot. Zwei der vier Anlegeplätze waren sogar groß genug, um noch größeren Schiffen Platz zu bieten. Die Mannschaft vertäute das Schiff und begann, den Hafen zu inspizieren. Zwar waren hier, wie auf dem Rest der Insel, deutliche Spuren der Zerstörung zu sehen, doch das, was die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog war das zweite Schiff, das am anderen Ende des Hafens vertäut war. Es war etwas kleiner als die Súlrohir und hatte weiße Segel. Neugierig gingen die Zwillinge hinüber, die Waffen griffbereit, aber noch nicht gezogen.
"Guten Morgen!" begrüßte Valion die Gruppe von Menschen, die ihnen wachsam entgegentrat. Er konnte ungefähr zwanzig Männer und Frauen sehen, die auf und in der Nähe des Schiffs daran arbeiteten, Vorräte abzuladen. Sogar einige wenige Kinder waren zu sehen, die zwischen den zerstörten Lagerhäusern am Ufer spielten.
"Schickt Thorongil euch?" fragte der Anführer der Gruppe, ohne sich vorzustellen.
"Thorongil?" wiederholte Valirë. "Meint ihr Thorongil vom Turm?"
"Natürlich - wen sollten wir sonst meinen?" gab ihr Gegenüber verwundert und misstrauisch zurück."
"Wir kommen aus Gondor," erklärte Valion mit ruhiger Stimme. "Vor einigen Wochen trafen wir Thorongil hier auf der Insel, doch er war allein. Er erzählte uns, dass er auf der Suche nach seinem Volk sei. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei euch um die Überlebenden von Tol Thelyn handelt?"
Der Mann nickte und seine Miene hellte sich auf. "Er hat uns davon erzählt, als er uns fand," berichtete er. "Mein Name ist Hallatan, und dies sind alle, die auf meinem kleinen Schiff Platz fanden, als Sûladans Horden unsere Heimat zerstörten. Das zweite Schiff das entkam, die Rossigil, wurde von uns durch einen Sturm getrennt, der vor einiger Zeit über die Bucht von Belfalas fegte."
"Das muss in der Nacht gewesen sein, bevor wir den Ethir erreichten, Valion," erinnerte sich Valirë.
"Die Rossigil war das Flaggschiff der Turmherren," fuhr Hallatan fort. "Wir hoffen, dass die Menschen an Bord ebenfalls überlebt haben. Thorongil brach auf um sie zu suchen, nachdem er uns gefunden und zur Insel zurück geschickt hatte."
"Nun, dann besteht immer noch Hoffnung für sie," befand Valion. "Wir würden gerne hier auf Verbündete warten, wenn Ihr erlaubt," fuhr er fort.
Hallatan nickte. "Thorongil sagte bereits, dass ihr vermutlich bald zurückkehren würdet. Wie ist es euch in Umbar ergangen, wenn ihr mir die Frage gestattet?"
Valion fasste in einigen wenigen Sätzen die Erlebnisse zusammen und berichtete auch von Hasaels Rückkehr, von der Flucht aus der Stadt und wie sie von Edrahil getrennt worden waren. Als er geendet hatte nickte Hallatan verständnisvoll.
"Ich bin mir sicher, eure Freunde werden bald hier eintreffen. Hasael wird zunächst sicherlich alle Hände damit voll zu tun haben, wieder Ordnung in seiner Stadt zu schaffen. Er hätte gewiss nicht die Zeit, Schiffe loszuschicken, um -"
"Segel am Horizont!" rief jemand, der Ausguck hielt, und unterbrach Hallatan jäh. Alle Blicke wandten sich zum Meer, und Valion sah seine Befürchtungen erfüllt, als er erkannte, dass das gesichtete Segel schwarz wie die Nacht war.
"Verdammt," murmelte er. "Jetzt haben uns die Korsaren also doch noch gefunden."
Gefolgt von Valirë eilte er zurück zur Súlrohír, wo die Besatzung sich bereits für den Kampf vorbereitete.
"Diesmal laufen wir nicht weg," knurrte Veantur. "Sie mögen größer und stärker als wir sein, aber wir haben zwei Schiffe und sie nur eines. Anker lichten, Freunde! Zeigen wir denen, was wahre Seefahrer sind!"
Valion zog seine Waffen und seine Schwester tat es ihm gleich. Sie würden kämpfen, um Tol Thelyn zu verteidigen, und Lothíriel in Sicherheit zu bringen.
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 14:38 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #2 am: 14. Jan 2017, 01:41 »
Die Aglarbalak aus Umbar

Edrahil saß auf dem Deck der Aglarbalak mit dem Rücken an die Reling gelehnt und genoss die Morgensonne. An Land wäre es wahrscheinlich bereits heiß, doch hier auf See war die Sonne angenehm. Es erinnerte ihn daran, wie er früher mit seinem Vater zum Fischen gefahren war, auch dort hatte er den Frieden der frühen Morgenstunden auf See genossen. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht, und er sah Minûlîth vor sich stehen. "Wie es aussieht, haben wir die Korsaren abgehängt", sagte sie, klang dabei allerdings nicht wirklich glücklich. Zu Edrahils Überraschung ließ sie sich neben ihm auf den hölzernen Deckplanken nieder, zog die Beine an und schlang die Arme um ihre Knie. "Irgendein Zeichen von der Súlrohír?"
Edrahil schüttelte den Kopf. "Nein, aber das muss nichts heißen. Auf See verliert man einander leicht aus den Augen, erst recht in der Dunkelheit."
"Hm", machte Minûlîth, doch Edrahil konnte sehen, dass sie sich sorgte. "Mach dir keine Sorgen", sagte er, und blinzelte in der Sonne. "Ich bin mir sicher, dass sie entkommen sind. Nach allem was ich gehört habe, ist die Súlrohír ein sehr schnelles Schiff und Veantur ein äußerst fähiger Kapitän - womöglich sind sie bereits auf der Insel und erwarten uns."
Minûlîth machte ein Geräusch, das sich wie die Mischung aus einem Lachen und Schluchzen anhörte. "Du bist ein merkwürdiger Mann, Edrahil. Gestern hätte ich schwören können, dass du kein Herz hast - und wenn, dann eines aus Stein. Und heute findest du die richtigen Worte, um mich zu trösten."
"Gestern musste ich sicher gehen, dass getan wird was getan werden muss", erklärte Edrahil, und strich unbewusst über den Stumpf seines rechten Daumens. "Und falls es dich beruhigt, ich habe mich dabei nicht allzu gut gefühlt."
Diesmal war es eindeutig, das Minûlîth lachte, und sie strich sich eine vom Wind verwehte Haarsträhne aus der Stirn. "Das beruhigt mich tatsächlich ein wenig. Niemand auf unserer Seite sollte sich gut dabei fühlen, seine Freunde in Gefahr zu sehen und einfach nichts zu tun - selbst wenn es das Richtige ist." Ihre Blicke wanderten nach oben zum leicht erhöhten Achterdeck des Schiffes, auf dem Thorongil am Steuer stand, das Gesicht regungslos nach vorne gewandt.
Edrahil folgte ihrem Blick, und sagte: "Du hast dich in einen Mann verliebt, der ebenso dazu fähig ist, Herrin Minûlîth." Minûlîth lächelte, ohne den Blick von Thorongil abzuwenden. "Auch wenn es dich eigentlich nichts angeht, Meister Edrahil - das habe ich."
"Du solltest es ihm sagen", sagte Edrahil unvermittelt, doch Minûlîth schien sofort zu begreifen, worauf er hinauswollte. "Ich weiß nicht...", sagte sie unsicher. "Ich habe es so lange geheimgehalten, und jetzt..."
"Erst ist nicht mehr der Wanderer von einst", erwiderte Edrahil. "Sieh ihn dir an - er ist der Herr des Turmes. Valion hat mir von ihrer Begegnung erzählt, und auch, dass Thorongil das Erbe seines Vaters antreten will. Ein Sohn hält ihn nicht länger zurück, sondern ist..."
"... ein Erbe", schloss Minûlîth an seiner Statt, und Edrahil freute sich, dass sie begriffen hatte. "Ein Fürst braucht einen Erben...", sagte sie nachdenklich, und als sie weitersprach, glänzten ihre Augen. "... und eine Frau."
"Genau so ist es", meinte Edrahil, und klopfte ihr sanft auf die Schulter bevor er sich mühsam erhob. "Du solltest dir überlegen, wie genau du es ihm beibringst... und ich gehe ihn fragen, wie nah wir der Insel schon sind." Er zwinkerte Minûlîth zu, und humpelte in Richtung Achterdeck davon.

Oben angekommen stellte er sich neben Thorongil, und der Turmherr deutete nach Süden, wo eine grüne Insel zu sehen war. "Seht", sagte er. "Tol Thelyn, die Weiße Insel. Heimstätte der Turmherren... und meine Heimat." Sein Blick wanderte zu Minûlîth, die noch immer auf dem Unterdeck saß, und er fügte hinzu: "Jedenfalls eine davon."
"Sie würde euch heiraten, wisst ihr?", sagte Edrahil, und lächelte über die überraschte Miene Thorongils. "Meint ihr wirklich? Ich habe sie nie gefragt, ich war arm und im Exil, und nun dachte ich..."
"Dass es zu spät sein könnte? Das glaube ich nicht... aber herausfinden könnt ihr das nur, in dem ihr sie fragt", sagte Edrahil, und lächelte in sich hinein. Er fragte sich was geschehen würde, wenn Minûlîth und Thorongil sich gleichzeitig einen Heiratsantrag machten. Seine Fröhlichkeit schwand ein wenig, als er vor der Insel zwei Schiffe auftauchen sah, die auf sie zukamen. "Zuhause oder nicht, irgendjemand dort scheint uns nicht zu mögen."
Thorongil blickte nach oben und knurrte: "Diese verdammten schwarzen Segel... wenn ich andere hätte, hätte ich sie längst ausgetauscht. Sie müssen uns für Korsaren halten."
"Oder es ist eine Täuschung, und sie greifen uns tatsächlich an", erwiderte Edrahil, auch wenn der Gedanke schwer zu ertragen war. Er glaubte nämlich, an dem einen der Schiffe blaue Segel zu erkennen...
Thorongil warf ihm einen seltsamen Blick zu. "Ihr seit ein ziemlicher Schwarzseher, wisst ihr das?" Edrahil zuckte mit den Schultern. "Natürlich - deshalb lebe ich noch."
Der Kapitän seufzte, und rief dann mit hallender Stimme: "Alle Mann an die Waffen - wir könnten angegriffen werden."

Als sich die beiden Schiffe zu beiden Seiten der Aglarbalak näherten, stand Edrahil mit Minûlîth an der Tür, die auf die unteren Decks des Schiffes führte. Sie wären beide in einem Kampf nicht von nutzen, hatten sich allerdings gegen alle Bitten und Befehle Thorongils geweigert, sich bereits jetzt unter Deck zu begeben. Auf Deck hatten sich die gesamte Besatzung des Schiffes versammelt, die Waffen bereit, und schließlich stießen beide Angreifer seitlich an die Aglarbalak und klemmten sie zwischen sich ein. Da die Aglarbalak höher war als ihre Angreifer konnte Edrahil deren Decks von seiner Position aus nicht erkennen, doch er hörte eine männliche Stimme rufen: "Ergebt euch und legt eure Waffen nieder, sonst werden wir nicht einen einzigen von euch verschonen."
"Das kann doch nicht wahr sein...", stieß Edrahil hervor, und humpelte so schnell wie möglich in die Richtung, aus der die Stimme - eine sehr bekannte Stimme - gekommen war. Er beugte sich über die Reling, blickte auf die Súlrohír hinunter und knurrte: "Valion Cirgonion... und Valirë Cirgoniel. Ich hätte es mir denken können."
Edrahil konnte sehen, wie dem bis zu diesen Augenblick zuversichtlichen Valion vor seinen Augen die Kinnlade herunterfiel. Seine Schwester hingegen hob ihre Klinge und winkte Edrahil damit zu,
"Heda, Edrahil! Falls Ihr es nicht bemerkt habt - das ist ein Korsarenschiff, auf dem Ihr da mitfahrt!" rief sie übermütig zu ihm herüber.
Obwohl ihn die Erleichterung beim Anblick der Zwillinge wie ein Faustschlag getroffen hatte, verdrehte Edrahil die Augen. "Falls ihr es nicht bemerkt habt, ist dies ein freundliches Korsarenschiff." Er deutete nach oben zum Mast, wo er eine improvisierte kleine gelbe Flagge hatte anbringen lassen.
"Und darüberhinaus kein wirkliches Korsarenschiff", ergänzte Minûlîth, die neben ihm an die Reling geeilt war. "Sondern das Flaggschiff von Haus Minluzîr."
Von der anderen Seite des Schiffes war Thorongils Stimme zu hören: "Hallatan! Hat es einen Grund, dass ihr mich angreift?"
"Nun... wir dachten, ihr wärt Korsaren", wehte schwach die Antwort zu Edrahil hinüber, und Thorongil rief zurück: "Korsaren? Oh mein Freund, wir haben einiges zu besprechen sobald ich an Land bin..."
"Und wir ebenfalls", rief Edrahil zu den Zwillingen hinunter. Valions verdutzte Miene hatte sich noch kein Stück verändert, und so fügte Edrahil hinzu: "Also, Kapitän Veantur, wenn ihr unser Schiff freigeben möchtet... Jederzeit!"
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 14:46 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Das Erbe der Turmherren
« Antwort #3 am: 15. Jan 2017, 00:25 »
Ungefähr eine Stunde später fanden sie sich alle im Hinterhof eines der noch intakten Lagerhäuser am Hafen wieder. Jemand hatte hier einen kleinen Garten angelegt, der die Verwüstung der Insel unbeschadet überstanden hatte und von einer niedrigen Hecke umgeben war. Während die Besatzungen der drei Schiffe damit beschäftigt waren, die Boote sicher im Hafen zu vertäuen, gegen die Winde zu sichern und einiges an Vorräten auf- und abzuladen versammelten Edrahil und Thorongil ihre Verbündeten in dem kleinen Garten. Sie saßen rings um einen großen Holztisch und ließen Wasser und Wein herumgehen, den Veantur zur Feier des Tages gespendet hatte. Lóminîth, die seit der letzten Nacht geradezu anhänglich geworden war, saß auf Valions Schoß und hatte die Arme um seinen Hals geschlungen während sie Edrahils Bericht von dessen Flucht aus Umbar lauschte. Lothíriel und Valirë saßen daneben und tauschten wissende Blicke aus. Kapitän Veantur, Thorongil, Mínulîth, Bayyin und sogar der kleine Túor stellten sich die hölzerne Stühle rings um den Tisch auf, die Bayyin in einem kleinen Schuppen in einer der Ecken des Gartens entdeckt hatte, und schon bald hatte jeder einen Sitzplatz gefunden.
"Hasael hat einen neuen Anführer für seine Leibwache gefunden, aber ich muss sagen, an meinen guten Freund Aquan reicht der Bursche wirklich nicht heran," sagte Edrahil gerade.
"Nun, er hatte euch eine ziemlich gute Falle gestellt," warf Thorongil lächelnd ein. "Ihr habt Glück, dass ich zufällig gerade in der Gegend war."
"Ganz zufällig natürlich," kommentierte Minûlîth amüsiert.
"Natürlich," nickte Thorongil und strich sich durch den Bart. "Ich bin froh, dass ich mich dazu entschlossen habe, nach Umbar zu fahren nachdem ich Hallatan und seine Leute gefunden hatte," sagte er und wurde wieder ernst. "Dass die Besatzung des kleineren Schiffes überlebt hat macht mir Hoffnung darauf, dass es auch die Rossigil geschafft hat. Immerhin brachte sie einst Ciryatan und die Vorfahren der Thelynrim aus Westernis hierher. Wenn sie noch am Leben sind, werde ich sie finden."
"Das wirst du," bekräftigte Minûlîth. "Ich werde dir dabei helfen, so gut ich kann."
"Melíril," flüsterte Thorongil mit Wärme in der Stimme. "Das bedeutet mir sehr viel."
"Also," warf Lóminîth ein und alle Augen richteten sich auf sie. "Wann gebt ihr einander das Versprechen?"
Thorongil und Minûlîth sahen sich an. Der Erbe des Turms hatte nach jahrelanger Übung seine Gesichtszüge zu gut unter Kontrolle, doch die Wangen seiner Geliebten färbten sich in hellem Rot als sie verlegen zur Seite blickte. "Ich denke, die Zeit ist gekommen," sagte Thorongil und erhob sich von seinem Stuhl. Doch Minûlîth ergriff sein Handgelenk und hielt ihn zurück. "Warte, Beorn. Es gibt da etwas, das du wissen musst, ehe du das tust."
"Wovon sprichst du?" wunderte er sich. Die Gespräche am Tisch waren verstummt und alle bis auf Edrahil schienen gespannt den Atem anzuhalten.
"Túor," sprach Minûlîth den Jungen sanft an. "Komm bitte her zu mir."
"Ja, Mutter," antwortete der Siebenjährige und trat neben sie. Minûlîth legte ihm die Hände auf die Schultern und ihr Blick traf den Thorongils.
"...Mutter?" wiederholte dieser verständnislos. "Ich dachte..."
"Das war eine Lüge," gestand Minûlîth leise. Man konnte ihr ansehen, wie schwer es ihr fiel, diese Wahrheit auszusprechen. "Als Túor geboren wurde... warst du weit weg, auf einer Fahrt im tiefen Süden. Ich ... wollte dich nicht damit belasten."
Thorongil blickte schweigend zwischen seinem Sohn und seiner Geliebten hin und her, einen schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht. Ein langer Moment des Schweigens trat ein.
"Wie konntest du nur," sagte Thorongil tonlos.    
"Beorn, ich - " begann sie, doch er unterbrach sie mit einer Bewegung seiner Hand.
"Wie konntest du nur annehmen, ein solches Geschenk würde mich belasten?" rief er, doch in seiner Stimme lag pure Freude. "Ich habe einen Sohn!" Er legte seine kräftigen Arme um Túor und hob den Jungen hoch. "Ich habe einen Sohn! Einen Erben!"
Es war Lothíriel, die als erste reagierte. Anmutig erhob sich die Prinzessin und begann, zu klatschen. Einer nach dem anderen fielen sie mit ein. Thorongil setzte Túor auf seine Schulter und legte seinen anderen Arm um Minûlîths Schulter. "Wir sind eine Familie," erklärte er. "Wenn es der Herrin Minûlîth von Haus Minluzîr gefällt, meine Frau zu werden," fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.
"Und ob mir das gefällt," rief sie mit Tränen der Erleichterung in den Augen.
"Dann sei es. Ein Hoch auf Melíril und Túor vom Turm!" verkündete Thorongil, und der Applaus steigerte sich zu einem lauten Höhepunkt.

"Gut gemacht," flüsterte Valion seiner Verlobten zu, von deren beiläufiger Bemerkung die ganze Sache erst ausgegangen war.
"Ich habe so meine Momente," sagte Lóminîth mit einem kleinen, aber echten Lächeln. Der Wein machte die Runde am Tisch, und Veantur musste schon bald einen seiner Matrosen losschicken, um Nachschub vom Schiff zu holen.
"Ha ha! Ich hätte mir keinen besseren Ausgang für diesen Tag vorstellen können," lachte der Kapitän, der wie alle in Hochstimmung war. Sogar Edrahil hatte ein zufriedenes Lächeln im Gesicht.
"Nun, im Rahmen der Möglichkeiten haben wir uns wohl tatsächlich ganz gut geschlagen," sagte der Herr der Spione und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Edrahil," sagte Lothíriel streng. "Wenn wir das nächste Mal aus einer im Chaos versinkenden Stadt fliehen, bleibst du gefälligst an meiner Seite, und rennst nicht einfach davon, um den Helden zu spielen."
"Wie Ihr befehlt, Prinzessin," gab Edrahil zurück und deutete eine Verbeugung an.
Bayyin, der neben Valirë saß und immer wieder verstohlene Blicke auf sie warf, hatte während all dem Trubel tatsächlich eines der alten Bücher aus Hasaels Bibliothek vor sich aufgeschlagen. Valirë beugte sich neugierig über seine Schulter und las laut die Stelle vor, an der Bayyins Finger im Text gerade verharrte: "Die Geschichte von Fíriel Aeriell, dem Mädchen aus den Wellen. Schreiber, gibt es nicht etwas spannenderes, das wir zur Feier des Tages tun könnten?"
"Ich... nun ja..." war alles, was Bayyin herausbrachte, ehe Valirë ihn am Arm gepackt und in Richtung eines der kleineren Häuser davonzerrte.
Edrahil seufzte hörbar. "Unverbesserlich."
Valion hingegen konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. "Na kommt schon, Edrahil. Jeder hat seine Art um mit Erlebnissen wie diesen umzugehen."
"Bayyin hat Besseres zu tun als sich von deiner unmöglichen Schwester den Kopf verdrehen zu lassen," gab Edrahil zurück. "Er sagte, dass er eine wichtige Entdeckung gemacht hat. Ich wüsste gerne, worum es sich dabei handelt."
"Das hat doch noch ein wenig Zeit, oder nicht?" fragte Valion.
"Nun... ich schätze, ich kann ein paar Minuten länger warten," antwortete Edrahil ohne eine Miene zu verziehen.
"Hat er gerade..." fragte Valion seine Verlobte, da er nicht recht glauben konnte, dass Edrahil gerade einen Witz gemacht hatte - und schon gar nicht, diese Art von Witz.
"Hat er," bestätigte Lóminîth lachend.

"Wirst du den Turm wieder weiß färben?" fragte Túor seinen Vater, der den Blick auf das ferne Bauwerk gerichtet hatte und nachdenklich dreinblickte.
"Es würde eine deutliche Nachricht senden," sagte Minûlîth, die Thorongils Hand ergriffen hatte. "Die Turmherren sind immer noch hier, und sie kämpfen weiter."
"Als erstes muss ich Ciryatans Schiff finden," antwortete Thorongil. "Vorher ist nicht an einen Wiederaufbau zu denken. Noch sind es zu wenige Dúnedain, die wieder Fuß auf die Insel setzen."
"Wenn wir nach Dol Amroth zurückgekehrt sind, werde ich meinen Vater bitten, euch Unterstützung zu senden," versprach Lothíriel. "Wir fahren doch bald, nicht wahr?" fragte sie in Valions und Edrahils Gruppe.
"So bald wie möglich," bestätigte der Herr der Spione.
"Aber nicht heute," fügte Valion hinzu. "Heute genießen wir die wohlverdiente Pause."
"Wohlverdient,", schnaubte Edrahil, doch Valion sah ihm an, dass er nicht gerade unzufrieden mit dem Lauf der Dinge seit ihrer Flucht aus Umbar war.
Na immerhin, dachte er. Einige Dinge sind sind trotz des Rückschlages in der Hasael-Sache noch immer in Ordnung. Lóminîth ergriff seine Hand und begann, ihn zurück zum Schiff zu geleiten. Und einige sind... besser.
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #4 am: 15. Jan 2017, 02:25 »
Edrahil blickte Valion und Lóminîth hinterher, und schüttelte den Kopf. "Du wirkst nicht allzu glücklich", meinte Minûlîth, die ihm gegenüber saß. "Diese Verlobung war immerhin deine Idee."
"Tatsache", gab Edrahil kurz zurück. Er wusste, er sollte glücklich darüber sein, dass dieser Teil seiner Pläne so perfekt funktioniert hatte, und dennoch... er vertraute Minûlîth, nicht ihrer Schwester. Minûlîths Worte über Lóminîth hatte er nicht vergessen, und wer konnte schon wissen, was sich hinter ihrem Lächeln verbarg? Es war unwahrscheinlich, dass Lóminîth sich als Verräterin herausstellen würde, doch falls es so war, war sein Plan ein wenig zu gut gelungen. "Ich hoffe nur, dass Valion weiß, was er tut. Ein Bastard zur unrechten Zeit hat schon vielen Häusern Probleme bereitet."
"Keine Sorge", erwiderte Minûlîth mit einem geheimnisvollen Lächeln. "Wir Frauen haben unsere... Methoden."
"Die nicht immer erfolgreich sind", warf Thorongil ein, der neben Minûlîth saß und ihre Hand in seiner hielt, und deutete mit der freien Hand auf Túor. Sein Sohn stand einige Meter entfernt von ihnen, und unterhielt sich angeregt mit Hallatan und Kapitän Veantur. "Túor ist der beste Beweis dafür." Über Minûlîths Wangen zog sich eine zarte Röte, als sie antwortete: "Nun, ihr habt recht. Aber trotzdem finde ich, dass wir ihnen die Gelegenheit lassen sollten."
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auf See die ein oder andere Gelegenheit gefunden haben...", meinte Edrahil, ohne eine Miene zu verziehen, und Lóthiriel warf ihm einen tadelnden Blick zu. "Das war nun schon der zweite vollkommen untypische Witz in kurzer Zeit, Edrahil. Was ist los?"
"Vielleicht habe ich endlich den Humor gefunden, den viele so schmerzlich an mir vermisst zu haben scheinen", antwortete Edrahil. Dann blickte er in die Gesichter der drei anderen, und beschloss für einen Moment, die Maske fallen zu lassen - auch vor sich selbst. "Nein, es ist wie Valion gesagt hat. Jeder hat seine Art um mit Erlebnissen wie diesen umzugehen. Und was ich gesagt habe? Im Rahmen der Möglichkeiten haben wir uns wohl tatsächlich ganz gut geschlagen Das war eine Lüge, zumindest was mich betrifft. Ich bin gescheitert, und das schon zum zweiten Mal."
"Gescheitert?", fragte Lóthiriel ungläubig. "Edrahil, ohne deine Hilfe wäre ich vermutlich noch immer in Hasaels oder sogar schon in Suladâns Händen, Bayyin hätte nie gefunden was... auch immer er gefunden hat, und vermutlich wären wir alle nicht hier."
"Und wir hätten vermutlich noch ewig damit gewartet das zu tun, was wir heute erreicht haben", ergänzte Thorongil, und strich mit dem Daumen zärtlich über Minûlîths Handrücken, doch es besänftigte Edrahil nicht.
"Aber das alles war nicht meine Aufgabe." Beim letzten Wort hieb er mit der Faust auf den Tisch, lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, sagte er: "Verzeihung. Was ich sagen will ist dies: Lóthiriels Rettung war nicht meine Aufgabe, sondern Valions. Das Aufspüren dieser geheimnisvollen Informationen war Bayyins Aufgabe, und bei beidem habe ich lediglich geholfen. Meine Aufgabe hingegen... war Hasaels Sturz, und danach sieht es im Augenblick nicht wirklich aus, nicht wahr?" Er hörte selbst, wie bitter seine letzten Worte klangen, doch er kam nicht gegen das nagende Gefühl, versagt zu haben, an.
"Vielleicht nicht", sagte Thorongil langsam. "Aber wenn die Gerüchte stimmen, bereitet sein Neffe Qúsay einen Krieg gegen Suladân und Hasael vor." Edrahil und Lóthiriel wechselten einen Blick, dann nickte die Prinzessin. "Die Gerüchte stimmen."
"Nun, in diesem Fall hat Hasaels Sturz, so kurzlebig er auch gewesen war, Qúsay Zeit und einen Vorteil verschafft. Das mag das Zünglein an der Wage sein, das Qúsay am Ende den Sieg bringt - und wenn man es so betrachtet, habt ihr damit auch für Hasaels endgültigen Fall gesorgt."
"Ihr habt eine interessante Art, die Welt zu sehen", erwiderte Edrahil nachdenklich, und strich sich über das Kinn. Lóthiriel lachte leise. "Seht, da ist der Herr der Spione wieder."
"Mag sein...", meinte Edrahil, weiter in Gedanken versunken. Wenn er Hasael von Innen heraus nicht stürzen konnte... vielleicht sollte er es auf eine neue Art probieren, von außerhalb.
"Du wirst nicht mit nach Dol Amroth kommen, oder?", fragte die Prinzessin, und Edrahil schüttelte langsam den Kopf. "Nein, ich werde einige Zeit hierbleiben - wenn ihr erlaubt." Er blickte Thorongil fragend an, und der Herr des Turmes lächelte und drückte Minûlîths Hand. "Wir würden uns sehr darüber freuen."
Edrahil warf einen Blick auf das Buch, das aufgeschlagen auf Bayyins verwaistem Platz zurückgeblieben war, und seine Augen blieben an dem Namen hängen, den Valirë vorhin vorgelesen hatte. "Fíriel Aeriell... merkwürdig."
"Gar nicht so sehr", erwiderte Thorongil. "In Harad gibt es die ein oder andere Legende über sie, aber hier kennen wir die wahre Geschichte."
"Hm... wenn ich mich recht erinnere hatte einer der Fürsten von Dol Amroth eine uneheliche Tochter mit diesem Namen, die auf See verschollen ist." Als Herr der Spione hatte Edrahil sich einst einen Überblick über sämtliche ehelichen und unehelichen Abkömmlinge der Fürsten verschafft, denn man konnte nie wissen. Dieser Fíriel hatte er allerdings keine große Beachtung geschenkt, sondern diese Linie unter "erloschen" eingeordnet. "Fürst Húrin, glaube ich", ergänzte Lóthiriel, und Thorongil meinte: "Sehr richtig - wie es aussieht, hat sie meinen Vorfahren die Wahrheit erzählt."
"Wollt ihr damit sagen, dass es sich um die selbe Fíriel handelt?", fragte Edrahil, und der Turmherr nickte. "Allerdings. Sie erlitt einst während eines Sturmes hier auf der Insel Schiffbruch. Der Erbe des Turms, Barahir, nahm sie auf, pflegte sie gesund, verliebte sich in sie und nahm sie schließlich zur Frau. Was euch, verehrte Lóthiriel, zu meiner - wenn auch entfernten - Verwandten macht."
"Ha", machte Lóthiriel ungläubig. "Verwandte findet man offenbar an den ungewöhnlichsten Orten."
"Und Freunde ebenfalls", ergänzte Edrahil, und wechselte einen nachdenklichen Blick mit Minûlîth.

~~~~

Etwa eine Stunde war vergangen, als Valirë und Bayyin zurückkehrten. Während Bayyin etwas beschämt wirkte, benahm Valirë sich als wäre nichts geschehen und fragte unbeschwert: "Sind Valion und Lóminîth noch nicht zurück?"
"Nein - und damit sollte klar sein, wer die größere Ausdauer hat", erwiderte Lóthiriel, und schlug sofort entsetzt die Hände vor den Mund. "Oh, bei allen Sternen. Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe."
"Mehr Ausdauer, hm?", fragte Valirë, und warf Bayyin, der sofort errötete, einen anzüglichen Blick zu. "Vielleicht sollten wir..."
"Nicht nötig", hielt Edrahil sie zurück. "Allzu viel haben die beiden euch nicht voraus." Er deutete in Richtung der Schiffe, aus der Valion und Lóminîth sich näherten. Lóminîths Haar war zerzaust und Valions Kleidung saß ein wenig schief, doch beide wirkten äußerst zufrieden mit sich selbst. Edrahil verdrehte die Augen, und bedeutete allen vieren, sich zu setzen.
"Also", begann er. "Nach dem gewisse Personen ihre Bedürfnisse... befriedigen konnten, ist es allmählich an der Zeit zu erfahren, was du, Bayyin, in Umbar gefunden hast."
Der Schreiber räusperte sich, und legte die Hände vor sich flach auf den Tisch. "Ich habe in Hasaels Bibliothek einen Reisebericht gefunden - gut versteckt und verschlüsselt, doch inzwischen ist es mir gelungen ihn zu lesen. Es ist ein Bericht über die Reisen Arandirs vom Turm."
"Vom Turm?" Thorongil beugte sich interessiert vor. "Allerdings. Wir vermuten, dass es sich dabei um den jüngeren Sohn von Elendar, dem Erbauer des ersten Turmes auf Tol Thelyn, also... hier... handelt."
"Ihr scheint euch gut in unserer Geschichte auszukennen", sagte Thorongil, doch Edrahil griff ein, bevor Bayyin ihm die Überraschung verderben konnte: "Später. Zuerst mehr von diesem Bericht."
"Nun, ja. Arandir beschreibt darin sehr detailliert einen Pass in der Südkette des Schattengebirges - einen Pass nach Mordor, den Sauron nicht kennt", berichtete Bayyin, was ungläubige Gesichter rings um den Tisch hervorrief.
"So etwas kann es nicht geben", meinte Minûlîth. "Der Dunkle Herrscher hat Jahrtausende über Mordor geherrscht, und wird dort jeden Winkel und jede Felsspalte kennen."
"Ich stimme Melíril zu", sagte Thorongil. "Daran ist nur schwer zu glauben."
"Das ist wahr." Edrahil blickte nachdenklich gen Himmel, bevor er Bayyin in die Augen sah. "Glaubst du, dass es wahr ist?", fragte er, und der Schreiber schien einen Augenblick nachzudenken. Dann antwortete er: "Ich weiß nicht, ob dieser Weg noch existiert, oder ob er den Dienern des Dunklen Turms noch immer verborgen ist... aber ja. Ich glaube, dass Arandir die Wahrheit geschrieben hat."
"Und selbst wenn... Was sollten wir damit anfangen?", warf Valirë ungehalten ein. "Es wird mit Sicherheit kein Weg sein, auf dem wir ein großes Heer nach Mordor schicken könnten - wenn wir denn eines hätten."
"Sehr richtig, wir haben keines. Und gerade deshalb wäre ein geheimer Weg in das Schwarze Land für uns von Nutzen", erwiderte Edrahil. "Wir könnten die Heer des Feindes ausspionieren, seine Nachschublinie durchbrechen..."
"Und wir könnten noch etwas tun", sagte Lóthiriel leise, doch in einem Tonfall der alle Anwesenden aufhorchen ließ. "In Mordor wird Aragorn gefangen gehalten, der König von Gondor. Mit seinem Leben erpresst Sauron einen Waffenstillstand vom freien Gondor, während er im Norden gegen andere Gegner kämpft."
"Nur um uns zu vernichten, wenn er sie besiegt hat", sagte Edrahil langsam. Allmählich begann vieles Sinn zu ergeben, und er begriff, welches Geschenk Bayyin ihnen gemacht haben könnte. "Und mit diesem Wissen könnten wir ihn befreien." Lóthiriels Augen glitzerten, und Edrahil hatte seine Prinzessin noch nie zuvor derart kämpferisch gesehen.
"Nur - wer sollte das tun?", fragte Thorongil. "Ich würde selbst gehen, aber... ich kann nicht." Sein Blick schweifte vom Turm über Minûlîth zu Túor, und Edrahil nickte. "Nein, ich verstehe. Aber es gibt jemand anderen, der eine ähnliche Ausbildung genossen hat wie ihr, und es tun könnte."
Er wechselte einen Blick mit Bayyin, der bestätigend nickte. "Ich denke, es ist an der Zeit euch zu verraten, dass ihr und Túor nicht die letzten Überlebenden, aus dem Haus der Turmherren seid", fuhr Edrahil fort.
"Nicht... die letzten?" Thorongil blinzelte mehrmals rasch hintereinander. "Sagt es mir, Edrahil. Wer hat überlebt?"
"Die Tochter eurer Schwester." Es war Bayyin, der antwortete. "Narissa. Ich entkam mit ihr gemeinsam von hier, als Suladâns Truppen angriffen, und gelangte schließlich mit ihr nach Umbar, wo wir Edrahil trafen. Sie ist mir... eine gute Freundin."  Er warf Valirë einen nervösen Seitenblick zu, und errötete erneut ein wenig.
"Narissa..." Thorongil sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umkippte. "Herlennas Tochter. Und sie lebt?"
"Allerdings", sagte Edrahil lächelnd. "Wenn alles gut gegangen ist, ist sie sogar in Sicherheit in Aín Sefra. Ich habe sie dorthin geschickt, um Qúsays Motive zu ergründen."
"Das ist die beste Nachricht, die ich gehört habe seit..." Thorongil sah Minûlîth an. "Nun, eigentlich seit vorhin." Er wandte sich wieder Edrahil zu, und sein Gesicht wurde wieder ernst. "Ihr würdet sie nach Mordor schicken? Mitten in das Land des Feindes."
"Ja", erwiderte Edrahil, und blickte dem Turmherren fest in die Augen. "Wenn es die einzige Möglichkeit ist und sie dazu bereit ist, würde ich es tun."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Abschied von der Insel
« Antwort #5 am: 15. Jan 2017, 22:54 »
Die Súlrohír lag mit gerefften Segeln im Hafen der Insel und wartete geduldig darauf, dass sich ihre Besatzung an Bord begab. Am Kai hatte sich eine kleine Menschenmenge eingefunden um die Abreisenden zu verabschieden, und nicht jedem fiel dieser Abschied leicht.
"Vater, ich will nicht, dass Lómi weggeht," schniefte der kleine Túor, der wieder auf Thorongils Schulter saß und seiner Tante traurig zuwinkte.
"Keine Sorge, mein Sohn," sagte Thorongil gut gelaunt. "Für dich würde es keinen Unterschied machen. Wir gehen mit deiner Mutter und Meister Edrahil auf eine Reise und suchen die Rossigil, in der Zeit würdest du Lóminîth sowieso nicht sehen können. Und wenn Ciryatans Schiff gefunden und der Turm wieder instand gesetzt ist fahren wir beide nach Dol Amroth und besuchen deine Tante."
"Versprichst du es?" forderte Túor.
"Ich verspreche es dir," bekräftigte Thorongil.
Lóminîth stand ihrer Schwester gegenüber und hatte beide von Minûlîths Händen mit ihren eigenen ergriffen. Valion wusste, dass die beiden Minluzîri-Schwestern bisher nur selten getrennt gewesen waren und dass der Augenblick des Abschiedes, nun da der tatsächlich gekommen war, ihnen schwerer fiel als sie erwartet oder gedacht hatten. Also gab er ihnen die Zeit, die sie benötigten und machte sich auf die Suche nach Edrahil.

Er musste sich nicht lange umsehen. Der Herr der Spione stand an der Spitze des Kais und blickte nachdenklich auf das ruhig vor ihm liegende tiefblaue Meer hinaus. Valion trat schweigend neben den älteren Mann und folgte seinem Blick, der nach Norden in Richtung Dol Amroths gerichtet war. Valion blieb noch einen Augenblick länger still, dann sagte er leise: "Ihr könnt noch immer mit uns gehen, Edrahil."
"Mein Platz ist fürs Erste hier," antwortete Edrahil, doch in seiner Stimme lag nicht die übliche Festigkeit.
"Ihr gebt Euch noch immer die Schuld für Hasaels Rückkehr," stellte Valion fest.
Edrahil wandte sich ihm zu, einen Anflug von Zorn im Gesicht. "Wem soll ich sie sonst geben? Dir etwa? Nein, Valion, dass Umbar nun wieder in Hasaels Hand ist ist allein meinem Versagen zuzuschreiben."
"Ihr seid nicht immer für alles verantwortlich," versuchte es Valion erneut. "Jemand anderes hätte daran denken können, Hasael zu Pferde verfolgen zu lassen."
Statt einer Antwort kniff Edrahil die Augen zusammen und starrte wieder aufs Meer hinaus.
"Er braucht jetzt Zeit für sich," sagte Minûlîth, die leise an Valion herangetreten war und ihn sanft von Edrahil wegführte. Doch plötzlich wandte dieser sich um und packte Valion fest am Arm. "Du bringst Lothíriel sicher nach Hause, hast du verstanden?" knurrte er. "Und wenn sie wohlbehalten in Dol Amroth angekommen ist schickst du mir sofort eine Nachricht - lass dir vom Amrodin einen Botenvogel geben. Habe ich dein Wort, Valion vom Ethir?"
"Ich habe verstanden, Meister Edrahil. Mein Wort habt Ihr selbstverständlich," antwortete Valion und hielt Edrahils stechendem Blick stand. Dieser nickte einigermaßen zufrieden und zog einen versiegelten Brief hervor. "Hier, nimm. Nicht vor eurer Ankunft in Dol Amroth öffnen," schärfte er Valion ein. Dann wandte er sich wieder ab.

Nachdenklich folgte Valion Minûlîth zurück zu der Rampe, die die Súlrohír mit dem Festland Tol Thelyns verband. Dort wurde er Zeuge einer eindeutig für beide Seiten merkwürdigen Umarmung zwischen Bayyin und Valirë. "Wir sehen uns," sagte Valirë und ging an Bord des Schiffes. Oben angekommen lehnte sie sich über die Reling und Valion konnte deutlich sehen, wie ihr Blick an der einsamen Gestalt Edrahils hängenblieb. Bayyin hingegen blieb noch einige Augenblicke etwas ratlos an Ort und Stelle stehen und kratzte sich verlegen am Kopf.
"Mach dir nichts draus," sagte Valion freundschaftlich und klopfte dem Schreiber aufmunternd auf die Schulter. "Du bist wahrlich nicht der Erste."
"Der Erste... worin?" fragte Bayyin verständnislos.
Doch Valion nur leicht den Kopf schief, lächelte, und der Schreiber blickte verlegen zur Seite als er verstand. Dann warf er einen letzten Blick auf Valirë und marschierte dann in Richtung der Lagerhäuser davon.

Lothíriel, die bei Thorongil und Minûlîth stand, verabschiedete sich von dem frisch verbundenen Paar. "Ich halte meine Versprechen," sagte die Prinzessin als Valion herankam. "Ich werde mit meinem Vater sprechen und ihn darum bitte, Vorräte und Arbeiter hierher zu entsenden, sobald er sie entbehren kann. Ich weiß, dass dies niemals vergelten kann, dass Tol Thelyn von Gondor vergessen wurde, aber..."
"Ihr seid äußerst freundlich," unterbrach Thorongil Lothíriel sanft. "Wir sind dankbar für jegliche Hilfe. Und ich verstehe, wenn man in Dol Amroth zuerst an Gondor denkt. Wenn Gondor fällt, wird sich auch Tol Thelyn nicht lange vor dem Schatten verbergen können."
"Ich wünsche Euch eine angenehme Reise," sagte Minûlîth lächelnd und umarmte Lothíriel freundschaftlich. "Richtet Eurem Vater die besten Grüße von mir aus."
"Das werde ich," versprach die Prinzessin.
"Du hast schon als Kind immer länger als alle anderen zum Aufbrechen gebraucht," kommentierte Valion mit einem schiefen Grinsen, was ihm einen bösen Blick von Lothíriel einbrachte.
"Zeig etwas Respekt, Valion vom Ethir," gab sie mit fester Stimme zurück. "Ich bin die Prinzessin von Dol Amroth."
"Ja, genau das hast du früher schon gesagt," erwiderte Valion ungerührt. "Das hat dir beim "Braten-Vorfall" trotzdem nichts genutzt."
Das brachte Lothíriel dazu, in herzliches Gelächter auszubrechen. "Oh, ich erinnere mich noch genau an Edrahils Gesicht als er das Schlamassel sah, das ihr und Erchirion angerichtet hattet," prustete sie.
"Einen ähnlichen Blick hat er jetzt auch wieder drauf," verriet Valion ihr. "Er hat miese Laune. Vielleicht könntest du ein Wörtchen mit ihm reden, ehe wir gehen?" Valion ertappte sich dabei, dass es ihm tatsächlich nicht egal war, wie es Edrahil ging. Zuviel hatten sie in Umbar gemeinsam durchgestanden. Und wenn es jemand schaffen konnte, den alten Spion wieder etwas aufzumuntern, dann war es Lothíriel. Sie nickte und marschierte im Eilschritt zum Ende des Kais hinüber, und ihr hellblaues Kleid flatterte im Wind hinter ihr.

In der Zwischenzeit verabschiedete sich Valion vom den neuen Herren der Insel. "Melíril vom Turm, ich wünsche Euch und Eurer Familie nichts als das Beste für die Zukunft," sagte er und machte eine etwas übertriebene Verbeugung vor Minûlîth.
"Du darfst mich auch weiterhin Minûlîth nennen, Witzbold," gab die Adelige lächelnd zurück. "Bitte pass auf dich auf, Valion," fügte sie etwas ernster hinzu. "Auf dich und deine Schwester, hörst du?"
"Oh, Ihr wisst genau, dass Valirë gut auf sich selbst aufpassen kann," sagte er lächelnd. "Eher müsste ich Veantur und seine Seeleute vor ihr bewahren, wenn sie es schaffen, meine Schwester zu verärgern."
"Sieh zumindest zu, dass sie das Kleid findet, dass ich ihr zu ihrem Gepäck gelegt habe," fuhr Minûlîth fort. "Es ist das gleiche, das sie damals getragen hat als ihr beiden für zwei Tage Unterschlupf bei mir gesucht habt."
"Ich werde mein Bestes geben," versprach Valion.
Thorongil legte Valion die breite Hand auf die Schulter und lächelte freundlich. "Wir kennen uns erst kurz, aber du erinnerst mich an mich selbst, als ich deinem Alter war, mein Junge. Lass mich dir einen Rat geben: Fasse dir ein Herz und stelle die entscheidende Frage, wenn dir die Frau deines Herzens über den Weg läuft. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich und warte viel zu lange!"
Das brachte Minûlîth zum Lachen. "Beorn, vergisst du da nicht etwas?" Sie deutete auf ihre Schwester, die gerade zu ihnen herüber kam.
"Oh," machte Thorongil. "Nun - noch seid ihr beiden ja nur verlobt, nicht wahr?"
"Das sind wir," bestätigte Lóminîth. "Aber wir werden schon bald heiraten."
"Werden wir?" wunderte sich Valion, der zum ersten Mal davon hörte.
"Und ihr seid selbstverständlich eingeladen," fuhr Lóminîth unbeirrt fort ohne auf Valions Protest einzugehen. "Wir werden sogar Meister Edrahil einladen."
"Augenblick mal!" wagte Valion zu widersprechen, doch seine Verlobte brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen.
"Schätze mal ihr beiden werdet schon miteinander auskommen," lachte Thorongil. "Jetzt seht zu, dass ihr aufbrecht, ehe der günstige Wind vergeht! Der gute Veantur hat schon mindestens fünfmal zu euch herübergewunken. Lasst den Mann nicht warten!"
Minûlîth schloss ihre Schwester in eine letzte Umarmung. "Wir sehen uns bald, kâli," sagte die neue Herrin von Tol Thelyn leise. "Ich komme dich mit Túor und Thorongil in Dol Amroth besuchen, nachdem wir die Rossigil gefunden haben.
"Viel Erfolg bei der Suche," wünschte Valion.

Am Zugang zur Súlrohir fanden sie Edrahil vor, dessen Miene nun wieder so ausdruckslos wie eh und je war. Einer nach dem anderen gingen die Aufbrechenden an Bord des schlanken Schiffes, bis Valion als letzter noch an Land stand. Ehe er das Schiff betrat, beugte er sich leicht zu Edrahil hinüber und sagte leise: "Ich hoffe, nach allem was ich getan habe, habt Ihr mir den Braten-Vorfall allmählich vergeben?"
Sofort zogen sich Edrahils Augen missgelaunt zusammen. "Du warst das also. All die Jahre... ich hätte es mir denken können."
"Leinen los, ehe er dich sein Messer kosten lässt!" rief Minûlîth und brach in herzliches Gelächter aus. Und Valion hörte auf ihren Rat.
Die Súlrohír setzte sich in Bewegung und brach unter besten Wünschen der Thelynrim in die Heimat auf.


Lothíriel, Valirë, Veantur, Lóminîth und Valion mit der Súlrohír zur Bucht von Belfalas
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 15:04 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #6 am: 16. Jan 2017, 19:34 »
Edrahil blickte der Súlrohír nachdenklich hinterher, während das Schiff mit den blauen Segeln allmählich am nördlichen Horizont verschwand. So sehr er sich auch geärgert hatte, als er die Zwillinge in Umbar gesehen hatte, jetzt wo sie unwiederruflich nach Gondor zurückkehrten, fühlte er sich seltsam - beinahe, als hätte er seine rechte Hand verloren. Nun, vielleicht einen Finger der rechten Hand. Er dachte kurz an Valirës schelmisches Lächeln und schüttelte den Kopf. Es war wirklich besser so.
"Du wirst sie vermissen", stellte Minûlîth fest, die leise neben ihn getreten war. "Ich?" Edrahil schnaubte belustigt. "Vermutlich eher nicht."
Minûlîth zog skeptisch eine schmale Augenbraue in die Höhe, sagte aber: "Ganz wie du meinst." Nach einem Augenblick des Schweigens fragte sie: "Was ist der Braten-Vorfall?"
Unwillkürlich musste Edrahil lächeln. "Nun, das geschah vor einigen Jahren, als die Zwillinge und die jüngeren Söhne des Fürsten noch Kinder waren. Eines Tages vor einem Bankett mit einigen wichtigen Adligen aus Belfalas..." Er unterbrach sich, und schüttelte den Kopf. "Nein, ich denke nicht. Manche Geheimnisse können ruhig geheim bleiben."
"Das ist ungerecht!", protestierte Minûlîth, und Edrahil fiel nicht zum ersten Mal auf, wie viel gelöster sie in Thorongils Anwesenheit wirkte als noch in Umbar. "Ich bin mir sicher, alle in Dol Amroth wissen darüber Bescheid."
"Ziemlich sicher", bestätigte Edrahil, und verzog das Gesicht. "Mir wäre es anders lieber, schließlich stand ich dabei nicht unbedingt als Meisterspion da."
"Kaum vorstellbar", stichelte Minûlîth. Edrahil wandte sich vom Meer ab, und begann mit ihr gemeinsam zurück zu Thorongil zu gehen, der sich leise mit seinem Sohn unterhielt. Túor sah sich dabei mit leuchtenden Augen an, und schien zumindest jetzt kein Problem damit zu haben, seine Heimat in Umbar durch diese zu ersetzen.
"Und leider doch wahr", meinte Edrahil. "Doch genug von Braten, wir haben einiges anderes zu tun."
"Allerdings", sagte Thorongil, der sein Gespräch mit Túor unterbrochen hatte, und seinen Sohn nun auf der kräftigen Schulter trug. "Ich habe einen meiner Männer ausgesucht um in Aín Sefra nach meiner Nichte zu suchen - oder ihrer Spur zu folgen, falls sie nicht mehr dort ist. Er heißt Hares und ist haradischer Abstammung, was ihm helfen dürfte nicht aufzufallen."
"Gehörte er zu denen, die Suladâns Männern entkamen?", fragte Edrahil, und Thorongil durchschaute ihn mühelos. "Er ist mit Sicherheit kein Verräter, falls ihr darauf hinauswollt. Er war auf Befehl meines Vaters seit mehreren Jahren in Ain Salah stationiert, wo ich ihn aufgespürt habe, nachdem ich von dem Angriff hörte."
"Dann will ich eurer Einschätzung vertrauen", erwiderte Edrahil. Zwar war Thorongil eindeutig kein so misstrauischer Mann wie er selbst, doch Edrahil glaubte nicht, dass ihm ein Verräter in den eigenen Reihen entgehen würde. "Wann wird er aufbrechen?"
"Sobald er bereit ist, vermutlich heute abend - Hares reist gerne bei Nacht."

"Widmen wir uns dem zweiten Ziel: Der Suche nach eurem Schiff."
"Meinem Schiff!", sagte Túor von der Schulter seines Vaters herunter, der ihm einen leichten Klaps versetzte und ihn auf die Füße stellte. "Nicht, solange ich lebe", meinte Thorongil, und Minûlîth fügte hinzu: "Was hoffentlich noch sehr lange sein wird."
"Ich zähle darauf", murmelte Thorongil, während er sie in seine Arme zog und ihre Schläfe küsste.
Edrahil räusperte sich hörbar. "Ihr seid beinahe so schlimm wie Valion und Lóminîth", sagte er tadelnd. "Wie habt ihr bereits nach der Rossigil gesucht?"
"Ich habe so viele Männer ausgeschickt wie ich gewagt habe und entbehren konnte", erklärte Thorongil, den Edrahils Tadel kein bisschen berührt zu haben schien. "Hallatan hat mit seinem Schiff die Küste zwischen hier und Umbar abgesucht, und andere haben sich in den Dörfern an der Küste umgehört, doch bislang vergebens. Nur hier und da gab es Gerüchte über ein großes Schiff in einem Sturm, aber alles führte in eine Sackgasse."
"Klingt, als hättet ihr viele Informationen, aber nicht genug Zeit um damit etwas anzufangen", sagte Edrahil langsam, und strich sich über das Kinn. "Ich könnte euch dabei behilflich sein - die richtige Information aus einem Berg von Gerede zu finden ist gewissermaßen meine Spezialität."
"Ich nehme eure Hilfe gerne an, damit ich mich dem Wiederaufbau widmen kann", erwiderte Thorongil, und streckte Edrahil die Hand entgegen. Als Edrahil die Hand ergriff, fragte Minûlîth leise: "Aber warum?"
"Weil ich eine Pause brauche", antwortete Edrahil offen. "Doch wenn ich nichts zu tun habe, werde ich verrückt, und die Suche nach einem verschwundenen Schiff ist in diesem Fall genau das richtige. Und außerdem... helfe ich meinen Freunden gerne."

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #7 am: 28. Jan 2017, 11:35 »
Edrahil legte den Bericht beiseite, den er gerade gelesen hatte, und machte eine weitere Markierung auf der Karte, die die ganze Westküste von Harad darstellte - von Umbar im Norden bis über die große Gebirgskette im Süden hinaus.  In den vergangenen Tagen hatte er viele Berichte gelesen, die Thorongils Leute auf ihrer Suche nach der Rossigil gesammelt hatten, und einige Markierungen auf der Karte gemacht, wo angeblich ein großes Schiff númenorischer Bauart gesichtet worden war, und wann.
Zwei der Markierungen lagen in der Nähe alter Verstecke der Turmherren, die auf der Karte eingezeichnet waren, und Edrahil vermutete, dass die Besatzung des Schiffes sich dort jeweils einige Zeit versteckt gehalten hatte. Aber das Schiff war nicht mehr dort, sondern hatte nach den Berichten der Küstenstämme seine Irrfahrt entlang der Küste fortgesetzt. Eine Irrfahrt, die schwer zu rekonstruieren war, da in diesen Berichten zu Edrahils Ärger meistens präzise Zeitangaben fehlten, wann das Schiff gesehen worden war. Dennoch, inzwischen glaubte er herausgefunden zu haben, wohin die Rossigil zuletzt gefahren war, und sich vermutlich vor sehr kurzer Zeit noch aufgehalten hatte.

Ein wenig mühsam erhob er sich hinter dem Schreibtisch des kleinen Hauses, das Thorongil ihm für die Dauer seines Aufenthalts zur Verfügung geschickt hatte, und trat aus der Tür hinaus auf den sonnendurchfluteten kleinen Platz, um den sich die meisten Häuser der kleinen Siedlung gruppierten. Thorongil hatte eines der leerstehenden Häuser bezogen, solange die Arbeiten am Turm nicht vollendet waren. Edrahil blickte nach Norden, wo sich der Turm wie eine Säule aus der grünen Landschaft erhob. Inzwischen waren Teile des Gebäudes vom Ruß gesäubert worden und erstrahlten wieder in einem reinen Weiß, und auch die Arbeit an den teilweise eingestürzten oberen Stockwerken schien gut voranzugehen.
Auf seinem Weg begegnete ihm Hallatan, der Kapitän des einen Schiffes, das den Turmherren - die Aglarbalak nicht mitgezählt - geblieben war, und grüßte ihn freundlich. Edrahil erwiderte den Gruß, und fügte hinzu: "Wenn ich richtig liege, könnt ihr bald auf eine größere Reise gehen..." Ein Lächeln breitete sich auf Hallatans Gesicht aus, während er stehen blieb und die Hände in die Seiten stützte. "Ihr habt sie gefunden", sagte er, doch Edrahil hob abwehrend beide Hände und erwiderte: "Ich habe herausgefunden, wo die Rossigil vielleicht vor kurzer Zeit gewesen sein könnte. Das heißt nicht, dass sie noch dort ist, und ich könnte mich irren."
"Und selbst wenn", gab Hallatan zurück, und deutete mit einer ausschweifenden Bewegung über die kleine Siedlung, den reparierten Hafen und den Turm. "Durch eure Hilfe konnte Thorongil sich ganz darauf konzentrieren, unsere Heimat wieder aufzubauen. Ganz gleich ob ihr das Schiff tatsächlich gefunden habt oder nicht, wir sind euch zu Dank verpflichtet."
"Seht es als Bezahlung für meine Aufnahme hier an", meinte Edrahil während er dem Kapitän auf die Schulter klopfte und weiter ging.

Als er Thorongils Haus erreichte, hörte er durch das offene Fenster eine ihm bekannte weibliche Stimme sagen: "Ich bringe eine Botschaft von einem der euch wohlgesonnen ist." Edrahil betrat den Flur durch die Tür, die vermutlich Túor offen stehen gelassen hatte, und legte die Hand auf den Griff der Tür zu Thorongils Arbeitszimmer. "Und Warnung bringe ich ebenfalls", fuhr die weibliche Stimme fort, und Thorongils Stimme antwortete: "Ich werde euch gerne anhören - wenn ihr mir zuerst euren Namen verratet." Nach einem Moment der Stille erwiderte die Frau: "Ich bin..."
"Ta-er as-Safar", beendete Edrahil den Satz für sie, während er die Tür aufzog und in den Raum trat. Ta-er fuhr herum, und ihre Augen weiteten sich einen winzigen Augenblick vor Überraschung, bevor sie ihr Gesicht wieder völlig unter Kontrolle hatte.
"Edrahil", sagte sie. "Ihr seid also aus Umbar entkommen."
"Mit der nicht unbeträchtlichen Hilfe des Mannes, vor dem ihr steht." Edrahil nickte in Thorongils Richtung, der hinter seinem Schreibtisch, die Hände auf die Tischplatte gestützt, stand, und die beiden aufmerksam beobachtete.
"Ihr seid also jene Ta-er", sagte er schließlich. "Die meinen Plan zu Hasaëls Ermordung gewaltig ins Wanken gebracht hat", ergänzte Edrahil, und ein Anflug der Verärgerung huschte über ihr Gesicht. "Ihr seid nicht der einzige in Umbar mit Plänen gewesen, und falls es euch besänftigt - ich wusste von eurem Plan ebenso wenig wie ihr von meinem. Wir sind uns nicht mit Absicht in die Quere gekommen."
"Was geschehen ist, ist geschehen", meinte Edrahil darauf. "Und ich bin auch nicht daran interessiert, jemandem die Schuld dafür zu suchen - und wenn, würde ich eher in Salemes Richtung blicken. Was mich viel mehr interessiert, ist der Grund für eure Anwesenheit hier."
"Das würde mich auch interessieren", warf Thorongil ein, der dem Austausch aufmerksam gelauscht hatte. "Ihr habt unsere Wachtposten an der Küste gefunden, und verlangt, dass man euch zu mir bringt - nun, hier seid ihr."
"Wie ich bereits sagte, komme ich mit einer Botschaft zu euch - und mit einer Warnung", begann Ta-er, und warf Edrahil einen Seitenblick zu. Als dieser keine Anstalten machte, zu gehen, und Thorongil ihn nicht aus dem Raum schickte, fuhr sie fort: "Wie Edrahil bereits weiß, gehöre ich dem Silbernen Bogen an, einer Gruppe, die an Frieden und Ordnung in ganz Harad interessiert ist - ganz ähnlich wie ihr."
"Das war vor Suladâns Angriff", erwiderte Thorongil. "Im Augenblick sind wir nur mit dem Wiederaufbau beschäftigt."
Ta-er trat einen Schritt an den Tisch heran. "Und danach?", fragte sie. "Was werdet ihr dann tun?"
In Thorongils Gesicht zuckte ein einzelner Muskel, doch er antwortete ohne Zögern: "Was wir immer getan haben. Mein Vater ist dafür gestorben, meine Schwester ist dafür gestorben, und meine Nichte musste dafür aus ihrer Heimat fliehen."
"Ich weiß wo sie ist", sagte Ta-er unvermittelt. Edrahil richtete sich ruckartig aus seiner an die Wand gelehnten Position auf und ließ sie bislang vor der Brust verschränkten Arme sinken. Das war interessant.
Auch Thorongil hatte sich abrupt aufgerichtet. "Ihr habt Narissa gesehen?"
"Allerdings. Im Augenblick ist sie in der Festung des Silbernen Bogens, in Sicherheit. Und bevor ihr fragt: Ja, sie ist freiwillig dort."
Thorongil warf Edrahil einen Blick zu, der lächelte und sagte: "Anscheinend haben wir den armen Hares umsonst auf die Suche geschickt."
"Das ist die Botschaft, die mir aufgetragen wurde zu überbringen, falls die Insel bewohnt ist", fuhr Ta-er fort. "Doch jetzt, wo ich sie gesehen habe, sollten wir vielleicht etwas weitergehen. Ich schlage vor, dass wir uns..."
"... verbünden?", beendete Thorongil den Satz fragend, und begann nachdenklich hinter seinem Schreibtisch hin und her zu gehen. Als sein Blick Edrahil streifte, nickte dieser langsam. Nach dem, was er in Umbar von Ta-er gesehen hatte, waren die Mitglieder des Silbernen Bogens äußerst fähige Kämpfer und Spione, und schienen ähnliche Absichten wie er und Thorongil zu haben. Er sah es zumindest als lohnenswert an, über ein Bündnis zu sprechen.
Schließlich blieb Thorongil stehen, und sagte: "Also gut. In Angesicht dessen, was ihr in Umbar getan habt, und der Tatsache, dass sich meine Nichte bei euch befindet, werde ich eine Zusammenarbeit in Betracht ziehen. Allerdings... würde ich zuvor gerne mit eurem Anführer sprechen. Herausfinden, was wirklich eure Ziele sind. Denn, verzeiht wenn ich das sage, in diesen Zeiten fällt es schwer, einfach so zu vertrauen."
Ta-er neigte zustimmend den Kopf. "Ich bin nicht beleidigt, denn ihr habt recht - erst Recht seit Salemes Verrat."
Edrahil war erleichtert. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, Thorongil könnte einem Bündnis einfach so zustimmen, doch der Herr des Turmes war ebenso geschickt wie Edrahil gehofft hatte.
"Ich werde diese Botschaft überbringen", sprach Ta-er weiter. "Doch mein Besuch hat einen weiteren Zweck: Eine Warnung. Der Silberne Bogen ist nicht der einzige, der von der Rückkehr der Turmherren in ihre Heimat Gerüchte gehört hat. Wir haben erfahren, dass auch andere davon wissen könnten - Andere, die euch nicht wohlgesonnen sind."
Thorongils Gesicht verdüsterte sich bei diesen Worten. "Ich hatte gehofft, ein wenig länger verborgen zu bleiben. Sei es wie es sei, ich danke euch für die Warnung. Kehrt schnell zu euren Leuten zurück, denn vielleicht würde ein Bündnis uns helfen, diesen Sturm zu überstehen."
"Ich werde sofort aufbrechen", erwiderte Ta-er mit einem Nicken, doch Thorongil schüttelte den Kopf. "So habe ich es nicht gemeint. Ihr könnt die Nacht hier verbringen und morgen gestärkt aufbrechen."
Ta-er lächelte, und meinte: "Das wird nicht nötig sein. Ich bin es gewohnt, schnell und lange zu reisen und wie ihr schon sagtet, in dieser Sache ist Eile von Nöten."
Mit diesen Worten wandte sie sich in einer fließenden Bewegung ab, und verließ den Raum. Edrahil seufzte. "Einen Hang zu dramatischen Abgängen hat sie jedenfalls."
"So wie ihr einen zu dramatischen Auftritten, mein Freund", gab Thorongil zurück, und ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. "Also, was führt euch herüber - falls es nicht ausnahmsweise ein reiner Freundschaftsbesuch ist?"
Edrahil lächelte, und zog die Karte hervor, die er zusammengerollt in seinem Ärmel getragen hatte. "Kein reiner Freundschaftsbesuch, aber etwas erfreuliches, denke ich." Er breitete die Karte aus und deutete auf eine schmale Bucht südlich von ihnen, am Fuß der großen Gebirgskette sie sich von dort entlang der Küste nach Süden zog. "Hier ist die Rossigil zuletzt gesehen worden, und nach allem was ich weiß... könnte sie auch jetzt noch dort sein."
Thorongil sprang so heftig von seinem Stuhl auf, dass Edrahil unwillkürlich zusammenzuckte. "Ihr habt sie gefunden?"
"Vermutlich", wehrte Edrahil ab. "Wie ich schon sagte, ganz sicher kann ich nicht..."
"Ich werde sofort aufbrechen", fiel Thorongil ihm ins Wort. "Und wer wird mit Ta-er und ihrem Anführer sprechen?", fragte Edrahil, doch Thorongil winkte ab. "Bis dahin bin ich längst zurück. Und wenn nicht... Melíril und ihr. Ich vertraue euch beiden, und ihr seid beide fähig zu erkennen, ob ein Bündnis lohnenswert wäre, oder eine Gefahr für uns darstellen könnte."

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #8 am: 29. Jan 2017, 13:46 »
Narissa und Aerien aus der Mehu-Wüste

Das kleine Ruderboot schaukelte sanft auf den kleinen Wellen, während sie rasch dem Hafen von Tol Thelyn näher kamen. Narissa, die sich im Heck des Bootes niedergelassen hatte und gespannt nach vorne blickte, fragte: "Ist die Thoroval nicht hier?"
"Nein", erwiderte Langlas hinter ihr. Die Anstrengung des Ruderns war seiner Stimme beinahe nicht anzumerken, denn er war ein kräftiger Mann. "Sie ist losgesegelt um die Rossigil zu suchen."
Narissa wandte den Blick nicht vom Hafen ab, in dem ein weiteres Schiff vor Anker lag, dessen gereffte schwarze Segel ihr ein flaues Gefühl im Magen verursachten. "Und was ist das? Habt ihr ein Korsarenschiff gekapert?"
Langlas lachte, und schüttelte den Kopf. "Nein, das nicht gerade. Aber trotzdem ist es ihm zu verdanken, dass wir hier sind." Und auf den misstrauischen Blick, den Narissa ihm zuwarf, ergänzte er: "Nein, das heißt nicht, dass wir ein Bündnis mit Umbar oder irgendwelchen Korsaren eingegangen sind. Du wirst es sehen."

Schließlich stieß der Bug des Bootes, in dem Aerien saß und die ganze Zeit über stumm auf die Wellen geblickt hatte, mit einem dumpfen Geräusch gegen die niedrige Kaimauer des Hafens, auf der sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt hatte. Viele Gesichter waren ihr bekannt, doch auch das ein oder andere neue Gesicht entdeckte sie. Als sie hinter Langlas an Land kletterte, ergriff Aerien, die das Boot als erste verlassen hatte, ihre Hand und drückte sie. "Das müssen wir unbedingt nochmal machen", sagte sie leise und mit leuchtenden Augen, und Narissa flüsterte zurück: "So oft du willst - und ich hatte dir ja versprochen, dass wir irgendwann eine Schiffsreise machen."
Bevor Aerien etwas erwidern konnte, trat eine elegant gekleidete, dunkelhaarige Frau, die einen Jungen von vielleicht acht Jahren an der Hand hielt, vor, und sagte: "Willkommen zuhause, Narissa." Obwohl die Frau Narissa unbekannt war, war ihre Stimme warm, und so erwiderte Narissa ohne Misstrauen: "Ich danke euch für das Willkommen - auch wenn ihr mir gegenüber im Vorteil seid, denn ihr kennt meinen Namen und ich euren nicht."
Ein feines Lächeln umspielte die Mundwinkel der Frau, als sie antwortete: "Mein Name ist Minûlîth, einst aus dem Haus Minluzîr und nun... aus dem Haus der Turmherren." Auch wenn die Namen, die Minûlîth genannt hatte, eindeutig nach Schwarzen Númenorern klangen, konnte Narissa nicht umhin, sie auf Anhieb zu mögen. Die Menschen hier schienen sie ohne Widerspruch als eine Anführerin zu akzeptieren, und außerdem hatte Narissa Ta-ers Bericht über die Geschehnisse in Umbar nicht vergessen.
"Auch wenn ihr meinen Namen schon wisst: Ich bin Narissa, Tochter Herlennas vom Turm, und dies", sie machte eine Bewegung in Richtung Aerien, "ist Aerien Bereneth - die beste Freundin die man sich wünschen kann."
"Ich freue mich, euch kennen zu lernen", sagte Aerien ein wenig zurückhaltend, und bevor Minûlîth etwas erwidern konnte, deutete der Junge an ihrer Hand in Richtung des Turmes und sagte: "Seht nur, er leuchtet!" Alle wandten sich in diese Richtung um, und tatsächlich - die Sonne war erneut durch die Wolken gebrochen, und ließ den Turm in ihrem Schein geradezu erstrahlen.
"Ein merkwürdiger Zufall...", meinte Minûlîth leise. "Sie sind gerade heute erst damit fertig geworden."
"Und die Zufälle werden noch merkwürdiger", brummte eine Narissa bekannte Stimme, und zu ihrer Überraschung sah sie Edrahil ein Stück abseits stehen und mit einem Stock in Richtung Süden, aufs Meer hinaus deuten. "Dort kommt der Herr des Turmes." Von dort näherten sich zwei Schiffe mit weißen Segeln, die Narissa sofort erkannte. Vorneweg kam die Thoroval, Hallatans Schiff, und das größere Schiff dahinter war die Rossigil, das Schiff, mit dem Ciryatan von Eldalondë nach Mittelerde gesegelt war.
"Jetzt bekommst du noch mehr alte Dúnedain-Geschichte zu Gesicht", wisperte sie Aerien zu, während ihr Herz beim Anblick der Schiffe immer schneller schlug.

Sobald die Rossigil am Kai angelegt hatte, sprang ein Mann, der Narissa wie eine jüngere Version ihres Großvaters vorkam, leichtfüßig über die Reling an Land, ohne auf eine Planke zu warten. "Sind wir etwa erwartet...", rief er laut und fröhlich, doch als sein Blick auf Narissa fiel, verstummte er. "Nein, das ist doch... du siehst aus wie sie", sagte er leise, und Narissa versuchte mit trockenem Mund etwas zu sagen, brachte aber keine Ton heraus. Es war Minûlîth, die geistesgegenwärtig die Vorstellung übernahm. "Dies ist Thorongil, Sohn Hadors, Herr von Tol Thelyn... und Narissa, Tochter Herlennas vom Turm."
Thorongil kam langsam heran, und Narissa war froh, Aeriens beruhigende Gegenwart an ihrer Seite zu spüren. "Du siehst ihr wirklich ähnlich", sagte Thorongil heiser, und Narissa brachte ebenso mühsam heraus: "Und du siehst aus wie Großvater." Ihr Onkel zog sie plötzlich in eine feste Umarmung, die Narissa erst zaghaft und dann ebenso fest erwiderte. Auch wenn sie ihn an diesem Tag zum ersten Mal in ihrem Leben sah, war er doch alles, was ihr an Familie geblieben war - fast alles. Sie lächelte, als sie an Aerien dachte, während Thorongil sie plötzlich hochhob als wäre sie ein kleines Mädchen, und lachend einmal im Kreis herum herumwirbelte. Als er sie wieder auf die Füße stellte lachten beide. Thorongil legte Narissa den Arm um die Schultern und führte sie in Richtung Minûlîth, die lächelnd zugesehen hatte.
"Auch wenn ich sicher bin, dass Melíril sich bereits angemessen vorgestellt hat, hat sie doch gewiss das wichtigste ausgelassen."
"Angedeutet", warf Minûlîth ein, und Thorongil zog eine Augenbraue in die Höhe. "Nun, auf jeden Fall ist dies Melíril, oder Minûlîth, die Herrin meines Herzens." Minûlîth errötete leicht, während Thorongil den Jungen zu sich heranzog und fort fuhr: "Und dies ist Túor - unser Sohn, und Erbe des Turmes."
Narissa ging langsam vor Túor auf die Knie. Von ihrer Familie war mehr übrig, als sie zu hoffen gewagt hatte - und durch Túor würde sie sogar fortbestehen. "Ich bin Narissa", sagte sie leise, und als sie seine Hand ergriff ging ein Strahlen über das Gesicht des Jungen. "Und ich bin Túor", erwiderte er. "Kannst du mir beibringen, wie man kämpft?"
"Túor!", sagte Minûlîth streng, und Thorongil schüttelte langsam den Kopf. "Eins nach dem anderen, junger Mann. Fürs erste sollten wir Narissa ankommen lassen, und ihr alles erzählen, was geschehen ist."
Narissa beugte sich vor, und flüsterte Túor verschwörerisch ins Ohr: "Natürlich kann ich dir ein paar Sachen zeigen." Erneut erstrahlte ein Lächeln auf seinem kindlichen Gesicht, und Narissa erhob sich rasch. "Das würde mir sehr gefallen", sagte sie Thorongil gewandt, und zog dann Aerien, die ein wenig abseits gestanden hatte am Arm neben sich. "Aber vorher möchte ich dir Aerien vorstellen, die beste Freundin die ich jemals hatte."
"Jeder Freund meiner Familie ist ein Freund von mir", erwiderte Thorongil, ergriff Aeriens Hand und hauchte einen Kuss darauf. "Sei willkommen."
"Danke", sagte Aerien, und an ihrer Stimme erkannte Narissa, dass sie glücklich und zugleich ein wenig überwältigt war. "Ich bin froh, dass ich hier sein kann."
"Tut mir leid, dass ich das jetzt tun muss", warf Narissa ein. Zum Glück hatte sich die Menge inzwischen einigermaßen aufgelöst. "Aber... Aeriens Familie kommt aus Mordor."
"Mordor...", stieß Thorongil hervor, und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Auch Aerien war blass geworden, und warf Narissa einen Blick zu, der nur Was tust du? bedeuten konnte. Lediglich Minûlîth zeigte keinen Schrecken, oder verbarg ihn zumindest äußerst gut.
"Ah, dann kommst du aus dem Haus Balákar?", fragte sie interessiert. "Es freut mich sehr, dass du jetzt stattdessen hier bist." Noch immer herrschte betretenes Schweigen, und Minûlîth ließ einen beinahe genervten Blick über Thorongil, Edrahil, Hallatan und Langlas schweifen, die ihren Schock in verschiedensten Stufen der Offenheit zeigten. "Meine Güte", sagte sie schließlich. "Nun tut nicht so, als hättet ihr einen Geist gesehen. Habt ihr alle vergessen, aus was für einer Familie ich komme?" Ihr Finger deutete der Reihe nach auf die Männer, als sie fortfuhr: "Und trotzdem hast du mich eben als die Herrin deines Herzens bezeichnet - was ich übrigens sehr schön fand. Und du, Edrahil, warst bereit mit mir in Umbar zu bleiben und gegen Hasaël zu kämpfen und bist mir sogar in in brennendes Haus gefolgt, und ihr beiden", die deutete auf Hallatan und Langlas, "hattet offensichtlich kein Problem damit, mich als Herrin der Insel zu akzeptieren. Also lasst das arme Mädchen in Ruhe, sie ist mit ihrer Familie genug gestraft, und freut euch lieber dass sie hier ist und nicht in Mordor."
Narissa wäre Minûlîth in diesem Moment am liebsten um den Hals gefallen, und ein Blick auf Aeriens Gesicht verriet ihr, dass es ihrer Freundin kein bisschen anders ging. Schließlich räusperte Thorongil sich verlegen, und sagte: "Melíril beschämt uns alle - und zu recht. Verzeih mir meinen Schrecken, Aerien, und sei erneut willkommen auf Tol Thelyn." Als Narissa Aeriens Hand ergriff, sagte Edrahil: "Und es war gut getan, es zu verraten - denn ein solches Geheimnis kommt früher oder später ans Tageslicht, und dann wäre unsere Reaktion vermutlich anders ausgefallen."
Mit einem leicht gezwungenen Lächeln erinnerte Narissa sich an den Moment, in dem sie selbst von Aeriens Abstammung erfahren hatte - und an ihre eigene Reaktion darauf.
"In jedem Fall gibt es viel zu erzählen und zu besprechen", ergriff Thorongil wieder das Wort. "Aber ich denke, das hat bis morgen Zeit. Für heute sollten wir uns von unseren Reisen erholen - zumindest die, die auf Reisen gewesen sind." Er zwinkerte Minûlîth und Edrahil zu, ergriff Minûlîths Hand und ging mit ihr und Túor in Richtung eines der reparierten Häuser davon.
"Ich erwarte nach wie vor einen Bericht über Qúsay", sagte Edrahil, der zurückgeblieben war, mit strenger Stimme. "Aber das hat wohl ebenfalls bis morgen Zeit. Vielleicht solltet ihr die Gelegenheit nutzen..." Mit einem Augenzwinkern ging er ebenfalls langsam davon, und ließ Narissa und Aerien inmitten des geschäftigen Treibens am kleinen Hafen alleine zurück.

Narissa atmete tief durch, und genoss den Augenblick, bevor sie sagte: "Im Südwesten der Insel gibt es einen kleinen Bach. Er fließt zwischen zwei Hügeln hindurch zum Meer hinunter, und an seiner Mündung liegt ein kleiner Sandstrand." Als Kind war sie oft dort gewesen, wenn sie Zeit für sich gebraucht hatte. "Etwas oberhalb des Strandes steht ein alter Leuchtturm, der seit über tausend Jahren nicht mehr benutzt wurde." Narissa hoffte, dass dieser Ort unbeschädigt geblieben war, denn dort gab es nichts was für die Angreifer von Interesse gewesen wäre. Im dem Turm gab es hinter ein paar lockeren Steinen einen kleinen Hohlraum, in dem Narissa heimlich einige Kissen und Decken aufbewahrt hatte, denn hin und wieder hatte sie in dem alten Leuchtturm eine Nacht verbracht, wenn sie sich mit ihrem Großvater gestritten hatte - was nicht allzu selten vorgekommen war.
"Such den Leuchtturm, und warte dort auf mich", schloss sie, und Aerien fragte verwundert: "Und was machst du in der Zeit?"
"Das... ist ein Geheimnis", erwiderte Narissa lächelnd, und gab Aerien in aller Öffentlichkeit einen raschen Kuss, woraufhin diese ihr mit dem Finger drohte. "Na los, auf mit dir. Geh ein bisschen erkunden."
« Letzte Änderung: 30. Jan 2017, 11:33 von Eandril »

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Auf dem Weg zum Leuchtturm
« Antwort #9 am: 29. Jan 2017, 18:56 »
Aerien beschloss, auf Narissas Rat zu hören, und sich die Insel genauer anzusehen. Nach einem kurzen Spaziergang durch den kleinen Hafen, dessen Anlegeplätze nun durch die drei großen Schiffe bis auf einen gefüllt waren, zog es sie zu dem großen weißen Turm, der sich in der Ferne erhob. Sie schloss sich einer kleinen Gruppe von Menschen an, die dem ausgetretenen Weg vom Hafen zum Turm folgten und offensichtlich Bauarbeiten daran durchführen wollten, was Aerien an den Werkzeugen erkannte, die sie trugen. Nachdem die Thelynrim ihre anfängliche Skepsis überwunden hatten kam schnell ein angenehmes Gespräch auf.
"Das sieht man selten, dass einem jemand, der aus Mordor stammt, nichts Übles will," sagte eine Frau in Aeriens Alter, die ihre langen blonden Haare zu einem kunstvollen Zopf geflochten trug. "Wobei ich zugeben muss, dass die Insel erst zweimal angegriffen wurde, und noch nie von Orks oder anderen Wesen des Dunklen Herrschers - bislang waren es immer fehlgeleitete Haradrim. Ich heiße übrigens Laedris. Und du bist Aerien, richtig?"
"Genau," bestätigte Aerien. Laedris war ihr sofort sympathisch, und schon nach kurzer Zeit plauderten sie über dies und das, als würden sie sich schon lange kennen. "Ich hoffe, mit der Zeit vertrauen die Thelynrim mir nicht nur wegen dem Wort eurer strengen Herrin," sagte Aerien.
"Nein, sorge dich nicht," antwortete Laedris. "Herrin Melíril hat ja selbst eine ähnliche Vorgeschichte wie du. Das große Schiff mit den schwarzen Segeln gehört ihr und war bei vielen Korsarenangriffen mit dabei. Fürst Beorn sollte die Segel wirklich durch weiße ersetzen, wie er schon mehrfach vorgeschlagen hat."
"Ist Beorn der richtige Name von Narissas Onkel?" fragte Aerien neugierig.
"Ja - er ist Beorn III., Hadors Sohn, Herr des Turms und von Tol Thelyn. Beeindruckend, nicht wahr? Zu schade, dass sein Sohn noch so jung ist!" meinte Laedris mit einem Zwinkern.
"Du bist sowieso viel zu geschwätzig für meinen kleinen Túor," mischte sich eine belustigte Stimme ein. Die beiden jungen Frauen fuhren überrascht herum. Hinter ihnen stand Minûlîth, die der Gruppe offenbar gefolgt war.
"Verzeiht meine Worte, Herrin!" entschuldigte Laedris sich hastig. "Ich habe unbedacht gesprochen."
"Das hast du," bestätigte Minûlîth streng - doch dann lächelte sie. "Keine Sorge, Mädchen. Es ist gut. In diesen Zeiten tun uns Späße hin und wieder gut."
"Kanntet Ihr meine Großmutter, Azruarî?" fragte Aerien höflich.
"Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie fortging um das Falkenauge von Aglarêth zu heiraten," erzählte Minûlîth. "Ist sie noch am Leben?"
"Ja," bestätigte Aerien. "Ich habe sie nur selten zu Gesicht bekommen, aber meine Mutter sagte mir, sie habe alles, was sie wusste, von meiner Großmutter gelernt und sie ist der Grund, warum meine Eltern mir den Namen Azruphel gaben."
"Ein ungewöhnlicher Name für jemanden, der so weit weg vom Meer wohnt," sagte Minûlîth lächelnd. "Und wie ich sehe, hast auch du deinen Namen in die Elbensprache übersetzt, wie meine Schwester und ich es getan haben."
"Ich tat es auf Anregung Aragorns, des Königs von Gondor," gab Aerien zu.
"Interessant," befand Minûlîth und betrachtete Aerien einen langen Moment. Dann sagte sie: "Du musst mich nicht als Herrin ansprechen. Wir sind Verwandte - durch Blut vereint, und, wenn mich nicht alles täuscht, durch Liebe zum Haus der Turmherren. So ist es doch, oder nicht?"
Aerien errötete und blickte zu Boden. "Du hast natürlich recht, Melíril."
Minûlîth lachte leise. "Oh, ich sehe schon, die Erziehung von Mordor steckt noch sehr tief in dir. Du hat nie gelernt, was Liebe wirklich bedeutet, nicht wahr? Dann sei froh, dass du jemanden gefunden hast, die dir dabei hilft, es herauszufinden."
"Das bin ich," sagte Aerien. "Das bin ich."

Sie kamen in Sichtweite der kleineren Gebäude, die rings um den Turm standen und eines nach dem anderen repariert wurden. Minûlîth erzählte Aerien und Laedris gerade von einer ihrer Reisen mit Thorongil in den tiefen Süden, doch dann sagte sie entschuldigend: "Ich werde euch beide auf später vertrösten müssen. Es gibt im Turm einige Dinge, um die ich mich kümmern muss. Laedris, du kennst deine Aufgaben. Aerien - für dich werde ich sicherlich etwas finden, falls du helfen möchtest. Aber für heute schlage ich vor, dass du dir die Insel ansiehst, dich einlebst und dir alles ansiehst. Ich hoffe, wir können dir hier eine gute neue Heimat bieten." Sie hielt einen Moment inne, dann blickte sie Aerien nachdenklich an und sagte: "Du und Narissa - ihr bleibt doch hier, oder? Immerhin ist Tol Thelyn Narissas Zuhause, und ich glaube nicht, dass du dich freiwillig von ihr trennen willst. Nun - wie dem auch sei, Beorn und ich heißen dich willkommen, und du wirst hier immer eine Heimat finden, wenn du sie möchtest."
"Und wenn sie sich nicht doch als Verräterin herausstellt," fügte eine neue Stimme hinzu. Es war der Mann, den Narissa als Edrahil vorgestellt hatte.
"Edrahil, bitte. Sie hat sich von Mordor losgesagt. Lass das arme Mädchen in Ruhe," sagte Minûlîth befehlend. "Sie hat schon genug durchgemacht, da musst du ihr nicht noch mit deiner Griesgrämigkeit das Leben schwer machen. Du hast doch heute einiges zu feiern: Beorn hat dank deinem Hinweis die Rossigil gefunden, der Wiederaufbau geht gut voran, und ein Vogel aus Dol Amroth ist eingetroffen. Hast du die Nachricht schon gelesen?"
"Natürlich habe ich das," gab Edrahil etwas missmutig zurück. "Sie war das, was ich erwartete. Zufriedenstellend, aber nichts Überraschendes."
"Ich sehe schon, wir sollten wirklich eine Frau für dich finden, die dir hin und wieder die Ohren langzieht," scherzte Minûlîth. "Denn sonst muss ich das übernehmen, und das wird mir auf Dauer zu anstrengend."
"Wage es ja nicht, dich auch nur nach einer Kandidatin umzusehen," erwiderte Edrahil, doch inzwischen war ein kleines Lächeln auf sein Gesicht getreten. "Ich finde es sowieso heraus."
"Wir werden sehen, Meister Edrahil," gab Minûlîth ungerührt zurück. Und damit ließ sie ihn stehen und betrat den Turm.
"Mach bloß keinen Ärger, Mädchen," brummte der Gondorer in Aeriens Richtung.
"Ich gebe mir Mühe, Herr Edrahil," gab sie pflichtbewusst zurück. Die Art und Weise, wie Edrahil sie durchdringend anblickte, gab Aerien das Gefühl, dass dieser Mann tatsächlich alles sah und erfuhr, was auf der Insel geschah. Wie als ob er einen Palantír benutzen würde, dachte sie.

Edrahil hatte sie erfolgreich vom Turm verscheucht. Aerien beschloss daher, den Leuchtturm zu finden, den Narissa ihr beschrieben hatte. Auf dem Weg dorthin traf sie auf eine weitere Gruppe Thelynrim, die ebenfalls äußerst beschäftigt aussahen und einen halb zerstörten Bauernhof auf halbem Weg zum Leuchtturm wieder aufbauten. Als Aerien jedoch herankam, unterbrach einer der Arbeiter sein Werk und trat ihr entgegen. Er deutete eine Verbeugung an und stellte sich vor: "Mein Name ist Hírilorn, Hallatans Sohn. Was führt die edle Dame zu meinem bescheidenen Hof?"
Aerien fand nicht gerade, dass sie momentan nach einer edlen Dame aussah - sie trug einfache haradische Kleidung aus weitem, hellen Stoff und ihre graue Hose aus Durthang, dazu die breiten Lederstiefel die sie auf ihrem Weg von Mordor bis hierher getragen hatte, abgesehen von den beiden Anlässen in Qafsah an denen sie Sahírs Kleid getragen hatte. Ihr Haar war zum typischen Pferdeschwanz gebunden und auf ihrem Rücken hing ihr Bastardschwert.
"Hallo, Hírilorn," sagte sie daher einfach und ging nicht auf sein höfisches Gerede ein. "Ich bin auf dem Weg zum alten Leuchtturm, um mich dort mit Narissa zu treffen."
"Lasst mich Euch den Weg weisen!" bot der junge Mann hilfsbereit an. Aerien fragte sich, was wohl dahintersteckte, bis einer der übrigen Arbeiter rief: "Du musst dir schon mehr Mühe geben, wenn du über sie an Narissa herankommen willst, Hírilorn Silberzunge!" Die übrigen Männer lachten. "So ist das also," sagte Aerien lächelnd. "Hattest du gehofft, wenn du dich mit mir anfreundetst, stelle ich dich vielleicht Narissa vor? Die Erbin des Turms, noch unverheiratet?" Hírilorn blickte etwas betreten zu Boden, und das genügte Aerien als Antwort. "Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest - Fürst Beorn hat bereits einen männlichen Erben."
"Darum ging es mir nicht," gab Hírilorn zu. "Wir alle dachten, Narissa wäre beim Fall der Insel getötet worden. Und jetzt, da sie wieder aufgetaucht ist, und keinen Mann hat..." er ließ den Satz unvollendet.
Verdammt, Narissa, müssen dir denn wirklich überall wo wir hin kommen die Männer nachlaufen? dachte Aerien verärgert, doch sie ließ sich nichts anmerken. "Ich denke, ich finden den Leuchtturm alleine, vielen Dank," sagte sie. "Es sieht sowieso ganz danach aus, als hättet ihr hier noch genug zu tun."

Sie ließ Hírilorns Bauernhof hinter sich und kam nach einiger Zeit an den Bach, den Narissa ihr beschrieben hatte. Aerien folgte dem Verlauf des Gewässers, zwischen den Hügeln hindurch, und gelangte an den kleinen, versteckten Strand. Die Sonne schien noch immer warm auf sie herab, und so zog Aerien die Schuhe aus und rannte einige Minuten glücklich durch den warmen, weichen Sand, bis sie schließlich vor dem alten Leuchtturm stand. Die Tür war nur angelehnt und ließ sich problemlos öffnen. Drinnen war es weniger dunkel als Aerien erwartet hatte, denn durch viele kleine Fenster fiel das Tageslicht herein. Aerien wollte gerade die Stufen hinauf zur Spitze des Turms erklimmen, als ein plötzlicher Windstoß die Tür fest zuschlug und ihr einen ordentlichen Schreck einjagte. Und als sie versuchte, die Tür wieder zu öffnen, stellte sie fest, dass sie klemmte.
Bei allen sieben Sternen, dachte Aerien. Muss das gerade jetzt passieren? Sie versuchte, die Tür mit ihrem Schwert aufzuhebeln, doch diese gab nicht nach. Aerien gab den Versuch schließlich auf, da sie befürchtete, die Klinge könnte abbrechen. Sie beschloss, das beste aus der Situation zu machen und den Turm von oben bis unten zu durchsuchen. Narissa wird schon kommen und die Tür von außen aufbekommen, sagte sie sich. Und als sie schließlich hinter einem losen Stein eine alte Decke sowie mehrere Kissen gefunden hatte, machte sie es sich auf dem Teppich im oberen Stockwerk des Turms gemütlich, an einem der Fenster, das ihr einen wunderbaren Blick auf das Meer bot. Kaum hatte sie sich in die Decke gewickelt spürte sie, dass sie in der vorherigen Nacht zu lange wach geblieben war. Aerien gähnte, und es fiel ihr immer schwerer, die Augen offen zu halten während sie ihren Blick über das Meer schweifen ließ. Bereits nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.
« Letzte Änderung: 15. Sep 2017, 08:53 von Fine »
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #10 am: 30. Jan 2017, 10:53 »
Den ganzen Weg zum Turm hinauf hatte Narissa das dringende Bedürfnis zu singen, tanzen und springen. Doch sie beherrschte sich, und eilte ohne zu zögern weiter, antwortete nur kurz angebunden auf die freundlichen Zurufe alter Bekannter, und erreichte schließlich den Turm. Er sah genauso aus wie am Tag vor dem Angriff, doch als sie durch die Türöffnung, in der noch die Tür fehlte, hineintrat, sah sie, dass sich vieles verändert hatte. In der runden Halle, die das unterste Stockwerk des Gebäudes einnahm, fehlten noch sämtliche Einrichtungsgegenstände, und stattdessen war der Boden mit Werkzeugen und Baumaterialien vom Wiederaufbau übersät.
Narissa stieg langsam die Treppe hinauf, die sich an der äußeren Wand des Turmes emporwand. Die unteren Stockwerke schienen am meisten unter dem Feuer gelitten zu haben, denn hier war beinahe nichts wieder zu erkennen. Doch auch als sie weiter nach oben kam stellte sie fest, dass große Teile der Außenwand neu waren - offenbar hatte das Feuer auch hier gewütet, und Teile der oberen Stockwerke schienen eingestürzt gewesen zu sein.
Schließlich erreichte sie das zweitoberste Stockwerk, das sie selbst bis vor dem Angriff bewohnt hatte. Langsam und unsicher drückte sie die frisch getischlerte Holztür auf, und betrat das Zimmer, in dem sie über zehn Jahre lang gelebt hatte. Nur wenige Möbel standen dort, doch bei ihrem Anblick zog sich Narissas Herz zusammen. Das Bett hatte das Feuer anscheinend beinahe unbeschadet überstanden, nur zwei der Beine waren etwas geschwärzt, und auch der kleine Tisch vor dem Fenster, das auf den Hafen hinausblickte, war noch da. Dort hatte sie oft gesessen, gelesen und auf das Meer hinausgeblickt.
Gedankenverloren ließ sie sich auf der Bettkante nieder, und wessen Verdienst es gewesen war, das Zimmer wieder einigermaßen herzurichten - und wann es geschehen war. Narissas Blick fiel auf die schwere Truhe, die neben dem Bett stand. Sie stand auf, kniete sich davor auf den Boden und öffnete sie ein wenig mühsam. Drinnen lagen einige wenige Kleidungsstücke, die ihr gehört hatten, und zuunterst das, was sie gehofft hatte zu finden. Narissa nahm das dunkelblaue Kleid vorsichtig aus der Truhe, und hielt es sich vor den Körper. Wie hatte das das Feuer überstehen können?
"Als wir gehört haben, dass du noch lebst, hat Thorongil dafür gesorgt, dass dein Zimmer so gut wie möglich wieder hergerichtet wird", erklang Minûlîths Stimme von der offen stehenden Tür her. "Er hat mir erzählt, dass diese Truhe wohl durch den Fußboden gebrochen sein und im untersten Stockwerk gelandet sein muss. Dort hat er sie jedenfalls gefunden, die meisten Kleidungsstücke zerstreut und verbrannt, und drinnen nur dieses eine Kleid."
"Fast wie ein Wunder...", sagte Narissa leise, und strich über den samtigen Stoff des Kleides. Ihr Großvater hatte es ihr einmal, an ihrem zwanzigsten Geburtstag, aus Umbar mitgebracht, und seit jenem Tag hatte sie es nie mehr getragen - schließlich waren Kleider unpraktisch zum Kämpfen und Klettern.
"Willst du es tragen?", fragte Minûlîth, und Narissa nickte. "Ja. Irgendwie... hatte ich gehofft, dass es überlebt hat."
"Ich kann dir dabei helfen", bot Minûlîth an, und betrachtete sie dabei prüfend. "Und dich dabei noch ein bisschen hübscher machen, als du ohnehin bist." Narissa spürte sich selbst ein wenig erröten, als sie antwortete: "Das... würde mich sehr freuen, denn ich... weiß nicht so recht, wie..."

Nur wenig später betrachtete Narissa sich in dem kleinen Spiegel, den Minûlîth ebenso wie eine Menge Schminkzeug irgendwo hergezaubert hatte. Sie trug das dunkelblaue Kleid, dass weniger prunkvoll war als jenes, das Aerien in Qafsah getragen hatte, aber trotzdem in seiner Schlichtheit elegant wirkte. Das Kleid ließ ließ Arme, Schultern und den oberen Rücken komplett frei. Darunter saß es eng am Körper, betonte die Taille, fiel von den Hüften an in lockeren glatten Falten über die Beine hinab und endete kurz über den Knien. Auch ihre gewohnten Stiefel trug Narissa nicht mehr, sondern feine weiße Schuhe, die Minûlîth ihr geliehen hatte, und die den Fußrücken freiließen. Die größte Veränderung hatte Minûlîth allerdings mit ihrem Gesicht vollbracht, ihre Haare zu einer ebenfalls schlichten, aber eleganten Frisur hochgesteckt sodass ihr zu beiden Seiten ein paar wenige Strähnen das Gesicht umrahmten. Dann hatte sie mit Puder ein wenig Farbe auf ihre Wangen gezaubert, die gebogene Narbe ein wenig abgeschwächt aber nicht ganz verdeckt, mit einem schwarzen Stift ein wenig Schatten unter die Augen und über die Augenlider gelegt, sodass Narissas Augen ein wenig größer wirkten, und zuletzt roten Lippenstift aufgelegt. Während Narissa sich jetzt im Spiegel betrachtete, roch Minûlîth nacheinander an mehreren Parfümfläschchen, bis sie Narissa eines davon entgegenstreckte und sagte: "Wie wäre es damit?"
Narissa nahm das Fläschchen vorsichtig entgegen, und roch daran. Der Geruch erinnerte sie ein wenig an einen Frühlingsmorgen auf der Insel, wenn Tau auf den Grasspitzen glitzerte und ein frischer salziger Wind vom Meer hereinwehte. "Das gefällt mir", erwiderte sie, und Minûlîth tupfte ihr ein wenig davon auf die Innenseiten beider Handgelenke, und unter die Ohren auf den Hals. Dann streifte Narissa sich das Medaillon von Elenosse wieder über den Kopf, dass genau auf ihrer Brust zu liegen kam und dessen Silber auf dem dunkelblauen Stoff besonders gut zur Geltung kam.
"Fertig", sagte sie, atmete tief durch, und Minûlîth nickte zufrieden. "Allerdings. Für wen du das tust, er kann sich glücklich schätzen... oder sie?" Narissa errötete zu ihrer Überraschung ein wenig unter Minûlîths Blick, und diese lachte. "Ich will nicht leugnen, dass ihr nicht ungewöhnlich seid. Aber mach dir keine Sorgen, ich verurteile keine Form der Liebe - in Umbar hatte ich zwei Wachen, die heimlich das Bett miteinander geteilt haben. Oder sie dachten zumindest, dass es ein Geheimnis wäre."
Narissa erwiderte das Lächeln zaghaft, und sagte dann: "Danke, Minûlîth. Ich glaube nicht, dass ich das ohne dich hinbekommen hätte."
"Alles für meine Nichte - so darf ich dich doch nennen?", fragte Minûlîth, und Narissa erwiderte sofort: "Ich würde mich freuen." Dann fiel sie Minûlîth um den Hals, die ihr sanft über den Rücken strich und dann sagte: "Na, vielleicht solltest du dir davon noch ein bisschen was aufsparen... Nun geh."

Als Narissa den Turm verließ, darauf bedacht, niemandem aufzufallen, sank die Sonne im Westen bereits. Sie folgte eilig dem Pfad zum alten Leuchtturm, bis sie zu Hírilorns halb zerstörtem Bauernhof kam, der offenbar langsam wieder aufgebaut wurde. Bereits aus der Ferne konnte sie Hallatans Sohn mit einigen anderen Männern arbeiten sehen, und beschloss, einen kleinen Bogen um den Hof zu machen, denn auch wenn Hírilorn nie aufdringlich geworden war, war seine Freundlichkeit ihr gegenüber doch so groß, dass seine Absichten nie wirklich ein Rätsel gewesen waren. Also gehörte er nicht zu den Personen, die sie in ihrem momentanen Aufzug unbedingt sehen sollten.
Ungesehen erreichte sie den kleinen Bach, und folgte ihm durch das Tal hinab zum Strand, wo Aeriens Schuhe einsam und verlassen im Sand standen. Aerien selbst war nicht zu sehen, doch im hellen Sand waren jede Menge Spuren von nackten Füßen, die schließlich zu dem alten Leuchtturm führten.
Die Tür des Leuchtturms war fest verschlossen, und Narissa musste grinsen. Auf diese Falle war sie selbst bereits hereingefallen, denn von innen ließ sich die Tür, deren Angeln sich mit der Zeit ein wenig verzogen hatten, wenn sie einmal zugefallen war nur mit einem bestimmten Trick öffnen. Das erste Mal als ihr das passiert war, hatte sie am Morgen an der Außenmauer herunterklettern müssen, was ihr Großvater als eine "gute Übung" abgetan hatte. Dennoch hatte er ihr kurz darauf gezeigt, wie die Tür von innen aufzukriegen war. Einen kurzen Moment spielte Narissa mit dem Gedanken, auch jetzt an der Mauer hinaufzuklettern und Aerien einen Schrecken einzujagen, doch die Gefahr dabei das Kleid zu beschädigen oder sich die Schminke zu verschmieren, war ihr zu groß. Stattdessen begnügte sie sich damit, leise die Tür aufzuziehen, und ebenso leise die gewundene Treppe nach oben hochzusteigen.
Als sie im oberen Stockwerk angekommen war, musste sie über den Anblick, der sich ihr bot, lächeln. Aerien hatte offenbar ihr altes Versteck gefunden, und lag nun in eine Decke gewickelt auf mehreren Kissen friedlich schlafend vor einem der Fenster. Narissa ging leise neben ihr in die Knie, und flüsterte ihr ins Ohr: "Zeit zum Aufstehen, Schlafmütze."
Aeriens Augenlider flatterten, bevor sie langsam die Augen öffnete und verschlafen sagte: "Wie spät ist es?"
Narissa erhob sich wieder, und stemmte die Hände in die Hüften. "Du hast über hundert Jahre geschlafen. Ich bin Narissas Urenkelin, äh... ebenfalls Narissa."
Aerien rieb sich die Augen, blinzelte ein paar mal verwirrt bei ihrem Anblick, und dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. "Ich glaube dir", erwiderte sie, während sie sich aus der Decke schälte und auf die Beine kam. "Die echte Narissa hat nie so ausgesehen."
"Bis heute", gab Narissa zurück, und drehte sich einmal schnell im Kreis, wobei der Stoff ihres Kleides raschelte. "Ich musste mich schließlich revanchieren, auch wenn es nicht ganz so schön ist wie dein Kleid in... Qafsah."
"Es ist... wunderschön", erwiderte Aerien langsam, und verbesserte sich dann: "Nein. Du bist wunderschön." Erneut spürte Narissa sich erröten, und erwiderte: "Minûlîth hat mir dabei geholfen. Das Kleid hat mein Großvater mir zu meinem zwanzigsten Geburtstag aus Umbar mitgebracht, und durch irgendein Wunder hat es den Brand des Turmes überstanden. Gerade, als hätte es auf diese Gelegenheit gewartet..."
"Mhm...", machte Aerien nur, trat einen Schritt näher, zog Narissa dann plötzlich in ihre Arme und küsste sie, heftig, gierig, wie nie zuvor. Schließlich löste Narissa sich, rang um Atem und sagte keuchend: "So... stürmisch. Ich scheine wohl etwas richtig gemacht zu haben."
"Allerdings", flüsterte Aerien heiser, und sie prallten erneut zusammen. Diesmal strichen Aeriens Hände über Narissas nackten Rücken, fuhren die Konturen der Schulterblätter nach, während Narissas Hände bebend, unsicher unter Aeriens Obergewand glitten und langsam über die zarte Haut ihres unteren Rückens tasteten. Ein Kribbeln überlief Narissas ganzen Körper, als Aeriens Hände den kleinen Knoten erreichten, der ihr Kleid hinter dem Rücken zusammenhielt. Wenn dieser Knoten gelöst wurde, fehlte nicht viel, und das Kleid würde herunterfallen.
Sie unterbrach den Kuss, nahm Aeriens erhitztes Gesicht in beide Hände, und flüsterte: "Bist du dir sicher?" "Ich war mir noch nie zuvor bei etwas so sicher", erwiderte Aerien ebenso leise, und Narissa spürte ihr Herz einen kleinen Sprung vor Aufregung und Nervosität machen.
"Hast du sowas schonmal erlebt?", fragte sie, während Aerien langsam, viel zu langsam an dem Knoten zog. "Ich weiß nicht", wisperte Aerien, und der Knoten löste sich. "Im Traum?"
Nun hielt das Kleid nur noch an Narissas Körper, solange sie keine großen Bewegungen machte, und Aerien legte die Hände auf ihre Hüfte. Narissa biss sich auf die Lippe, und mit einer kleinen Bewegung von Aeriens Händen glitt das Kleid fließend herunter und landete um Narissas Füße. Aerien sog scharf die Luft ein, und Narissa konnte den Blick nicht von ihren leuchtenden Augen abwenden.
Aerien legte ihr die Hände auf die Schultern, fuhr mit den Daumen die Schlüsselbeine entlang, und wanderte dann langsam tiefer.
"Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe", flüsterte sie, und mit einem seligen Lächeln fragte Narissa: "Schöner als das Meer?"
"Mit Abstand", gab Aerien zurück, und als ihre tastenden Finger Narissas Brüste erreichten, atmete diese scharf ein und packte mit einer raschen Bewegung den Stoff von Aeriens Oberteil. "Ich finde es ungerecht, dass ich nackt bin und du nicht", sagte sie mit rauer Stimme. "Das sollten wir dringend ändern."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Narissas Heimat
« Antwort #11 am: 30. Jan 2017, 15:29 »
Es war bereits spät in der Nacht, als Aerien erwachte. Neben ihr lag Narissa, halb verdeckt von einer der Decken, die sie sich teilten, und ihr regelmäßiger Atem schuf eine sehr friedliche und beruhigende Atmosphäre in dem kleinen, runden Raum. Durch das kleine Fenster fiel helles Mondlich hinein. Aerien stand mehrere Minuten staunend da und beobachtete, wie sich das Licht auf den Wellen spiegelte. Ein kühler Windhauch fuhr ihr durchs Haar und verwirbelte es. Sie hob eine der Decken auf und wickelte sie um ihren nackten Körper, ehe sie sich wieder dem Meer zuwendete.
Es sieht so friedlich und gleichzeitig so gewaltig aus, dachte sie. Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, auf einem der großen Schiffe über die Wellen zu gleiten, einem unentdecken Land und unzähligen aufregenden Abenteuern entgegen. Wo wir gerade bei "aufregend" sind...
Sie drehte sich um und setzte sich neben Narissa auf eines der Kissen. Vorsichtig platzierte Aerien den Kopf ihrer schlafenden Freundin auf ihrem Schoß, ohne sie dabei zu wecken. Sie dachte daran, wie der Abend verlaufen war, und spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen bei der Erinnerung an das aufstellten, was Narissa getan hatte. Was sie mit ihr getan hatte. Aerien war keine Jungfrau mehr gewesen, doch die Gelegenheiten, bei denen sie in Mordor mit jemandem geschlafen hatte waren selten, und stets rein körperlicher Natur gewesen. Es hatte ihr sehr geholfen, dass Narissa diejenige gewesen war, die als erste die Hüllen fallen gelassen hatte. Die Sicherheit, die ihr die Insel und der abgelegene, vergessene Leuchtturm boten, waren ebenfalls dabei behilflich gewesen, dass Aerien sich schließlich sicher genug gefühlt hatte und Narissa nicht davon abgehalten hatte, sie auszuziehen. Und was dann folgte war... traumhaft gewesen.

Nach einer halben Stunde regte sich Narissa und schaute verschlafen zu Aerien hoch. "Das ist die beste Art und Weise, auf die man nur aufwachen kann," sagte sie lächelnd.
Aerien erwiderte das Lächeln und strich sanft durch das weiße Haar, das längst nicht mehr die kunstvolle Form hatte, in die Minûlîth es gebracht hatte. "Ich weiß," erwiderte sie leise.
"Also, das war..." begann Narissa, und Aerien beendete den Satz für sie: "...einfach wunderbar."
"Mhmmm," machte Narissa. "Du sagst es."
Noch immer streichelte Aerien ihr sanft durchs Haar. "Womit habe ich nur so ein Glück verdient?" fragte sie verliebt.
"Schätze, es hat mit deinem Aussehen zu tun," erwiderte Narissa. "Du bist nämlich einfach unwiderstehlich." Sie setzte sich auf und blickte Aerien erwartungsvoll an.
"Dasselbe könnte ich über dich sagen," sagte Aerien und schloss ihre Freundin in eine herzliche Umarmung, die nach einigen langen Minuten mit einem Kuss endete. "Ich hätte nie gedacht, dass wir..." setzte Aerien an, und ließ den Satz unvollendet. Sie spürte, wie die Hitze in ihre Wangen zurückkehrte.
"Ich schon," erwiderte Narissa mit einem schiefen Lächeln. Dann zog sie die Decke beiseite, die Aeriens Oberkörper bedeckte und war bei ihr, ehe Aerien reagieren konnte. "Ich habe es gehofft."

Der folgende Morgen kam, und mit ihm ein strömender Regen. Da das Fenster des kleinen Zimmers nicht verschlossen war, wurden Aerien und Narissa schließlich von den dicken Regentropfen geweckt, die der Wind hereinwehte. Hastig zogen sich die beiden an, und Aerien staunte erneut über das wunderschöne Kleid, das Narissa in Ermangelung anderer Bekleidung wieder angezogen hatte. Nun, da Aerien wusste, was darunter lag, fand sie den Anblick umso ansprechender. "Meine Stiefel!" fiel es ihr ein als sie sah, wie Narissa in die weißen Schuhe schlüpfte, die Minûlîth ihr geliehen hatte.
"Die stehen wohl noch vor der Tür," stellte Narissa fest und musste lachen.
"Wie kommen wir denn jetzt nur zurück zum Turm?" fragte Aerien verdrossen. Der Regen kam ihr sehr ungelegen - sie wollte die Insel erkunden, das Innere des Turms kennenlernen und vor allem dorthin gehen, wohin Narissa ging. Und ihre Freundin hatte ihr bereits gesagt, dass sie noch so einige wichtige Gespräche führen musste.
"Na wie wohl," sagte Narissa. "Wir laufen - oder hast du zufällig Grauwind irgendwo gesehen?" Sie hatten die Pferde bei Yinzen im Versteck am Festland gelassen und er hatte versprochen, sich gut um die beiden zu kümmern.

Als sie am Turm ankamen waren sie nass bis auf die Haut. Narissa klopfte lautstark an die Tür und war wenig erfreut, als der junge Hírilorn aufmachte. Das kurze Kleid verdeckte nun, da es nass war, weniger, als Aerien recht war. Sie stellte sich schützend vor Narissa, denn immerhin trug sie Kleidung, die Schultern und Arme bedeckte. "Kommt herein, kommt herein, meine Damen," beeilte Hírilorn sich zu sagen, als er seine Sprache wieder gefunden hatte. Seine Blicke waren Aerien unangenehm, weshalb sie erleichtert aufatmete, als Minûlîth die Treppe zu den höher gelegenen Stockwerken hinab kam.
"Ihr armen Dinger," sagte sie mitleidsvoll und mit einer befehlsgewohnten Geste gab sie einer Bediensteten zu verstehen, dass sie frische Kleidung für Aerien und Narissa holen sollte. "Wie ich sehe, habt ihr euch vom Regen überraschen lassen," fuhr die Herrin der Insel fort. "Am besten geht ihr erst einmal in dein Zimmer, Narissa. Ich lasse euch dann Sachen zum Umziehen bringen; ich habe da ein paar Stücke gefunden, die euch gut passen sollten."
"Du hast ein Zimmer im Turm, nur für dich allein?" fragte Aerien begeistert, und Narissa nickte. Sie ergriff Aeriens Hand und führte sie die Treppe hinauf, weiter und weiter in die Höhe, bis Aeriens Beine zu schmerzen begannen. Auf der zweitobersten Ebene hielt Narissa schließlich an und öffnete eine neu aussehende Tür, die in ein kleines Zimmer führte. Als sie ihrer Freundin ins Innere folgte, ließ Aerien neugierig ihren Blick durch den Raum schweifen.
"Er sieht nicht mehr wirklich so aus wie vor einem Jahr," erklärte Narissa.
"Aber es ist deiner," erwiderte Aerien. "Hier bist du aufgewachsen." Es fühlte sich aufregend an, an einem so persönlichen Ort von Narissa zu sein. Der Blick, der sich ihr durch das Fenster bot, war atemberaubend, kein Vergleich zu der Aussicht aus dem kleinen Leuchtturm. Man konnte weit nach Norden über das Meer blicken und am rechten Rand des Sichtfeldes war die Küste zu sehen, die sich nach Nordwesten hin bis zum Kap von Umbar hinaufzog.
"Dann kennst du jetzt meine Heimat, und in Qafsah warst du auch schon," erwiderte Narissa. "Und eines Tages könnten wir vielleicht nach..."
"Sprich nicht davon," unterbrach Aerien sie etwas schärfer, als sie beabsichtig hatte. "Nicht hier. Nicht jetzt."
"Ich verstehe," antwortete Narissa und strich ihr beruhigend über den noch immer tropfnassen Kopf.
Minûlîth kam herein, gefolgt von Laedris, die einen Stapel Kleider trug. "Ihr habt Glück, dass meine Schwester nicht all ihre Sachen mit nach Gondor genommen hat," sagte Thorongils Frau im geschäftigen Ton.
"Deine Schwester ist in Gondor?" wiederholte Narissa neugierig. "Hat sie ebenfalls..."
"Sie dient Sauron ebenfalls nicht mehr - oder besser gesagt tat sie es niemals, genau wie ich. Sie hat ihren Verlobten nach Dol Amroth begleitet als dieser die Prinzessin nach Hause gebracht hat."
"Prinzessin?" wiederholte Aerien staunend, und gleichzeitig sagte Narissa: "Ich sehe schon, hier ist in meiner Abwesenheit so einiges passiert."
Minûlîth nickte. "Viel Gutes, aber auch einige nicht so gute Dinge. Wenn du dich umgezogen hast, solltest du mit Edrahil reden - er wartet auf deinen Bericht, Nichte. Er wird dir sicherlich gerne erzählen, was seit deinem Aufbruch aus Umbar passiert ist."
"So, werde ich das?" erklang Edrahils Stimme hinter ihr. Minûlîth drehte sich um und der Blick wurde frei auf Edrahil, der im Türrahmen lehnte.
"Kommt jetzt zu deiner Ungehaltenheit auch noch Ungeduld hinzu, Edrahil?" sagte Minûlîth. "Wie du vielleicht sehen kannst, ziehen sich die Mädchen hier gleich um. Zeig gefälligst etwas Anstand."
Edrahil zog eine Augenbraue nach oben. "Nun gut. Ich werde in meinem Arbeitszimmer zwei Stockwerke weiter unten auf dich warten, Narissa. Aber lass' dir bitte nicht zuviel Zeit."
"Ich mag ihn nicht sonderlich," flüsterte Aerien ihrer Freundin zu.
"Er ist nur ein alter, schlecht gelaunter Mann," gab Narissa ungerührt zurück. "Du wirst dich schon mit ihm vertragen."

Um Edrahil zu ärgern ließen sie sich besonders viel Zeit, während sie die nasse Kleidung gegen frische Sachen tauschten. Aerien ertappte sich dabei, wie sie Narissa beobachtete und blickte errötend zu Boden. Schließlich suchte sie sich ein recht schlichtes, rotes Kleid aus, das einen runden Ausschnitt und kurze Ärmel besaß. Narissa hingegen wählte ein ähnlich geschnittenes Kleid in den Farben der Turmherren: weiß bis zur Taille, Oberteil und Ärmel in saftigem Gelb. Aerien fand, dass sie darin ganz bezaubernd aussah. Sie umarmte Narissa und ergiff dann ihre Hand. "Komm, lassen wir Edrahil nicht noch länger warten, ehe er uns gar nicht mehr ausstehen kann," sagte sie.
"Du willst wirklich mitkommen?" fragte Narissa etwas verwundert.
"Natürlich," erwiderte Aerien. Wieso auch nicht?
"Ich dachte nur, es könnte vielleicht langweilig werden," sagte Narissa. "Wobei ich natürlich verstehen kann, dass du so sehr wie ich wissen willst, was in Umbar passiert ist. Also gut - gehen wir."
Gemeinsam stiegen sie die Treppen zu Edrahils Zimmer hinab.
« Letzte Änderung: 15. Feb 2017, 14:01 von Fine »
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #12 am: 2. Feb 2017, 18:03 »
Edrahil hob den Kopf, als Narissa und Aerien sein neues Zimmer im Turm betraten. Er hatte das halbrunde Gemach, das durch eine hölzerne Wand in Schlaf- und Arbeitsbereich geteilt wurde erst am Tag zuvor bezogen, und verfluchte seine Entscheidung im Stillen bereits - die lange Treppe tat seinem Knie keineswegs gut.
"Meine Einladung galt eigentlich nicht euch beiden", sagte er ungehalten, aber wenig überrascht. Er sah den rebellischen Ausdruck auf Narissas Gesicht, und kam ihrem Widerspruch zuvor: "Also, Narissa: Raus." Der rebellische Ausdruck verwandelte sich in Überraschung, als die Mädchen rasche Blicke tauschten.
"Aber ihr habt gesagt...", setzte Narissa an, doch Edrahil unterbrach sie kurzerhand: "Ich weiß was ich gesagt habe. Entweder geht ihr beide, oder nur du."
Erneut tauschten die beiden intensiv Blicke aus, bis Aerien Narissas Hand drückte und beinahe unmerklich nickte. Edrahil konnte sich gerade noch daran hindern die Augen zu verdrehen, und bedeutete Aerien, sich auf den Stuhl ihm gegenüber zu setzen, sobald Narissa das Zimmer verlassen und die Tür dabei ein wenig zu heftig hinter sich zugezogen hatte. Und dabei hatte Edrahil geglaubt, nach Valion und Valirë auf alles vorbereitet zu sein.
"Du weißt vermutlich bereits, worum es mir geht", sagte Edrahil ohne Umschweife, beugte sich leicht vor und faltete die Hände auf dem bereits mit Papieren und Karten übersäten Tisch. Aerien nickte, und antwortete: "Ja. Es geht darum, wo ich herkomme, und ihr wollt wissen, ob ich wirklich und endgültig mit Mordor gebrochen habe." Edrahil stellte fest, dass sie ihm direkt ins Gesicht blickte, seinem forschenden Blick nicht auswich und nicht nervös wirkte. Lediglich ein kleines bisschen Unbehagen glaubte er zu erkennen, doch sie verbarg es meisterhaft. Wenn sie tatsächlich die Wahrheit sagte, könnte ihm aus Mordor eine überaus wertvolle Waffe in die Hände gefallen sein.
"Allerdings", erwiderte er. "Minûlîth ist eine äußerst kluge Frau, die ihr Vertrauen nicht leichtfertig verschenkt, und normalerweise würde ihr Urteil mir genügen. Doch in deinem Fall mag ihr Blick für die Wahrheit durch ihren Wunsch, dass mehr aus ihrem Volk ihrem Weg folgen, getrübt sein." Bevor Aerien etwas entgegnen konnte, hob er die Rechte und gebot ihr, zu schweigen - und stellte erfreut fest, dass sie keine Anstalten machte, trotzdem zu sprechen. Im Gegensatz zu Narissa hatte sie offenbar keine Schwierigkeiten damit, sich im rechten Moment unterzuordnen und zuzuhören, bevor sie sprach.
"Ich will dir damit nichts vorwerfen, denn ich glaube, dass du zumindest jetzt gerade aufrichtig bist." Das war die Wahrheit, denn mit den Jahren hatte Edrahil gelernt, Lüge sorgfältig von Wahrheit unterscheiden zu können, ohne dass sein Gegenüber viel sagte. Und entweder war Aerien eine unglaublich meisterhafte Lügnerin, wie sie ihm noch nie begegnet war, oder sie stand tatsächlich im Moment gegen Mordor - oder zumindest zu Narissa. Das war ein wichtiger Unterschied, und er plante herauszufinden, was von beidem es war.
"Worauf ich hinaus will - es ist nicht zu übersehen, was zwischen dir und Thorongils Nichte abläuft", fuhr er fort, und Aerien zeigte erneut kaum eine Reaktion außer einer leichten Röte auf den Wangen. Das ist gut, dachte er bei sich. Während Narissa ihm in diesen Belangen noch etwas ungeschliffen und ungestüm zu sein schien, würde Aerien eine perfekte Spionin abgeben können, falls sich die Gelegenheit ergab.
Edrahil sprach weiter: "Und da liegt das Problem. Bist du erst durch sie auf den Gedanken gekommen, dich von Mordor abzuwenden? Denn die Liebe ist eine gefährliche Sache, und sollte sich eines Tages etwas ändern - was ich euch nicht wünsche - muss ich wissen, ob du eine Gefahr für uns wärst." Er verstummte, und wartete ruhig Aeriens Antwort ab.
Schließlich sagte sie langsam, wohlüberlegt: "Als ich Narissa das erste Mal traf, hatte ich bereits lange zuvor mit Mordor gebrochen. Ich begann an den Wahrheiten, die mir über den Westen erzählt wurden zu zweifeln, als ich etwas über Tar-Míriel las, und herausfand, dass sie ebenfalls diesen Anhänger getragen hatte." Sie zog den fünfzackigen Stern aus dem Ausschnitt ihres Kleides hervor, und Edrahil merkte sich sein Aussehen genau. Später würde er versuchen, etwas darüber herauszufinden um zu überprüfen, ob dieser Teil von Aeriens Geschichte der Wahrheit entsprechen konnte.
"Je mehr ich über Gondor und Arnor und die Dúnedain des Westens las, desto mehr wollte ich auch ihre Seite der Geschichte kennenlernen", fuhr Aerien fort. "Und so sprach ich schließlich im Dunklen Turm mit dem einzigen Menschen, der mir die Wahrheit darüber erzählen konnte: Aragorn, dem König von Gondor."
Edrahil gab sich die größte Mühe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, doch es schien ihm nicht ganz zu gelingen und ein kleines Lächeln erschien auf Aeriens Gesicht. Also sagte er: "Nun, ich will nicht leugnen, dass mich das überrascht. Es war also wirklich keine Lüge Saurons, dass er noch am Leben ist, und du weißt, wo er gefangen gehalten wird..." Er verstummte, und begann nachzudenken. Auf der einen Seite hatte er Aerien, die sich in Mordor auskannte und wusste, wo Aragorn gefangen gehalten wurde - und auf der anderen Narissa, die ihr Leben lang darin ausgebildet worden war, heimlich in feindliches Territorium einzudringen. Die offensichtliche Beziehung der beiden gab dem ganzen allerdings eine gewisse Unwägbarkeit - dass beide bereit wären, sich für die jeweils andere in größte Gefahr zu begeben, mochte hilfreich sein, doch falls es notwendig sein sollte, die andere für das Gelingen der Mission zu opfern auch den Erfolg ihrer Aufgabe gefährden.
Edrahil unterbrach seinen Gedankengang, und bedeutete Aerien, fortzufahren. "Er brachte mich schließlich zu dem Entschluss nach Gondor zu gehen, denn ich hatte begriffen, dass Sauron der Grund für den Krieg, den die Nachfahren Númenors gegeneinander führen, ist. Er ist böse, und er muss besiegt und vernichtet werden."
"Darin sind wir uns einig", erwiderte Edrahil. "Wenn ich dich richtig verstehe, richtest du dich allerdings gegen Sauron selbst, und nicht unbedingt gegen deine Verwandten in Mordor."
Aerien erwiderte seinen Blick standhaft, und nickte. "Ich glaube, kein Mensch wird böse geboren - und erst recht keiner der Númenorer. Sie werden dazu gemacht, und wenn Sauron fort ist... vielleicht könnten wir Frieden haben, und diesen lange geführten Krieg beenden." Bei diesen Augen glänzten Aeriens graue Augen. Offensichtlich stand sie fest hinter dieser Idee, die ein Problem sein konnte. Denn Edrahil würde nicht zögern, sämtliche Schwarzen Númenorer in Mittelerde auszulöschen, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Und deshalb würde die nächste Antwort auch darüber entscheiden, ob er Aerien trauen konnte - oder nicht.
"Antworte mir ehrlich, auch dir selbst gegenüber", forderte er sie auf. "Falls es dazu kommt, wärst du dennoch bereit, auch gegen deine Familie zu kämpfen und sie im Zweifelsfall zu töten?" Aerien schwieg einige Zeit, und Edrahil drängte sie nicht zu einer Antwort. Er wusste, dass er eine überaus schwierige Entscheidung von ihre verlangte, und schuldete ihr die Zeit, ausreichend darüber nachzudenken.
Irgendwann antwortete Aerien langsam: "Ich habe in Qafsah gegen meinen Vetter Karnuzîr gekämpft und habe ihn aus einem Fenster gestoßen, obwohl ich wusste, dass er dabei sterben könnte." Sie sah auf, und blickte Edrahil fest in die Augen. "Nicht alle von ihnen sind rettungslos verloren - einige von ihnen sicherlich, aber vielleicht nicht alle. Ich würde versuchen, sie zu retten, doch wenn es nicht anders geht, keinen anderen Weg gibt... dann würde ich nicht zögern."
Edrahil verspürte Erleichterung über diese Antwort. Es war nicht ganz das gewesen, was er sich erhofft hatte, und Aerien musste es gewusst haben. Und trotzdem war sie absolut ehrlich gewesen, und nun wusste Edrahil, woran er war.
"Nun, in diesem Fall...", begann er, und lächelte. "Ich freue mich, dich hier zu haben, Aerien. Und ich hoffe, du nimmst mir mein Misstrauen nicht allzu übel - jahrelange Gewohnheit."
Aerien schüttelte den Kopf, und Edrahil sagte ein wenig lauter, doch ohne zu rufen: "Narissa."

Sofort wurde die Tür aufgestoßen, und Narissa stürmte mit funkelnden Augen ins Zimmer. Edrahil seufzte, und sagte: "Ich hätte wissen müssen, dass du lauschen würdest."
Ohne Aufforderung ließ das Mädchen sich in den Stuhl neben Aerien fallen, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und entgegnete: "Was hätte ich denn solange machen sollen, nachdem ihr mich rausgeworfen hattet?"
"Ich weiß nicht", meinte Edrahil gedehnt. "Karten spielen? Ein neues Kleid anprobieren? Messer werfen?" Der vernichtende Blick, den Narissa ihm zuwarf, genügte als Antwort.
"Nun, ich hoffe das Gehörte war auch für dich interessant - um nichts in der Welt würde ich dich langweilen wollen", fügte er ironisch hinzu, und Narissa, die Aeriens Hand ergriffen hatte, erwiderte ein wenig abwesend: "Ihr habt kaum etwas über mich gefragt."
Edrahil schnaubte amüsiert. "Mein liebes Mädchen, du bist nicht der Mittelpunkt von allem. Und außerdem gibt es über dich nicht viel, was man nicht erfahren kann, wenn man dich ein wenig beobachtet und dir zuhört. Du trägst das Herz auf der Zunge, könnte man sagen, hast es aber auch am rechten Fleck. Und deshalb würde ich nun gerne wissen, was du von Qúsay hältst."
Einen kurzen Augenblick schwieg Narissa rebellisch, doch als weder Edrahil noch Aerien eine Regung zeigten, ächzte sie. "Großartig. Lauter ernsthafte, beherrschte Menschen." Sie schnitt eine Grimasse, und Edrahil sah Aeriens Mundwinkel zucken, als Narissa berichtete: "Nun, ich glaube Qúsay meint es tatsächlich ernst mit dem was er sagt. Er plant nicht, nur die Herrschaft über Harad an sich zu reißen und dann gegen Gondor vorzurücken, und auch nicht, den Thron Gondors zu beanspruchen. Und er scheint tatsächlich ein überzeugter Feind Mordors zu sein."
Edrahil nickte langsam. Qúsays Abstammung von Castamir war ihm inzwischen nicht mehr unbekannt, und es erleichterte ihn, dass der Malik diesen offenbar nicht durchsetzen würde. "Das war auch mein Eindruck, als ich ihn getroffen habe", ergänzte Aerien zu Edrahils Überraschung. "Ich war in Begleitung eines Mannes namens Beregond aus Minas Tirith in Aín Sefra, und wir sind sogar ein Stück gemeinsam mit Qúsay gereist - auch, wenn er sich uns da noch nicht als Qúsay vorgestellt hatte."
"Also gut", meinte Edrahil. "Wie es aussieht, können wir diesem Bündnis vertrauen - ich werde sehen, was ich tun kann um Qúsay zu helfen. Falls ihr erfahren wollt, was in Umbar alles geschehen ist, muss ich euch leider enttäuschen, denn ich habe einiges zu erledigen. Aber ihr könntet Minûlîth danach fragen... oder Bayyin."
"Bayyin?", stieß Narissa hervor, und sprang von ihrem Stuhl auf. "Er ist auch hier? Warum habe ich ihn noch nicht gesehen?"
"Er ist vermutlich dabei zusammenzutragen, was von der Bibliothek das Feuer überstanden hat, und..." Edrahil unterbrach sich, als Narissa bereits aus dem Zimmer gestürmt war, und schüttelte langsam den Kopf. Dann sagte er zu Aerien, die sich mit einem etwas unsicheren Gesichtsausdruck erhob und in Richtung der Tür ging: "Mach dir keine Sorgen - der Schreiber ist in Umbar auf ganz andere Gedanken gebracht worden, was Frauen angeht."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Bayyins Nachforschungen
« Antwort #13 am: 8. Feb 2017, 21:07 »
Der Turm von Tol Thelyn verfügte über weitläufige Kellergewölbe, in denen unter anderem eine kleine Bibliothek untergebracht war. Aufgrund der unterirdischen Lage war nur ein kleiner Teil davon den Flammen zum Opfer gefallen. Als Aerien (die sich unterwegs mehrfach verlaufen hatte, da Narissa längst außer Sicht gewesen war als sie Edrahils Zimmer verlassen hatte) endlich dort ankam fand sie ihre Freundin dort an einem großen Tisch stehend vor, in der Gemeinschaft eines jungen haradischen Mannes, der die weiten und einfachen Gewänder eines Schreibers trug und sich gerade prüfend über eine alte Karte beugte.
"Hier, siehst du?" sagte Bayyin (denn um ihn handelte es sich bei dem jungen Mann offensichtlich) und zeigte auf eine Stelle auf der Karte. "Dort entspringt der Harnen-Fluss und nur eine Meile nördlich davon ist der Zugang eingezeichnet."
Aerien kam näher und erkannte, dass die Karte die Gebiete um Mordor, Harondor und Nah-Harad zeigte.
"Ist das Arandirs Karte von dem angeblichen geheimen Weg nach Mordor?" fragte Aerien mit einem etwas schärferen Unterton als sie beabsichtigt hatte und setzte sich neben Narissa auf einen der Hocker, die im Raum verteilt herumstanden.
Bayyin blickte erstaunt auf. "Ja, das ist die Karte, die ich in den Archiven des Fürstenpalastes von Umbar fand," erklärte er und wandte sich ihr dann zu. "Mein Name ist Bayyin," stellte er sich höflich vor.  "Und du musst Aerien sein, wenn mich nicht alles täuscht." Er beobachtete sie interessiert.
"Ganz richtig," bestätigte Aerien und schenkte Bayyin ein Lächeln. Doch dann blickte sie zu Narissa hinüber, die noch kein Wort gesagt hatte und weiterhin auf die Karte starrte. Aeriens Gesichtsausdruck wurde vorwurfsvoll als sie ihrer Freundin leise zuflüsterte: "Du bist einfach weggerannt und hast nicht auf mich gewartet."
Narissa blinzelte und wandte schließlich den Blick von der Karte ab. "Was? Äh - ach so; ich dachte, dich interessiert dich vielleicht gar nicht so sehr, was ich mit Bayyin zu bereden habe. Oder - vielleicht auch nicht. Als Edrahil sagte dass er hier ist, bin ich gleich losgelaufen um ihn zu sehen," sagte sie.
"Ohne mir zu sagen wohin du gehst," erwiderte Aerien und ertappte sich dabei, dass sie schmollend die Lippen verzog.
Narissas Verwunderung wurde größer. "Du hast mich doch jetzt auch so gefunden, oder etwa nicht?"
"Ich habe mich einige Male verlaufen in diesen blöden Kellern hier," antwortete Aerien. Sie konnte nicht verstehen, warum es Narissa so egal zu sein schien. "Ich wollte doch... bei dir sein." fügte sie leise hinzu.
"Ich gehe ja nicht weg," erwiderte Narissa. "Ich wollte nach Bayyin sehen und ihn fragen, wie es ihm ergangen ist, und was er herausgefunden hat."
An dieser Stelle räusperte sich der Schreiber und sagte etwas unbeholfen: "Ja, also... dazu vielleicht noch folgendes...  die Informationen über den geheimen Pfad  sind wirklich nur aus dieser einen Quelle belegt; niemand sonst (abgesehen von Arandir vom Turm) hat jemals davon berichtet. Ob dieser Weg also tatsächlich existiert kann ich momentan nicht sicher sagen."
Aerien vergaß ihren Ärger auf Narissa und studierte die Karte nachdenklich. "In Mordor ist dieser Pfad jedenfalls nicht bekannt, und man sollte eigentlich meinen, dass der Dunkle Herrscher sein Land in- und auswendig kennt nachdem er bereits zwei Zeitalter dort gelebt hat."
"Wenn Arandir den Weg hier so deutlich und eindeutig eingezeichnet hat, dann muss es ihn geben," entgegnete Narissa entschlossen. "Es gäbe keinen Grund für ihn, so etwas einfach zu erfinden."
"Nehmen wir für den Moment einmal an, der Pfad existiert wirklich," sagte Bayyin bedacht und fuhr die blaue Linie, die den südlichen Grenzfluss Harondors darstellte mit seinem Zeigefinger nach. "Man müsste dem Verlauf des Harnen hier... bis zu seiner Quelle folgen, und von dort... hier in den niedrigen Ausläufern des Schattengebirges ungefähr eine Meile weiter nach Norden wandern. In Arandirs Reisebericht steht, dass es dort einen großen Felsen gibt, der den Pfad verdeckt, und in den er einen weißen Baum eingraviert hat. Wie der Weg all die Jahrhunderte über unentdeckt geblieben ist, kann ich auch nicht sagen."
"Auf der anderen Seite liegt der südwestliche Teil von Nurn," stellte Aerien fest. "Nurn ist der einzige Ort in Mordor, an den etwas wächst, und dort werden Sklaven zur Arbeit auf großen Feldern gezwungen. Aus Nurn kommt die Nahrung für die Armeen Mordors."
"Ist der südwestliche Teil in irgend einer Art besonders?" fragte Narissa.
"Dort gedeiht nur sehr wenig, weil das Land von Gebirge zum Salzmeer von Rhûn sehr steil abfällt und sehr felsig ist," erklärte Aerien. "Außerdem gibt es dort berüchtigte wilde Bestien, die in Höhlen leben und nachts zwischen den Klippen umherstreifen. Das sind zwar nur Gerüchte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da etwas wahres dran ist."
"Klingt nicht sehr einladend," kommentierte Narissa.
"Nun, es ist jedenfalls äußerst interessant, die Sichtweise von jemanden kennenzulernen, der Saurons Land von innen gesehen hat," sagte Bayyin. "Wenn du einmal etwas Zeit übrig hast, würde ich gerne alle wichtigen Informationen darüber schriftlich festhalten... dabei würde ein Dokument entstehen, wie es in keiner anderen Bibliothek Harads zu finden wäre!" Bayyin Augen hatte einen Glanz angenommen, der die beiden Mädchen nun doch etwas überraschte.
"Nur zu," ermutigte Narissa. "Ich werde derweil nach meinem Onkel suchen; ich habe noch ein paar Fragen an ihn."
"Aber..." begann Aerien, doch Narissa unterbrach sie. "Wir sehen uns dann später wieder," sagte sie etwas kurzangebunden und eilte hinaus.

Etwas missmutig beantwortete Aerien Bayyins Fragen, die sich vor allem um Gebräuche und Gesetzesgebung in Mordor drehten, doch auch über die Befestigungsanlagen wollte der Schreiber alles wissen. Eine ganze Stunde dauerte es, bis Bayyin sich schließlich höflich bei Aerien bedankte und sich dann seinen Notizen widmete. Aerien fand den Ausgang diesmal ohne Umwege und stand schließlich unentschlossen in der Eingangshalle des Turmes. Sie wusste nicht, ob sie Narissa suchen sollte; zumal sie nicht einmal wusste, wo sie anfangen sollte. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass Narissa an diesem Tag auf Abstand zu ihr ging und verstand nicht, wieso. Nachdem sie sich am vergangenen Abend so nah wie noch nie gekommen waren... Was, wenn sie plötzlich gemerkt hat, dass ihr all das zu viel ist? Was wenn ich irgend etwas gemacht oder gesagt habe, das sie verschreckt hat? Was wenn sie mich nicht mehr haben will? Ein schrecklicher Gedanke jagte den nächsten und Aerien musste sich erst einmal setzen und tief durchatmen. Doch es gelang ihr einfach nicht, sich zu beruhigen.
"Du hast nichts falsch gemacht," sagte Minûlîths Stimme neben ihr und Aerien blickte auf. Die Herrin des Turms stand auf der Treppe, auf die Aerien sich gesetzt hatte und blickte wissend auf sie herab. "Aber du musst etwas langsamer machen, mein liebes Mädchen. Jetzt, wo du die Liebe entdeckt hast, stürzt du dich darauf wie jemand, der seit Wochen nicht richtig gegessen hat. Du bist... ein klein wenig zu anhänglich, Aerien."
"Anhänglich?" wiederholte Aerien betroffen. "Was meinst du damit?"
"Narissa und du, ihr teilt jetzt eure Leben miteinander, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass ihr auch jede einzelne Minute miteinander verbringen müsst." Minûlîth machte eine Pause und blickte Aerien prüfend ins Gesicht. "Etwas hat sich seit gestern verändert, nicht wahr? Ich kann mir denken, was geschehen ist, und ich freue mich für euch beide. Aber diese Nähe, die du erlebt hast, ist nichts, was für einen dauerhaften Zustand tauglich ist. Du musst Narissa auch etwas Freiraum lassen, verstehst du? Dann wird sie ganz von allein wieder deine Nähe suchen, wie es sicherlich auch vor... gestern Abend war."
Aerien musste zugeben, dass Minûlîth auf eine Art recht hatte, aber noch wollte sie es sich nicht eingestehen. Also schwieg sie und starrte die Eingangstür des Turms an, die wegen des anhaltenden Regens geschlossen war und nicht wie am Vortag offen stand.
"Ein Vorschlag meinerseits," sagte Minûlîth sanft. "Setz dich in Narissas Zimmer ans Fenster und schau ein Weilchen auf das Meer hinaus. Es übt noch immer Faszination auf dich aus, das spüre ich. Sei geduldig und mach deine Gedanken frei von allen Ängsten, einen Fehler gemacht zu haben. Wenn du abwartest, bis Narissa zu dir kommt, wirst du, glaube ich sehen, dass sie deine Nähe nicht abgeschreckt hat."
Aerien blickte der Frau ins Gesicht, die ungefähr im selben Alter wie ihre Mutter sein musste. Und sie erkannte, wie weise Minûlîth war.
"Vielleicht hast du recht," murmelte Aerien nachdenklich und stieg langsam die Treppen hinauf.

In Narissas Zimmer angekommen stellte sie das Bett unter das Fenster und kniete sich darauf so hin, dass sie ihre Arme auf das Fenstersims abstützen und aufs Meer hinaus blicken konnte. Der Regen hielt noch immer an, doch im Westen schien die Sonne hinter den Wolken hervor und zauberte etwas an den Himmel, das Aerien noch nie gesehen hatte und nun staunend betrachtete: einen Regenbogen.
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 15:49 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #14 am: 9. Feb 2017, 19:34 »
Narissa fand ihren Onkel in dem kleinen Garten hinter dem Turm, in dem sie als Kind viel Zeit verbracht hatte. Er saß auf einer der steinernen Bänke mit dem Rücken zur Mauer des Turmen, unter eine über drei hölzernen Pfählen aufgespannten Plane, die den sanften Regen abhielt. Als er Narissa durch den Regen herankommen sah, lächelte er und sagte zu Túor, der neben ihm auf der Bank gesessen hatte: "Na los, mein Sohn - such dir jemand anderen zum ausfragen. Vielleicht erzählt dir Hallatan ein bisschen was über sein Schiff, oder über die Rossigil..."
Der Junge glitt langsam von der Bank, doch die Enttäuschung in seinem Gesicht war sichtbar, bis Narissa leise zu ihm sagte: "Morgen zeige ich dir ein paar Tricks zum Kämpfen - wie versprochen." Ein Strahlen ging über das Gesicht ihres jungen Vetters, und er eilte deutlich fröhlicher in Richtung des Hafens davon. Narissa ließ sich an seiner Stelle neben ihrem Onkel auf der Bank nieder, und sagte nach einem Moment des Schweigens: "Großvater hat nie viel von dir gesprochen - bis vor einiger Zeit dachte ich sogar, du wärst tot."
"Das kann ich mir denken", erwiderte Thorongil mit einem leicht gequälten Lächeln. "Mein Vater und ich... hatten leider nie das beste Verhältnis. Wir hatten oft Streit, und als ich neunzehn Jahre alt war, lief ich davon."
"Er war nicht immer einfach...", meinte Narissa. "Aber... ich hätte ihn nie im Stich lassen können."
Thorongil schüttelte den Kopf. "Ich habe meinen Vater immer geliebt, auch nach unserem Streit. Doch ich war jung und dumm und die Verantwortung, eines Tages seinen Platz einzunehmen, so zu sein wie er... der Gedanke machte mich verrückt."
Narissa wollte gerade widersprechen, einwerfen, dass sie ebenfalls jung war und trotzdem nicht davonlaufen würde... bis sie sich daran erinnerte, wie erleichtert sie bei der Erkenntnis gewesen war, dass sie niemals das Erbe ihre Großvaters antreten müsste.
"Ich verstehe, glaube ich", antwortete sie langsam, und Thorongil fuhr fort: "Das einzige, was ich damals bedauerte war, meine Schwester zurück zu lassen." Er lächelte bei der Erinnerung, und Narissa spürte ihr Herz schneller schlagen, als das Gespräch auf ihre Mutter kam. "Herlenna war damals... dreizehn, und der Mensch auf der Welt, den ich am meisten liebte. Sie war immer fröhlich, trug gerne helle Kleider, und hatte ein Talent dafür, jeden aufzumuntern. In ihrer Anwesenheit war die Welt ein besserer Ort. Sie konnte allerdings auch so stur sein, dass nicht einmal unser Vater dagegen ankam. Doch er konnte nie lange böse auf sie sein... auf mich leider schon."
Er sah Narissa eine zeitlang an, betrachtete sie eindringlich. "Du erinnerst mich an sie - sie hatte dieselben grünen Augen, und diesen Hauch von Sommersprossen. Und wie mir scheint, hast du eine gehörige Portion ihrer Sturheit geerbt."
Narissa errötete ein wenig, und blickte zu Boden, auf den hellen Kies des Gartenwegs, an dem die Bank stand. Sie wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte, und so schwieg sie bis ihr Onkel mit rauer Stimme sagte: "Es ist ein kaum vorstellbarer Gedanke, dass sie... nicht mehr da ist. Dass sie tot ist. Denn das ist sie, nicht wahr?"
Narissa nickte zur Antwort nur stumm, und eine einzelne Träne tropfte in ihren Schoß. Sie hatte den Tod ihrer Mutter akzeptiert, doch das machte es nicht viel leichter, darüber zu sprechen. Ebenso wortlos legte Thorongil ihr einen Arm um die Schultern, und nach kurzem Zögern bettete sie den Kopf auf die Schulter ihres Onkels.
"Ich war bei ihr, kurz bevor...", brachte sie schließlich mühsam heraus. "Sie war... sie hatte Frieden gefunden, und sie wollte gehen."
"Das ist alles, was ich wissen muss", erwiderte Thorongil. "Dass sie nicht gelitten hat."
Erneut schwiegen sie eine Weile, während der Regen sanft auf die Plane trommelte. Schließlich fragte Thorongil leise: "Wer... ist dein Vater? Lebt er noch?"
Narissa befreite sich sanft aus seinem Arm, blickte ihm in die Augen und schüttelte dann langsam den Kopf. "Mein Vater war Yaran, ihm gehörte ein Gasthaus in Qafsah. Er hat meine Mutter sehr geliebt und sie ihn, glaube ich, auch. Jedenfalls waren sie glücklich miteinander."
"Es freut mich, das zu hören", erwiderte Thorongil. "Sie hatte es verdient, glücklich zu sein - solange es möglich war." Bei dem Ausdruck in Augen schmerzte Narissa, was sie als nächstes sagen musste, umso mehr: "Yaran war allerdings nicht... mein leiblicher Vater. Das ist Suladân."
"Suladân", sagte Thorongil zunächst verständnislos. "Der Herr von Qafsah, der sich Sultan der Haradrim nennt... und Mordors treuester Diener."
Narissa nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Bei dem Gedanken an den Sultan ergriff sie wie immer ein großer Zorn. Sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, wenn sie ihm ihren Dolch ins Herz rammen würde, doch vergeblich - sie wusste nicht einmal, wie er aussah.
"Und er hat Herlenna... hat sie...", sagte Thorongil stockend, und Narissa sah, wie sich der selbe Zorn in seinem Gesicht ausbreitete, als sie antwortete: "Sie hatte keine Wahl, außer sich stattdessen töten zu lassen."
Sie sahen sich schweigend an, während etwas Finsteres in Thorongils Augen trat. "Ich werde ihm für dich danken", sagte er schließlich langsam und mit fester Stimme. "Ich werde ihm danken... bevor ich ihn töte. Bevor ich ihm sein schwarzes Herz aus dem Leib schneide. Ich werde jeden töten, der meiner kleinen Schwester etwas angetan hat."
"Nein, Onkel", erwiderte Narissa, und schüttelte langsam den Kopf. "Suladân gehört mir. Durch ihn mag mein Leben begonnen haben, doch danach hat er Stück für Stück alles zerstört, was mir lieb und teuer war - fast alles." Dabei wanderten ihre Gedanken zu Aerien, die womöglich noch immer in der Bibliothek war, und sich von Bayyin ausfragen lassen musste, und mit einem Mal überkam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hätte ihre Freundin nicht einfach so stehen lassen sollen - und das zwei Mal an einem Tag, und nachdem sie...
"Ich verstehe", meinte Thorongil. "Doch ich werde alles tun, damit es so geschieht. Er muss bestraft werden." Ruckartig erhob er sich von der Bank, und ging zwei Schritte den kiesbestreuten Weg entlang, bevor er sich erneut zu Narissa umdrehte und traurig lächelte. "Ich wollte dir eigentlich einiges über mich erzählen - was ich all die Jahre getrieben habe, und wie ich zurückgekehrt bin. Wie ich Edrahil und Minûlîth aus Umbar herausgeholt habe, und wie wir die Rossigil aufgespürt haben... Und ich wollte so viel über dich erfahren. Aber jetzt nicht, jetzt... kann ich nicht."
Narissa nickte langsam, und spielte unbewusst mit einem kleinen Blatt, dass sie von einer Blume abgerissen hatte. "Wir haben Zeit", antwortete sie leise. "Und ich... könnte jetzt ebenfalls nichts über mich erzählen. Morgen vielleicht."

Als ihr Onkel den Garten mit langen, langsamen Schritten verlassen hatte, blieb Narissa noch einige Zeit sitzen, lauschte dem sanften Geräusch des Regens, und drehte das Blatt gedankenverloren zwischen ihren Fingern. Das Gespräch hatte sie mehr mitgenommen als sie zuerst gedacht hatte. Ihr war zuvor nicht bewusst gewesen, wie gern ihr Onkel seine Schwester gehabt hatte, und wie schwer ihn die Nachricht von ihrem Tod getroffen haben musste - und die Nachricht, wer ihr Vater war. Mit einer raschen Bewegung riss Narissa das Blatt in zwei Teile, ließ die Hälften zu Boden schweben, und stand auf. Sie wollte sich nicht in diesen Gedanken verlieren, und sehnte sich nach Gesellschaft. Nach der Gesellschaft einer bestimmten Person.
Im Keller des Turmes traf sie nur Bayyin an, der tief über seine Notizen gebeugt an einem Tisch stand, und ihr nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Anscheinend war Aerien ihm inzwischen entkommen, und so fragte Narissa: "Weißt du, wohin Aerien gegangen ist?"
Bayyin hob nur kurz den Blick, schüttelte den Kopf und antwortete: "Nein, keine Ahnung." Narissa wandte sich ab, denn offensichtlich wollte er nicht gestört werden, und eilte die Treppe wieder nach oben in die Eingangshalle, wo sie Laedris über den Weg lief.
"Laedris!", sprach sie die blonde junge Frau an. Laedris war nur ein Jahr älter als sie und als sie auf die Insel gekommen war, die Wortführerin unter den Kindern in der kleinen Siedlung gewesen. Sobald Narissa sich jedoch ein wenig eingewöhnt und Schock und Trauer überwunden hatte, hatte es einen kleinen Machtkampf zwischen ihr und Laedris gegeben, aus dem Narissa siegreich hervorgegangen war. Aus der Rivalität war schließlich Freundschaft geworden, zwar keine besonders enge, doch Narissa freute sich, dass Laedris dem Angriff entkommen war. "Hast du Aerien gesehen?"
"Ja, sie hat eben mit Herrin Melíril gesprochen - du hast sie nur knapp verpasst", antwortete Laedris, und stellte den Eimer mit Wasser, den sie getragen hatte, ab. "Ich glaube, sie ist hochgegangen in dein Zimmer - oder sollte ich euer Zimmer sagen?" Sie zwinkerte Narissa zu, die zu ihrer eigenen Überraschung spürte, wie sie errötete. Es hatte anscheinend nicht einmal einen Tag gebraucht, bis sich die Art der Beziehung zwischen ihr und Aerien unter sämtlichen Thelynrim herumgesprochen hatte.
"Danke, Laedris", sagte Narissa, und begann rasch die Treppe hinaufzusteigen, bevor Laedris ihr womöglich weitere Fragen stellen konnte. Sie wollte jetzt nicht über Aerien sprechen, sondern bei ihr sein.
In ihrem Zimmer angekommen, sah sie Aerien auf ihrem Bett am Fenster knien, und hinaus auf das Meer schauen. Narissa lächelte, zog leise die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel ebenso leise im Schloss herum. Dann trat sie hinter Aerien an das Bett, blickte an ihr vorbei durchs Fenster und sah den Regenbogen, der sich über dem Wasser gebildet hatte.
"Wunderschön, nicht wahr?", fragte sie leise, und Aerien gab zur Antwort nur einen zustimmenden Laut von sich. Narissa ließ ihre Finger leicht von Aeriens rechter Schulter zur linken und zurück wandern, und fragte ein wenig besorgt: "Du bist mir doch nicht etwa böse, weil ich dich mit Bayyin allein gelassen habe."
Aerien schüttelte den Kopf, wobei ihre Haarspitzen über Narissas Hand strichen. "Nein, bin ich nicht." Dann riss sie den Blick vom Regenbogen los, sah Narissa an und lächelte ein wenig verlegen. "Naja, vielleicht ein bisschen. Und ich hatte Angst, dass... ich dich verschreckt habe, und dass... dass du nicht..."
Narissa lächelte, und stieß sie sanft rückwärts auf die Matratze des Bettes. "Dass ich nicht was, hm?" Dann küsste sie Aerien leidenschaftlich und lange, und als der Kuss endete sagte sie ein wenig atemlos: "Nie im Leben könntest du mich damit verschrecken... ich werd's dir zeigen!" Damit kniete sie sich über Aerien, nahm ihr Gesicht in ihre Hände, und küsste sie erneut.

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Rat der Thelynrim
« Antwort #15 am: 11. Feb 2017, 14:15 »
Am folgenden Morgen versammelte Narissas Onkel Thorongil, der Herr der Insel, seine Familie und wichtigsten Berater an dem großen ovalen Tisch, der in einem der größeren Räume des Turms stand und an dem sie zuvor alle gemeinsam gefrühstückt hatten. Die lange Seite des Raumes, die an die Runde Außenmauer des Turms grenzte, war von einem sehr breiten Fenster durchbrochen,  durch das sich ein guter Blick über das Meer und den Hafen von Tol Thelyn bot. Die schweren roten Vorhänge waren beiseite gezogen worden und warme Seeluft und Sonnenstrahlen drangen herein.

Aerien saß zwischen Narissa und Kapitän Hallatan, dessen Schiff neben den beiden anderen, größeren Booten fest vertäut war. Abgesehen von Thorongil selbst waren seine Frau Melíril, Meister Edrahil von Dol Amroth, sowie drei weitere Männer und zwei Frauen anwesend, aus denen Thorongils Rat sich heute zusammensetzte.
"Die Sicherheit und der Schutz der Insel müssen für den Moment oberste Priorität für uns haben," sagte Thorongil. "Mein Vater hat, wie Narissa mir berichtete, den Angriff Suladans früh kommen sehen, und nicht zuletzt dank seiner entsprechenden Vorbereitungen gelang es dem Großteil der Thelynrim, rechtzeitig zu fliehen. Wir müssen die Bewegungen unserer Feinde noch genauer überwachen als es damals der Fall war, und darauf vorbereitet sein, die Insel im Notfall erneut zu verlassen."
"Aber das hier ist unsere Heimat!" warf Narissa empört ein. "Willst du sie also einfach kampflos aufgeben und davonrennen, wie..." sie unterbrach sich als Aerien ihr vorsichtig die Hand auf den Unterarm legte.
"Ich bin nicht mehr wie früher," sagte Thorongil streng. "Aber einen Kampf zu bestreiten, den wir nicht gewinnen können, würde nur zu Tod und Verderben führen."
"Herr Thorongil hat recht," sagte Edrahil bedacht. "Gegen die geballte Macht eines haradischen Heeres kann die Weiße Insel nicht lange bestehen. Eure Hoffnung muss auf Heimlichkeit beruhen. Lasst den Hammerschlag niedergehen und euch (selbstverständlich organisiert und geplant) verstreuen, wie Wasser, das später wieder unversehrt zusammenfließt. Ich werde dafür sorgen, dass die Thelynrim in Gondor stets willkommen sein werden."
"Ich danke Euch, Meister Edrahil. Eure Worte sind weise. Und so werden wir es also halten: die gesamte Küste, die in Sichtweite der Insel liegt, soll scharf im Auge behalten werden, und die Häfen, die in den Händen unserer Feinde sind, sollen beobachtet werden. Auch wenn ich glaube und hoffe, dass Suladan und Hasaël von Umbar im Augenblick andere Probleme haben und sich nicht mit uns abgeben werden, ist es dennoch wichtig, zumindest auf die Möglichkeit eines erneuten Angriffes vorbereitet zu sein."
"Wenn Ihr erlaubt, Herr," nahm einer der Männer das Wort, die Aerien noch nicht kannte. Thorongil bedeutete ihm, weiterzusprechen, und er sagte: "Sollten wir nicht auch zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dem Malik, der in Ain Séfra gekrönt wurde, Unterstützung anzubieten? Es wäre durchaus in unserem Interesse, dass er den Krieg gegen Suladan gewinnt, und wenn Narissas Eindruck von ihm korrekt ist scheint Qúsay uns ebenfalls wohlgesonnen zu sein. Siegt er über Suladan, ist die unmittelbare Gefahr für die Insel vorbei."
"Ein guter Einwand, Ríador," sagte Thorongil. "Doch wir wissen, wer Suladan unterstützt: der Dunkle Herrscher von Mordor. Selbst wenn Suladan fällt bleibt die Gefahr, die im Schattenland droht, bestehen. Möge es niemals dazu kommen; aber wenn wir nicht vorsichtig sind wird sich dieser Schatten auch eines Tages bis an die weißen Strände von Tol Thelyn erstrecken."
"Dann sollten wir Arandirs Karte benutzen," warf Narissa entschlossen ein. "Mit Aeriens Wissen können wir dort ordentlichen Schaden anrichten und wichtige Gefangene befreien."
"Unter anderem den König von Gondor," ergänzte Aerien.
Das ließ Edrahil aufhorchen. "Dann ist es also bestätigt, dass Elessar am Leben ist, und in Mordor gefangen gehalten wird? In Dol Amroth zweifelte man zum Zeitpunkt meiner Abreise an der Wahrheit der Worte der Boten Saurons."
"Aerien hat ihn gesehen und mit ihm gesprochen," bestätigte Narissa, und Aerien nickte.
"Dann würde seine Befreiung Sauron sein größtes Druckmittel nehmen," überlegte Edrahil. "Gondor und Dol Amroth könnten wieder ungehindert militärisch gegen die von Mordor besetzten Gebiete vorgehen. Sollte eine Befreiung möglich sein, bin ich dafür, die Gelegenheit nicht ungenutzt zu lassen."
"Man kann doch nicht einfach nach Mordor spazieren," widersprach eine Aerien unbekannte Frau. "Wenn dieser geheime Weg tatsächlich existiert ist es nur schwer zu glauben, dass er noch immer unentdeckt ist."
"Wir können es nur sicher wissen wenn wir jemanden dorthin entsenden, Deireth," erwiderte Thorongil.
"Dann sollten wir genau das tun," antwortete Deireth. "Der Schreiber könnte eine Kopie der Karte anfertigen und dann könnte einer unserer besten Kundschafter nach dem Eingang zu diesem geheimen Weg nach Mordor suchen."
"Mein Sohn Hírilorn würde sich dafür eignen," meinte Hallatan. "Eine Aufgabe wie diese würde ihn unter anderem davon abhalten, hier auf der Insel auf dumme Gedanken zu kommen."
Die Anwesenden lachten herzlich - offenbar kannten sie alle den jungen Hírilorn bereits.
"Nun, seinen letzten Auftrag hat er tadellos ausgeführt, und er besitzt definitiv ein Talent dafür, sich ungesehen zu bewegen," sagte Ríador. "Ich stimme Hallatans Vorschlag zu."
Alle Augen wandten sich nun Thorongil zu, doch dieser blickte nachdenklich drein. "Darüber muss ich nachdenken," sagte er. "Es kann sein, dass wir bei diesem Weg nur einen einzigen Versuch haben."
Edrahil nickte zustimmend; offenbar war er derselben Meinung. "Für die nächsten Tage und Wochen sollten wir uns auf den Schutz der Insel und ihren Wiederaufbau konzentrieren. Wenn absehbar ist, in welche Richtung sich der Krieg in Harad entwickelt werden wir entscheiden, was diesbezüglich zu tun ist."
"Vergesst nicht die Verbündeten, die ihr habt oder haben könntet," sagte Edrahil. "Für die Unterstützung Dol Amroths und Gondor habe ich bereits gesorgt und werde mich auch in Zukunft darum kümmern. Und dann ist da noch der Silberne Bogen - Narissa, wenn mich nicht alles täuscht kannst du uns etwas mehr darüber sagen?"
Narissa nickte. "Aerien und ich sind mit dem Anführer der Gruppe befreundet, die als Silberner Bogen bekannt ist. Sie waren einst Teil der Assassinen, aber jetzt nicht mehr. Wir habe ihnen geholfen, ihre Burg gegen einen Angriff Salemes zu verteidigen, doch der Schattenfalke hat beschlossen, dass seine Gruppe ein neues Versteck braucht."
Erstauntes und aufgeregtes Raunen unterbrach sie. Offenbar war der Schattenfalke den meisten der Anwesenheit ein Begriff. "Seine Krieger verfügen über eine geradezu legendäre Ausbildung," sagte Deireth.
"Er wäre ein sehr mächtiger Verbündeter," meinte Ríador.
"Würde ein Bündnis denn nicht dazu führen, dass die Feinde des Silbernen Bogens auf die Insel kommen würden?" warf ein Mann ein, der bisher noch kaum etwas gesagt hatte.
"Das ist auch meine Befürchtung, Saivin," sagte Thorongil. "Dennoch denke ich, dass ich dem Schattenfalken und seinen Leute zumindest für einige Zeit auf Tol Thelyn Zuflucht gewähren würde, wenn sie hierher kämen. Durch die Silberbögen würde sich die Anzahl unserer Krieger und Spione auf einen Schlag verdoppeln."
"Dann sollten wir den versteckten Wachposten am Festland Bescheid geben," sagte Hallatan.
Die Ratssitzung zog sich noch ungefähr eine halbe Stunde hin, in der vor allem über Umbar gesprochen wurde und wie man es überwachen und Hasaël schaden könnte. Schließlich wurde beschlossen, dass drei von Thorongils besten Leuten in die Stadt geschickt werden sollten, um die Stadtwache zu infiltrieren. Nach dieser Entscheidung war die Besprechung zu Ende, und die Ratsmitglieder verließen den Raum, um sich ihren Aufgaben zuzuwenden.

Aerien und Narissa beschlossen, im Obstgarten zu picknicken und wurden von Laedris und mehreren ihrer Freundinnen begleitet, die Narissa von früher kannten. Zwar hatten sie zu Beginn noch einige wenige Vorbehalte Aerien gegenüber, doch es dauerte nicht lange bis es niemanden mehr zu stören schien, dass sie aus Mordor kam, und eine fröhliche Runde voller Austausch, guten Gesprächen und viel Gekicher entstand.
Im Anschluss daran machte Narissa ihr Versprechen wahr, das sie dem kleinen Túor gegeben hatte, und zeigte ihm, wie man mit dem Dolch umging. Aerien sah eine Weile zu, doch irgendwann verlor sie das Interesse. Sie erhob sich und sagte zu Narissa, dass sie sich etwas die Beine vertreten wollte, bis ihre Freundin mit ihrem Neffen fertig geworden war. Aerien umrundete den Turm und folgte der kleinen Straße zurück zum Hafen, eine Strecke, für die man ungefähr zwanzig Minuten brauchte. Als sie ungefähr auf halbem Weg ein kleines Wäldchen durchquerte, fiel ihr auf, dass der Boden an einer Stelle neben der Straße geschwärzt war; offensichtlich hatte hier jemand ein kleines Feuer gelegt, das nach kurzer Zeit von selbst wieder ausgegangen war. Aerien wunderte sich und sah sich die Stelle genauer an. Irgendetwas kam ihr daran bekannt vor, und als sie sich hinkniete, fiel ihr ein, was es war: während Ihrer Kampf- und Überlebensausbildung in Durthang hatte der Waffenmeister ihr beigebracht, mit kleinen, wenig rauchenden Feuern den Waldboden freizumachen, um dort etwas zu verstecken. Durch die Asche wurde dafür gesorgt, dass an der verbrannten Stelle schneller wieder etwas wuchs und das Versteck verbarg. Mit wachsender Sorge schob Aerien die aufgewühlte Erde vorsichtig beiseite und zog einen kleinen metallischen Gegenstand aus dem Boden... einen ihr nur allzu gut bekannten agân-Wurfstern. Sie wusste, was dieser Fund bedeuten musste...
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 15:56 von Fine »
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Der schwerste Weg
« Antwort #16 am: 13. Feb 2017, 19:57 »
Das kann nur eines bedeuten.

Aerien spannte sich an und tastete nach ihrem Schwert, um kampfbereit aufzuspringen, doch es war zu spät. Eine schlanke Klinge legte sich an ihren Hals. Das Metall fühlte sich kalt auf Aeriens Haut an und übte gerade genug Druck aus, um einen einzelnen Blutstropfen hervortreten zu lassen. Aerien war erstarrt und hoffte innerlich, dass sich das alles nur als Missverständnis herausstellen und die Klinge einem der Thelynrim gehörte. Doch sie wusste, dass diese Hoffnung trügerisch war. Sie wusste, wer hinter ihr stand. Es konnte niemand anderes sein als...
"Hallo, Azruphel," wisperte Karnuzîrs Stimme unangenehm nah an Aeriens linkem Ohr. "Du hast es mir ja wirklich einfach gemacht, dich zu finden. Fast schon zu einfach. Ich muss schon sagen; ich hätte mehr von dir erwartet. Deine Spur führte auf geradem Weg zur Insel der Turmherren... gerade in dem Moment wo Gerüchte über die Rückkehr der Dúnedain der Weißen Insel auftauchten. Wirklich vorhersehbar."
Aerien wagte nicht zu antworten. Wenn ihr Vetter hier war, musste das bedeuten, dass die versteckten Wachposten am Ufer tot oder abgelenkt waren. Sie fragte sich, ob er alleine war, als sich seine Hand unter ihre Schulter schob und Aerien anhob und auf die Beine stellte, ohne dass Karnuzîr den Dolch von ihrem Hals nahm.
"Vorwärts," befahl er und stieß sie in Richtung der dichter werdenden Bäume südlich der Straße. "Es wird Zeit, meinen Freunden meine zukünftige Frau vorzustellen."
Aerien setzte einen Fuß vor den anderen und unterdrückte den Würgereiz, der ihren Hals hinauf kroch. Sie hatte eine ziemlich gute Vorstellung von dem Leben, das sie als Karnuzîrs Frau erwarten würde. Um Liebe würde es dabei niemals gehen. Sie wusste, dass sie sich momentan keine falsche Bewegung leisten konnte. Karnuzîr wollte sie zwar eigentlich unversehrt nach Mordor zurückbringen, aber Aerien wusste, dass er dennoch nicht zögern würde, sie zu töten wenn sie es wagen würde, Widerstand zu leisten.

Sie kamen auf eine kleine Lichtung, auf der sie von drei Gestalten erwartet wurden: einem Mann, einer Frau, und einer dritten Person, die gefesselt war und einen Sack über dem Kopf hatte, sodass Aerien nicht erkennen konnte, um wen es sich dabei handelte. Die anderen beiden kamen ihr erst bekannt vor, als diese Karnuzîrs Anlkunft bemerkten. An ihren Stimmen erkannte Aerien die beiden geheimnisvollen Personen wieder, die sie in Qafsah belauscht hatte, kurz bevor sie den Ringgeist getroffen hatte.
"Sieht so aus als schuldest du mir drei Rationen, Rae," sagte der Mann selbstzufrieden. Er trug eine feste, rötliche Lederrüstung mit großen eisernen Schulterschützern. Sein Haar und Bart waren schwarz, lang und lockig. Als er aufstand sah Aerien, dass er mit zwei gezackten Schwertern bewaffnet war, die links und rechts an seinem Gürtel hingen.
"Die Kleine ist ihm also wirklich in die Falle gegangen," meinte die Frau, die offenbar Rae hieß. "Also gut, Breyyad, du hattest Recht." Sie trug ein Kettenhemd, das teilweise von dem langen blauen Halstuch verdeckt war, das um ihren Oberkörper geschlungen war. Ihre Haare waren schulterlang, hellbraun, und wurden von einem gestreiften Stirnband im Zaum gehalten. Ihre Augen waren dunkel.
Breyyad - der schwarzhaarige Mann - lachte und baute sich vor Aerien auf, die noch immer von Karnuzîrs Dolch in Schach gehalten wurde. "Hm," macht er und stupste sie mit seiner schweren Hand unsanft gegen die Brust. "Etwas zu dürr für meinen Geschmack, aber dass Gesicht ist ein echter Hingucker. Aber sowas kriegt man gegen genügend Bezahlung eigentlich in jeder größeren Stadt, Karnuzîr. Ich kann den Aufwand nicht so recht nachvollziehen."
"Wenn du dich an die Anweisungen des Sultans erinnern würdest, du riesiger Idiot, dann wüsstest du, dass wir nicht nur wegen dem Mädchen hier sind," zischte Rae. "Die Gerüchte sind wahr: diese lästigen Turmherren und ihr Volk haben überlebt und sind zurückgekehrt. Zu schade, dass Suladan momentan keine Zeit hat, um der Insel einen ordentlichen Besuch abzustatten..."
"Also gut," brummte Breyyad. "Dann lasst uns die Kleine verschnüren und einpacken, und dann nichts wie weg hier. Ich mag das Meer sowieso nicht - mochte es noch nie. In dieser Gegend gibt's auch so schon zu wenig Wasser, da muss es doch nicht auch noch versalzen sein."
"Ich hatte dich vorm Trinken gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören," warf Rae ein.
"Genug davon," unterbrach Karnuzîr. "Wir sind hier noch nicht fertig. Azruphel hat noch eine Aufgabe zu erfüllen."
Als Aerien das hörte, stieg ein schrecklicher Verdacht in ihr auf. Und dieser wurde beinahe augenblicklich bestätigt als ihr Vetter seinen Gefährten ein Zeichen gab, und Breyyad den Sack von Kopf der zweiten Gefangenen zog. Darunter kam Serelloth hervor, geknebelt, und mit einer Mischung aus Wut und Furcht in den Augen.
"Jetzt hör mir ganz genau zu, wenn du nicht willst, dass deiner kleinen Freundin etwas zustößt," raunte Karnuzîr Aerien ins Ohr. Seine Stimme hatte einen zutiefst bösen Klang angenommen. "Du wirst folgendes tun..."

Es waren die schwersten Schritte, die Aerien in ihrem gesamten bisherigen Leben getan hatte. Sie dachte an Serelloth und zwang sich dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen, obwohl sich jede Faser ihres Körpers dagegen sträubte. Die Straße zum Turn zurück kam ihr kurz vor - viel zu kurz. Und schon stand sie vor dem Eingang, schwer atmend, und kurz davor, sich schreiend auf den Boden zu werfen. Doch Karnuzîrs Anweisungen waren eindeutig gewesen. Unter Aufbietung ihres gesamten Willens betrat Aerien den Turm und zwang sich die Stufen hinauf, bis zu Narissas Zimmer. Sie begegnete weder Minûlîth noch Thorongil, die sie vielleicht aufgehalten hätten, und auch die Tür zu Edrahils Raum war verschlossen. Und so stand sie schließlich im offenen Durchgang und sagte zu Narissa: "Es gibt da etwas, das ich dir zeigen muss..."
Jeder Teil von ihr schrie danach, ihrer Freundin zu offenbaren, was gerade geschah, doch Karnuzîrs Drohung, Serelloth unvorstellbare Dinge anzutun hielt Aerien davon ab und brachte sie dazu, die Fassade gerade so aufrecht zu erhalten, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte.
"Was möchtest du mir zeigen?" fragte Narissa neugierig, kam zu ihr herüber und hauchte Aerien einen Kuss auf die Wange, was die Sache für sie umso unerträglicher machte. "Was ist mir dir? Stimmt etwas nicht?" fragte Narissa, ehe Aerien antwortete.
"Nein, alles in Ordnung," log sie mit blutendem Herzen und ergriff Narissas Hand. "Komm! Es ist nicht weit. Du wirst es sehen wenn wir dort sind."
"Eine Überraschung also," antwortete Narissa. "Also gut. Dann geh' voran!"

Aerien blieb still, während sie Narissa zu der Stelle führte, die Karnuzîr ihr beschrieben hatte. Und wie angewiesen hatte Aerien dafür gesorgt, dass ihre Freundin unbewaffnet war. Ihr eigenes Schwert hatte sie ebenfalls im Turm gelassen. Und so lief Narissa, wie Aerien vor ihr, ahnungslos in die Falle. Auf der kleinen Lichtung standen Karnuzîr und Breyyad, die die gefesselte Serelloth zwischen sich hatten und sie am Boden hielten.
"Was -" setzte Narissa zutiefst erschrocken hervor, riss die Augen auf und fuhr mit zur Abwehr erhobenen Händen herum, doch selbst für ihre schnellen Reflexe war sie diesmal zu langsam. Rae tauchte hinter ihr auf und trat ihr die Beine weg, sodass Narissa keuchend in die Knie brach. Zwei Dolche zeigten auf ihre Kehle.
Narissas Blick fiel auf Aerien, die tatenlos daneben stand. Als Aerien sah, wie sich Narissas Gesichtsausdruck von Überraschung zu Entsetzen und dann zu Wut änderte schüttelte sie heftig den Kopf, wagte aber nicht, etwas zu sagen.
"Willkommen, Turmerbin," sagte Karnuzîr hämisch. "So sieht man sich wieder."
"Du hättest tot bleiben sollen," zischte Narissa und spuckte aus. "Aerien hat dich..."
"Sie hat nichts dergleichen getan," erwiderte Karnuzîr mit einem bösen Lächeln. "Und ihr Name ist auch nicht... ich werde diese schmutzige Elbensprache nicht in den Mund nehmen. Sie ist Azruphel von Aglarêth, eine treue Dienerin Mordors. Und sie hat dich wirklich meisterhaft getäuscht. Einzigartig. Meinen Glückwunsch, Azruphel!"
"Nein, nein, du lügst! Aerien ist meine Freundin! Sie gehört nicht länger zu Mordor,!" schrie Narissa.
"Sie hat nie aufgehört, dem Großen Gebieter zu dienen," sagte Karnuzîr. "Hast du wirklich gedacht, sie würde ihr Volk einfach so verraten? Dachtest du, sie würde tatsächlich etwas für dich empfinden? Wie naiv! Wie tragisch!"
"Sag, dass das nicht wahr ist, Aerien!" rief Narissa, der inzwischen die Tränen über die Wangen strömten. "Sag, dass er lügt!"
Aerien wollte der Aufforderung nachkommen, doch sie wusste, dass sie es nicht tun konnte, ohne Serelloths Leben zu gefährden. Auch wenn es ihr das Herz brach: sie hatte sich innerlich damit abgefunden, ihre Freiheit und ihre Liebe im Austausch dafür zu opfern, dass Serelloth - und Narissa - unversehrt blieben. Also schüttelte sie nur stumm den Kopf und umklammerte das Medaillon Míriels, den Stern von Akallabêth, so fest, dass ihre Hand zu schmerzen begann.
"Nein... das ist eine Lüge," stieß Narissa hervor und sank tiefer auf die Knie. "Es ist nicht wahr!"
"Sieh es ein - du bist getäuscht worden," fuhr Karnuzîr unbarmherzig fort. "Dank Azruphels meisterlicher Infiltration wissen wir nun, dass die Überreste des Silbernen Bogens hierher unterwegs sind und dass die Verantwortlichen für Hasaels Sturz hier auf der Insel sind, die schon bald wieder ein Teil von Suladans Reich sein wird. Dank dir, Turmerbin!" Er stieß Serelloth grob zu Boden und das Mädchen gab einen erstickten Laut von sich. "So unterhaltsam das nun auch war; es wird Zeit, zu gehen." Er zog einen seiner Wurfsterne hervor und schleuderte ihn in Serelloths Richtung. Aerien riss entsetzt die Augen auf als sie sah, dass sich der agân tief in ihre Brust gebohrt hatte und Blut aus dem Schnitt hervorquoll.
"Du solltest besser nach deiner Freundin sehen, ehe sie stirbt," höhnte Karnuzîr. "Viel Zeit bleibt ihr nämlich nicht mehr! Und wir werden in der Zwischenzeit verschwunden sein. Auf dass unser nächstes Treffen ebenso erfreulich sei!"
Er stapfte durch den Wald davon, und Rae und Breyyad folgten ihm. Aerien warf einen letzten Blick auf Narissa, die an Serelloths Seite geeilt war und versuchte, die Blutung zu stoppen. Dann folgte sie ihrem Vetter, und als Narissa ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte, ließ Aerien den Tränen freien Lauf.


Aerien mit Karnuzîrs Gruppe zur Mehu-Wüste
« Letzte Änderung: 4. Mai 2017, 13:36 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #17 am: 13. Feb 2017, 20:07 »
Narissa kniete neben Serelloth, deren Bewusstsein bereits zu schwinden schien, und betrachtete verzweifelt die Verletzung, die Karnuzîr dem Mädchen zugefügt hatte. Der Wurfstern war ein winziges Stück rechts des Brustbeines tief eingedrungen, genau zwischen zwei Rippen hindurch und steckte noch immer tief im Fleisch. Narissa zog leicht an dem kalten Metall, doch der Stern besaß Widerhaken und rührte sich nicht. Stattdessen stöhnte Serelloth dumpf vor Schmerzen auf, und aus der Wunde trat ein Schwall Blut aus und mischte sich mit Narissas Tränen, die die ganze Zeit über auf den Oberkörper des Mädchens tropften.
"Was mache ich nur?", flüsterte Narissa vor sich hin, und sah sich verzweifelt auf der kleinen Lichtung um. Sie verdrängte jeden Gedanken an Aerien - Azruphel - aus ihrem Geist, denn sonst wäre sie hier und jetzt zusammengebrochen. Für den Moment zählte nur Serelloth.
Der Atem des Mädchens ging schnell und flach, doch ansonsten normal und es war kein Blut an ihrem Mund zu sehen - also war die Lunge vermutlich durch ein Wunder (oder Karnuzîrs Wurfkünste) unverletzt geblieben. Narissa ordnete mühsam ihre Gedanken. Wenn die Lunge unverletzt geblieben war, ging die größte Gefahr von der Blutung aus, die die Wunde verursachte. Also riss sie ohne zu zögern ein breites Stück Stoff vom Saum ihres Kleides ab, legte es rund um den Wurfstern herum auf die Wundränder, und drückte vorsichtig leicht darauf, um die Blutung zu stoppen. Serelloth erzitterte leicht, und lag dann wieder still, das Gesicht bleich wie der Tod und die Augen geschlossen.
"Du darfst nicht sterben, hörst du?", flüsterte Narissa. Sie wagte es nicht, um Hilfe zu rufen, denn vielleicht war auch das hier nur eine weitere Falle, um mehr ihrer Freunde in den Tod zu locken. "Es sind nur noch wir beide übrig, und selbst wenn du mich hasst, will ich nicht, dass du stirbst." Weitere Tränen tropften auf Serelloths blutgetränkte Kleidung. ´
In ihrem Kopf jagten die Gedanken umher wie kleine Fische, gefangen in einem Netz. Wie war Serelloth überhaupt in Karnuzîrs Hände gelangt? Was war mit Níthrar geschehen, der sie doch begleitet hatte, hatte sie diesen Freund auch verloren? Azruphel musste Karnuzîr verraten haben, in welche Richtung Níthrar und Serelloth aufgebrochen waren - wie genau, spielte keine Rolle. Und dann... arbeitete Saleme mit Karnuzîr zusammen? Hatte Azruphel - Narissa weigerte sich, von ihre als Aerien zu denken - ihr die Position der Burg des Silbernen Bogens verraten?
"So viel Verrat..."

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als aus Richtung der Straße drei Männer zwischen den Bäumen hervorkamen. Es waren Edrahil, auf seinen Stock gestützt, keuchend und mit Schweißperlen auf der Stirn, ihr Onkel Thorongil, der beinahe so grau im Gesicht war wie Serelloth, und Hírilorn, dem der Schock ebenfalls deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
"Was... ist hier passiert?", stieß Edrahil scharf hervor, während Thorongil neben Serelloth auf die Knie ging, Narissas Hände sanft von der Wunde zog und de Stoff selbst darauf drückte. Über die Schulter sagte er rasch zu Hírilorn: "Hol jemanden, der ihr helfen kann - sofort." Ohne ein Wort verschwand Hallatans Sohn zwischen den Bäumen, und Thorongil wandte sich wieder Narissa zu, die sich nicht gerührt hatte und auf ihre blutigen Hände starrte.
"Wer ist sie?", fragte er, und deutete mit einem Nicken auf Serelloth. "Und wer hat das getan?"
"Se-Serelloth", sagte Narissa mit schwankender, brüchiger Stimme. Sie hatte beiden Männern erzählt, wer Serelloth war, deshalb erklärte sie nicht weiter, sondern fuhr langsam und mühsam fort: "Und das war... Karnuzîr. Er hat... Er hat sie verwundet, damit... damit er entkommen konnte, mit, mit, mit... Azruphel." Ihre Stimme war immer leiser geworden, sodass sie am Ende nur noch ein Flüstern war und schließlich brach.
"Azruphel...", sagte Edrahil langsam, und blickte aus dunklen Augen auf sie hinunter. "Das heißt also..."
"Sie hat mich verraten!", stieß Narissa hervor, kam unbeholfen auf die Füße und taumelte einen Stück zurück. Es auszusprechen war beinahe so schlimm wie es mit anzusehen, zu sehen wie ihre Freundin neben Karnuzîr stand und mit keiner Miene erkennen ließ, dass es Lügen waren, was er sagte. Es auszusprechen bedeutete, es zur Wahrheit zu machen, und das riss Narissas Herz beinahe entzwei.
In Edrahils Augen las sie etwas, was sie dort nicht erwartet hatte, zu sehen: Mitleid, und Bedauern. Doch der Spion äußerte diese Gefühle nicht, sondern sagte leise: "Wir haben ein Warnsignal vom Festland erhalten, dass sich Feinde in der Gegend befinden. Wir waren gerade auf dem Weg zum Hafen, als ich eine kleine geschwärzte Stelle neben der Straße entdeckte, von der Spuren tiefer in den Wald führten - hierher. Du musst mir erzählen, was geschehen ist."
Thorongil, der noch immer auf Serelloths Wunde drückte, blickte zu Edrahil auf und sagte: "Jetzt ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, um..."
Narissa schüttelte den Kopf, und unterbrach ihn. Ihre Tränen waren versiegt, ausgetrocknet, und nur langsam begriff sie die Tragweite des Geschehenen. "Sie hat... mich hierher gelockt", begann sie stockend. "Karnuzîr war hier, und sagte, dass sie immer für ihn gearbeitet hätte, und dass sie nun wüssten... dass der Silberne Bogen hier Zuflucht sucht... dass die Turmherren wieder hier seid... dass ihr aus Umbar hierher geflohen seid... und dass Suladân uns wieder angreifen würde. Nur weil ich so dumm war, und geglaubt habe, sie wäre meine Freundin!" Den letzten Teil schrie sie beinahe, trat gegen einen kleinen Stein der zwischen den Bäumen davon flog, und spürte, wie ihr erneut Tränen über das Gesicht zu strömen begannen. Serelloth zuckte in ihrer Ohnmacht unruhig, und Edrahil betrachtete Narissa aus beinahe schwarz erscheinenden Augen, die jetzt keine Emotion mehr zeigten.
"Vielleicht hast du dich tatsächlich in ihr getäuscht", sagte er ruhig. "Doch vielleicht... es braucht viel, um mich zu täuschen. Und ich habe Aerien geglaubt."
"Niemand ist unfehlbar", gab Narissa bitter zurück. "Vielleicht seid ihr auch nur ein alter Mann, dessen Urteilsvermögen nachlässt."
Edrahil zuckte unmerklich zusammen, ließ sich aber nichts anmerken als er erwiderte: "Mag sein. Dennoch denke ich wird es interessant sein, zu hören was die junge Serelloth zu sagen hat, wenn sie überlebt..."

Zwei Stunden später kniete Narissa auf ihrem Bett, dass sie vor das Fenster gezogen hatte, und blickte auf das Meer hinaus. Das Wetter war noch schöner als an den vergangenen Tagen, die Sonne strahlte vom wolkenlosen, hellblauen Himmel und glitzerte auf dem Wasser des Meeres, und ein leichter Wind von Westen sorgte dafür, dass es nicht unangenehm heiß war - ein krasser Gegensatz zu dem, wie Narissa sich fühlte.
War alles nur ein Schauspiel gewesen, eine Lüge... wirklich alles? Und war es wirklich nötig gewesen, ihr Liebe vorzugaukeln - oder nur ein grausames Schauspiel, um ein wenig Spaß zu haben? Hatte Azruphel daher gewusst, sie in Ain Salah zu suchen? Aber warum hatte der Nazgûl dann versucht, sie mitzunehmen... nichts ergab mehr Sinn.
Als sie mit der verwundeten Serelloth in den Turm zurückgekehrt waren, hatte Narissa mit niemandem gesprochen - sie war sofort in ihr Zimmer geflüchtet, und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Der Raum duftete noch immer nach ihr und hier zu sein war eine langsame, schmerzhafte Qual - und dennoch wollte Narissa nirgendwo anders sein. Sie hatte gehört, wie sich Thorongil und Edrahil vor der Tür leise berieten - offenbar hatten Karnuzîr und seine Schergen Yinsen und Langlas überrascht und überwältigen können. Yinsen war tot, doch Langlas hatten sie nur für tot gehalten und so war es ihm gelungen, später das Warnsignal zu geben.
Jetzt klopfte es leise an Narissas Tür, und sie hörte Minûlîth fragen: "Narissa?" Narissa antwortete nicht, und rührte sich auch nicht vom Fleck sondern starrte weiter auf das Meer hinaus. Sie wollte mit niemandem reden. Sie wollte nicht denken, nicht fühlen... nicht existieren. Vorhin, auf der Lichtung, hatte sie kurz geglaubt, Azruphel zu hassen. Doch das Gefühl war vorübergegangen, und zurückgeblieben war nur eine gewaltige Leere in ihrem Inneren.
"Ich weiß, dass du allein sein möchtest...", fuhr Minûlîth auf der anderen Seite der Tür fort. "Aber... Serelloth ist aufgewacht, und sie will mit dir reden."
Bei diesen Worten zuckte Narissa zusammen, sprang ruckartig vom Bett auf und eilte zur Tür. Als sie diese entriegelte und aufriss, stand Minûlîth ihr direkt gegenüber, und lächelte traurig.
"Sie ist unten im Erdgeschoss", sagte sie. "Aber wenn du möchtest..."
Weiter kam sie nicht, denn Narissa fiel ihr in die Arme und ließ den Tränen ein weiteres Mal freien Lauf - obwohl sie eigentlich gedacht hatte, keine einzige Träne mehr in sich zu haben. Minûlîth strich ihr sanft über den Rücken, doch sie sagte nichts, und das war gut so. Narissa brauchte niemanden zum Reden, denn sie hatte nichts zu sagen, nur jemanden, der für sie da war.
Schließlich löste sie sich aus der Umarmung, trocknete sich mit einem Ärmel ihres Kleides das Gesicht ab, und rang sich etwas ähnliches wie ein Lächeln ab. "Ich bin bereit."

Serelloth lag in einem Bett, einen dicken Verband quer über der Brust und im Gesicht beinahe so weiß wie die Laken unter ihr. Dennoch, ihre Augen waren offen, und suchten sofort Narissas Gesicht. Hinter Narissa betraten Edrahil und ihr Onkel das Zimmer, und sie schickte sie nicht fort. Die beiden mussten ohnehin erfahren, was Serelloth zu sagen hatte, und das Mädchen schien es nicht zu stören. Als Narissa sich neben dem Bett auf einem Hocker niederließ, tastete Serelloth nach ihrer Hand und ergriff sie. Zu Narissas Erleichterung war sie nicht länger eiskalt, sondern warm.
"Ich scheine euch nur Schwierigkeiten zu machen", flüsterte das Mädchen, und trotz allem spürte Narissa ihre Mundwinkel zucken.
"Ich hoffe, du bist nicht wütend auf mich, weil ich weggelaufen bin?"
Narissa schüttelte langsam den Kopf. Was geschehen war, wäre ohnehin irgendwann geschehen, und Karnuzîr hätte einen anderen Weg gefunden, sie von der Verfolgung abzuhalten.
"Gut", stieß Serelloth mühevoll hervor. "Ich hasse dich nämlich gar nicht. Elendar ist ebenso wie ich freiwillig mitgekommen, und wusste um die Gefahr - Aerien hatte recht."
"Das ist nicht ihr Name", erwiderte Narissa langsam und mit zusammengepressten Kiefern. "Sie heißt Azruphel von Aglarêth, und ist eine treue Dienerin Mordors."
Der Schrecken in Serelloths Augen überraschte sie. "Nein, du... irrst dich", erwiderte Serelloth, und hustete angestrengt. "Sie wollte nur mich... mich..."
Ihre Augenlieder flatterten, und Narissa erkannte, dass das Bewusstsein sie wieder zu verlassen begann. Mit letzter Kraft sagte das Mädchen: "Sie wollte mich... beschützen." Dann fiel ihr Kopf zurück in das Kissen, und ihre Augen schlossen sich in erneuter Bewusstlosigkeit.
Als sie das Zimmer verlassen hatten, sagte Edrahil: "Nun, dass deckte sich mit meinem Eindruck. Vielleicht solltest du..." Narissa wartete nicht ab, was er zu sagen hatte, sondern eilte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ihr Herz klopfte wie wild, und in ihrem Kopf kämpften Unglauben und Hoffnung miteinander. Sie wollte glauben, dass es stimmte, dass sie nicht verraten worden war, dass Ae... Azruphel tatsächlich nur Serelloths Leben retten hatte wollen. Sie wollte es so sehr glauben wie sie nie zuvor etwas gewollt hatte, doch sie konnte es nicht. Erst wenn sie ihrer Freundin in die Augen gesehen hatte und die Wahrheit gehört hatte, würde sie ihr glauben... oder sie töten.
In ihrem Zimmer angekommen riss sie sich das Kleid herunter, und schlüpfte in ihre übliche Reisekleidung: Ein lockeres Hemd aus weißem Stoff, dass genug Platz zum Bewegen ließ, eine Hose aus weichem, hellbraunem Leder und Stiefel, die kurz unter dem Knie endeten. Dann, mit zwei Wurfmessern auf dem Rücken und ihren Dolchen - Ciryatans Dolch und das verbliebene Geschenk König Músabs - an beiden Seiten, eilte sie wieder die Treppe hinunter.
Unten stand Edrahil noch immer vor Serelloths Zimmer, und wirkte kein bisschen begeistert. Der Grund wurde Narissa klar, als ihr Onkel kurz nach ihr die Treppe hinunter kam, ebenfalls in etwas abgetragene Reisekleidung gehüllt, an der rechten Seite ein Schwert und an der linken einen Dolch.
Als er Narissa erblickte, nickte er grimmig. "Ich wusste, dass du gehen würdest", sagte er, und blickte Edrahil an: "Herr des Turmes oder nicht, ich werde jemanden, der meiner Nichte so etwas antut, nicht ungestraft davonkommen lassen."
Der alte Spion seufzte und nickte dann langsam. "Ich schätze, ich könnte euch ohnehin nicht davon abhalten. Aber ihr solltet euch wenigstens von eurer Frau verabschieden..."
Ein seltsames Jagdfieber hatte Narissa erfasst, und den Schmerz über die Geschehnisse in eine tiefe Ecke ihres Geistes verdrängt - er war noch immer spürbar, in jeder Faser ihres Körpers, doch er beherrschte sie nicht mehr. Sie würde Karnuzîr und seine Schergen finden, und sie töten. Und dann würde sie die Wahrheit über Azruphel von Aglarêth herausfinden.

Narissa und Thorongil zur Mehu-Wüste...
« Letzte Änderung: 21. Feb 2017, 09:58 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #18 am: 12. Mär 2017, 11:16 »
Narissa, Aerien, Thorongil und der Silberne Bogen aus der Mehu-Wüste

Obwohl nur eine Woche vergangen war, seit sie Tol Thelyn verlassen hatten, kam es Narissa viel länger vor, als Hallatan die Thoroval in den kleinen Hafen steuerte. Am Kai hatte sich wie zuvor eine kleine Menschenmenge versammelt um die Rückkehr ihres Herrn und die Ankunft der Neuankömmlinge vom Silbernen Bogen zu erleben. Ganz vorne stand erneut Minûlîth mit Túor an der Hand, und neben ihr Edrahil, dessen dunklen Augen nichts zu entgehen schien. Als erstes trat Thorongil vor seine Frau, und Narissa und Aerien neben ihm.
"Nun, anscheinend hattet ihr Erfolg", sagte Edrahil trocken, während Thorongil Minûlîth in eine Umarmung zog. Edrahil verzog keine Miene, das Lächeln beschränkte sich auf seine Augen. Narissa musste an das Gespräch denken, dass sie auf der Reise über Edrahil geführt hatten, und stieß Aerien grinsend den Ellbogen in die Seite. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, fand sie sich in Minûlîths Umarmung wieder, die danach auch die ein wenig verdutzte Aerien in ihre Arme zog.
"Ich bin froh, dass ihr beide wieder hier seid, und dass es euch gut geht", sagte Minûlîth schließlich. "Und ihr müsst mir unbedingt erzählen, was geschehen ist."
"Natürlich", sagte Narissa nickend, wobei sie mit Aerien einen wortlosen Blick tauschte, der Vielleicht aber nicht alles besagte. "Ich freue mich auch, wieder hier zu sein... zuhause." Ihr Blick fiel auf Túor, und sie stupste ihren jungen Vetter spielerisch gegen die Schulter. "Und du? Bist du schon bereit für eine weitere Lektion?"
Túors Mundwinkel zuckten und ein schelmisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht, das dem seines Vaters so ähnlich war, aus. "Solange du nicht wieder diesen Trick mit deinem Fuß machst..." Narissa musste ebenfalls lächeln. Beim letzten Mal, als sie Túor "ein paar Tricks" beibringen wollte, hatte sie ihm einmal mit dem Fuß beide Beine weggezogen, und der Junge war unsanft auf dem Rücken gelandet.
Sie wandte sich wieder Minûlîth zu: "Was ist mit Serelloth? Wir sollten vielleicht mit ihr sprechen." "Geht es ihr gut?", fügte Aerien, offensichtlich besorgt, hinzu. "Ist sie..."
"Es geht ihr den Umständen entsprechend gut", erklärte Minûlîth beruhigend. "Wir haben für sie getan was wir konnten, und sie befindet sich auf dem Weg der Besserung. Ihr könnt später zu ihr gehen, wenn wir mit den Begrüßungen fertig sind."
Erst jetzt bemerkte Narissa, dass Ta-er und Eayan zu ihnen getreten waren. Edrahil neigte Ta-er gegenüber leicht den Kopf, und sie erwiderte das Nicken beinahe unmerklich, während Eayan sagte: "Ich bin Eayan al-Tayir vom Silbernen Bogen. Der Herr des Turmes war so freundlich, uns für einige Zeit Zuflucht vor unseren Feinden zu gewähren."
Edrahil zog die Augenbrauen zusammen, und erwiderte: "Noch mehr Feinde sind eigentlich nicht das, was wir gebrauchen könnten."
"Gerade diese Feinde sind schon lange ebenso die euren wie die unseren", warf Ta-er ein. "Seit Umbar, um genau zu sein."
"Saleme", schloss Edrahil sofort. "Nun, in diesem Fall habe ich keine Einwände gegen eure Anwesenheit hier, nachdem sie mir in Umbar so eindrucksvoll die Feindschaft erklärt hat."
Eayan lächelte leicht, und antwortete: "Sie scheint ein Talent dafür zu haben, sich mächtige und kluge Feinde zu schaffen. Ich glaube nicht, dass sie uns schlagen kann, wenn wir zusammenarbeiten - nicht einmal mit der Hilfe ihres geheimnisvollen Meisters."
Bei diesen Worten schien Edrahil aufzumerken, und auch Narissa lauschte aufmerksam. Zwar hatte Aerien ihr erzählt, was Saleme beim Angriff auf die Burg des Silbernen Bogens gesagt hatte, aber sie fragte sich, was Eayan selbst zu dem Thema zu sagen hatte.
"Ihres Meisters?", fragte Edrahil scharf. "Nach der Formulierung vermute ich, dass ihr nicht von Mordor sprecht? Ihre Taten sprechen ohnehin nicht dafür..."
Eayan schüttelte den Kopf. "Nein, sie dient nicht Mordor - aber ich weiß nicht, wer ihr Herr jetzt ist. Wir sollten vielleicht später darüber sprechen, an einem anderen Ort." Edrahil nickte langsam, ohne den Blick von dem Schattenfalken zu wenden. Für einen Augenblick herrschte Schweigen, bis Thorongil sich räusperte und sagte: "Wir haben noch jemanden mitgebracht... einen Gefangenen."
Auf sein Stichwort hin führten zwei Krieger des Silbernen Bogens den gefesselten und geknebelten Karnuzîr nach vorne, dessen Blick trübe und stur auf den Boden vor ihm gerichtet war. Bei seinem Anblick spürte Narissa einen Stich des Hasses - und ein Gefühl der Befriedigung, als ihr Blick auf seine fehlenden Finger und die an mehreren Stellen blutige Kleidung fiel. Sie ergriff unauffällig Aeriens Hand, während Edrahil Karnuzîr aufmerksam musterte und schließlich fragte: "Karnuzîr, nehme ich an?"
"Das ist mein geliebter Vetter Karnuzîr Wüstenklinge - auch wenn er seine Klinge verloren zu haben scheint, und auch sonst in einem erbärmlichen Zustand ist", sagte Aerien, und ihre Augen blitzten. Narissa drückte ihre Hand ein wenig fester, als sie fortfuhr: "Ich bin mir sicher, er würde sich äußerst gerne mit euch unterhalten."
"Wir werden sehen, wie gerne", sagte Edrahil leise und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Ihm mussten ebenfalls die Spuren der Folter auf Karnuzîrs Körper aufgefallen sein, und er tauschte einen Blick mit Thorongil und Eayan. "Ich denke, wir haben vieles zu besprechen."
"Das haben wir", stimmte Thorongil zu. "Eayan, ich fürchte eure Leute müssen noch einige Zeit im Freien lagern - wir werden weitere Häuser in Stand setzen, aber das wird Zeit brauchen."
Eayan verbeugte sich leicht mit einem Lächeln. "Sie sind daran gewöhnt, und die Sicherheit eurer Gastfreundschaft wiegt alle anderen Unannehmlichkeiten auf."
Edrahil, Thorongil und Eayan entfernten sich ein Stück, während sie leise weiter sprachen, und Narissa blickte ihnen ein wenig enttäuscht hinterher. Sie hatte eigentlich erwartet, in was auch immer für Pläne die drei Männer schmiedeten, eingeweiht zu werden. Dass das nicht der Fall war, und offenbar keiner der drei überhaupt daran dachte, sie und Aerien einzubeziehen, machte sie wütend.
Minûlîth schien ihren Stimmungswandel bemerkt zu haben, denn sie sagte mit einem wissenden Lächeln: "Lasst sie erst einmal ihre Ränke schmieden - früher oder später werden wir ebenfalls davon erfahren und dann werden wir weiter sehen. Hab Geduld, Nichte."
Narissa stieß ungeduldig die Luft durch die Nase aus, und Minûlîth lachte. "Und außerdem... wolltet ihr nicht nach Serelloth sehen? Sie würde sich sicherlich freuen, euch zu sehen. Als ich ihr gesagt habe, dass ihr beide zurückkommt, schien sie viel gesünder zu werden."
"Das werden wir sofort tun", erwiderte Aerien, und zog Narissa an der Hand in Richtung des Turmes. "Danke, Minûlîth."

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Was Serelloth zustieß
« Antwort #19 am: 13. Mär 2017, 10:48 »
Man hatte Serelloth ein kleines Zimmer im unteren Drittel des Turms gegeben. Als Aerien und Narissa herein kamen stießen sie auf Laedris, die junge Bedienstete, die gerade Serelloths Verbände wechselte. Aerien konnte sehen, dass die Wunde kurz unterhalb ihres Halses begann und sich ein gutes Stück senkrecht nach unten zog. Auch wenn alles danach aussah, dass der Schnitt gut verheilte, würde er dennoch eine große Narbe hinterlassen. Serelloth war noch immer etwas bleicher als gewöhnlich, aber in ihren Augen leuchtete bereits wieder ihre gewohnte ungestüme Freude auf, als sie Aerien und Narissa entdeckte.
"Da seid ihr ja endlich," rief sie als die beiden an ihr Bett traten. "Ihr habt mich ja ganz schön lange warten lassen."
"Serelloth," stieß Aerien erleichtert aus und nahm die Hand des Mädchens. "Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Es... es tut mir so Leid, was mit dir passiert ist. Das war alles meine Schuld!"
"Unsinn, 'Rien," meinte Serelloth gut gelaunt. "Du hattest ja keine Wahl. Der Fehler lag bei mir. Ich bin nach der Sache in Qafsah in meiner kindischen Wut unvorsichtig geworden und habe mich schnappen lassen. Zum Glück hat Narissa alles wieder ins Reine gebracht."
"Nun, ich hatte etwas Hilfe," gab Narissa bescheiden zu. "Erzähl uns, was geschehen ist nachdem du mit Níthrar nach Norden geritten bist. Wo ist er eigentlich?"
"Eines nach dem Anderen," beschwichtigte Serelloth und begann, von ihrer Reise zu erzählen. "Ich ritt geradewegs nordwärts, auf schnellstem Wege zurück in Richtung Ithilien. Am Ufer des Harduins holte mich dein elbischer Freund schließlich ein und bot mir an, mich zu begleiten. Eigentlich wollte ich ablehnen, weil er... nun, weil er mich an dich erinnerte, Narissa. Tut mir Leid. Aber ich habe damals einfach nicht klar denken können, wollte einfach nur weg und den Schmerz über Elendars Tod loswerden. Ich weiß jetzt, dass das dumm von mir war. Ich hatte hier einige Zeit zum Nachdenken."
"Ist schon gut, Serelloth. Erzähl weiter," sagte Narissa freundlich.
"Níthrar führte mich zu einer nahgelegenen Furt, und wir ritten hindurch und weiter nach Norden durch das umstrittene Gebiet zwischen Qafsah und Ain Séfra. Dabei kamen wir eines Tages durch eine Schlucht, und dort lauerten sie uns auf, Karnuzîr und seine Leute. Mich haben sie geschnapt, aber nicht ehe ich zwei von ihnen mit meinen Pfeilen erwischt habe. Das hat mir eine ziemliche Tracht Prügel eingebracht. Níthrar hingegen ist entkommen; er durchbrach die Absperrung am Nordende der Schlucht auf dem Rücken seines Pferdes. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört."
"Er sagte, er habe Gerüchte über sein Volk gehört und wollte sich selbst ein Bild der Lage machen," erinnerte sich Narissa. "Aber dennoch passt es nicht so recht zu ihm, dass er nicht einmal versucht hat, dich zu befreien."
"Das wäre ihm wahrscheinlich sowieso nicht gelungen," meinte Serelloth. "Die Gruppe, die mich bis ans Ufer des Meeres brachte, war viel zu groß um von einem einzelnen Mann besiegt zu werden. Erst als sie das Boot bestiegen waren Karnuzîr und seine Leute nur noch zu dritt. Der Rest ritt wieder zurück in die Wüste - wohin weiß ich nicht."
"Ich bin froh, dass am Ende alles gut gegangen ist," sagte Aerien und setzte sich auf die Bettkante. "Hast du noch Schmerzen? Verheilt deine Wunde gut?"
"Kann mich nicht beschweren," meinte die Waldläuferin. "Das wird natürlich eine ziemliche Narbe geben, aber das stört mich nicht."
"Was wird dein Vater dazu sagen?" fragte Aerien nachdenklich. Sie hoffte, dass Damrod sie nicht für Serelloths Verletzung verantwortlich machen würde.
"Er wird natürlich ein paar Tage mächtig sauer sein, aber später zugeben, dass er froh ist dass ich überlebt habe," antwortete Serelloth. "Jetzt erzählt mir davon, wie es euch ergangen ist und wie ihr Karnuzîr erwischt habt. Das frage ich mich schon seit Tagen."

Narissa und Aerien wechselten sich ab und berichteten von den Ereignissen der vergangenen Woche. Serelloth stellte zwischendurch hin und wieder eine Frage, hörte aufmerksam zu und sagte am Ende: "Ich hoffe, Edrahil lässt deinen widerlichen Vetter noch ein wenig am Leben. Ich würde mich gerne für die Narbe bedanken, die er mir verpasst hat."
"Das lässt sich ganz bestimmt einrichten," sagte Minûlîth, die gerade herein kam. "Mädchen, ihr habt doch bestimmt Hunger, nicht wahr? Laedris, wärst du so lieb und würdest Aerien und Narissa ihr Abendessen bringen?" Die Dienerin nickte und eilte hinaus.
"Danke, Tante," sagte Narissa und schlug die Beine übereinander. Der Stuhl, auf dem sie saß, erlaubte ihr, sowohl die Tür des kleinen Raumes als auch das Bett im Augen zu behalten. Minûlîth setzte sich neben sie und stellte einige Fragen zu ihrer Reise, schien jedoch das meiste bereits zu wissen. "Ihr habt in eurer Abwesenheit nicht allzu viel verpasst," erzählte die Herrin von Tol Thelyn anschließend. "Der Wiederaufbau geht noch immer weiter. Jetzt werden allerdings einige neue Dinge ins Rollen kommen, nun da der Silberne Bogen hier eingetroffen ist. Wisst ihr, früher dachte ich, der Schattenfalke wäre nur eine Legende. Aber wieder einmal zeigt sich, dass alle Gerüchte irgendwo einen wahren Kern besitzen."
"Stimmt," sagte Aerien. "Ich bin froh, dass Herr Thorongil Eayans Leuten erlaubt hat, hier Zuflucht zu finden. Aus diesem Bündnis könnte viel Gutes erwachsen."
"Aber auch neue Gefahren," wandte Narissa ein. "Du hast ja gehört was Saleme gesagt hat. Die Assassinen werden wieder angreifen."
"Nun, lasst das erst einmal die Sorge meines Mannes sein," sagte Minûlîth. "Er hat sich das Ganze gut überlegt und ich vertraue seinem Urteil. Er mag zwar nicht der Sohn sein, den dein Großvater sich einst gewünscht hatte, Narissa, aber nun, da das Schicksal Tol Thelyns in seinen Händen liegt, nimmt er diese große Verantwortung auf seine Art und weise sehr ernst und ist uns ein guter Anführer."
"Er hat mehr von Großvater in ihm, als ihm vielleicht selbst klar ist," meinte Narissa. "Ich bin froh, dass er zurückgekehrt ist."
Minûlîth lächelte verschwörerisch. "Es hat mich viele Jahre der Überzeugung gekostet um ihn endlich dazu zu bringen. Ich habe schon immer davon geträumt, eines Tages eine eigene Insel zu besitzen von der ich mit meinem Schiff jederzeit in Segel stechen und auf große Fahrt gehen könnte."
"So ist das also? Hast du Thorongil nur deswegen geheiratet?" unterbrach Aerien, die nun ebenfalls lachen musste.
"Ganz bestimmt," meinte Narissa grinsend. "Vielleicht sollten wir etwas gegen diese Intrigen unternehmen. Liebste Tante, nimm dich in Acht!"
"Oha, ist das etwa eine Drohung, Narissa?" erwiderte Minûlîth zwinkernd.
"Und wie," bestätigte Narissa. "Sieh dich also vor!"

Sie beendeten das Abendessen und Minûlîth wandte sich gerade zum Gehen als Aerien ein wichtiger Gedanke kam. "Herrin Minûlîth," hielt sie die Herrin der Insel auf, "hast du jemals von einer Frau namens Taraezaphel Bellakanî gehört?"
Minûlîth blieb im Türrahmen stehen und drehte sich langsam um. "Wo hast du diesen Namen gehört?"
"Von Thorongil, der ihn aus Karnuzîr herausbekommen hat. Diese Frau war bei Serelloths Entführung dabei und ist eine von Karnuzîrs und Sûladans wichtigsten Verbündeten."
"Rae ist also wieder aufgetaucht," murmelte Minûlîth und ihr war die Überraschung anzumerken. Sie trat ans Fenster neben Serelloths Bett und blickte hinaus. "Sie ist meine Cousine zweiten Grades, und es gab eine Zeit, in der ich sie als meine beste Freundin bezeichnet hätte. Rae lebte ein Jahr unter meinem Dach, in Umbar, ehe sie nach Süden ging um sich in ihrer Heimat einen Namen zu machen. Vielleicht habt ihr schon von der Jungfrau von Arzayân gehört. Aber nachdem es vor vier Jahren still um sie wurde, dachte ich, sie wäre endgültig verschwunden."
"Sie ist wieder da, und steht mit unseren Feinden im Bunde," stellte Narissa klar. "Und sie weiß von der Insel und von deinen Taten in Umbar."
"Wirklich? Das sind keine guten Neuigkeiten," sagte Minûlîth und drehte sich zu ihnen um, die Arme vor der Brust verschränkt. "Das könnte uns deutlich mehr Ärger einhandeln als es die Bedrohung durch die Assassinen jemals könnte. Jetzt bin ich umso froher, dass der Silberne Bogen hier ist und unsere Küsten überwacht. Ich muss.. darüber nachdenken. Wir sprechen später, Mädchen." Sie durchquerte den Raum und ging hinaus.
"Sie kennen sich also von früher," stellte Narissa fest. "Interessant."
"Und offenbar kannten sie sich ziemlich gut," überlegte Aerien. "ich bin gespannt, was da für eine Geschichte dahintersteckt."
"Und ich erst," meldete sich Serelloth zu Wort. "Ihr müsst mir dringend alles ganz genau erklären. Ich bin wohl noch ein paar Tage an dieses blöde Bett gefesselt und bekomme kaum etwas davon mit, was auf der Insel geschieht."
"Das werden wir," versprach Narissa. "Aber zuerst möchte ich Aerien am Strand etwas zeigen. Kommst du?"
"Bin direkt hinter dir," sagte Aerien und stand auf. Dann folgte sie Narissa durch den Turm nach unten.
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #20 am: 14. Mär 2017, 17:25 »
Dieses Mal führte Narissa Aerien nicht zu der Bucht mit dem alten Leuchtturm, sondern an einen anderen kleinen Strand im Nordosten der Insel, der von einer Reihe ins Wasser ragenden Felsen in zwei Teile geteilt wurde. Die Sonne schien warm auf sie hinunter und glitzerte auf den sanft gegen den Strand und die Felsen schlagenden Wellen. Von Norden her wehte ein leichter Wind, der ihnen ein wenig Kühlung verschaffte, sodass es nicht unerträglich warm wurde sondern angenehm blieb.
Narissa kletterte auf den vordersten der Felsen, und streckte Aerien die Hand entgegen. "Komm mit! Von der Spitze hat man einen guten Ausblick auf die Bucht und die Küste."
Sie sprang und kletterte von Stein zu Stein, bis sie etwa in der Mitte der Felsreihe angelangt war, wo sie bereits auf beiden Seiten von Wasser umgeben war. Aerien folgte ihr ein wenig langsamer und vorsichtiger, und als sie auf dem selben flachen Stein angelangt war, sagte sie: "Du hast doch etwas vor." Narissa wandte sich zu ihr um, die Hände in die Seiten gestützt und konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. "Was sollte ich vorhaben?", fragte sie so unschuldig wie möglich. "Ist ein schöner Anblick nicht genug... und ein schöner Ausblick von den Felsen ebenfalls?"
Für einen Augenblick stockte Aerien, bevor sie begriffen hatte, was Narissa gemeint hatte. "Na schön", erwiderte sie mit einem flüchtigen Grinsen. "Du hast recht, der Anblick ist es wert. Aber ich traue dir immer noch nicht, also... geh voran."
Narissa schnaubte, und tat beleidigt als sie sich umwandte, und ihren Weg an die Spitze der Felsen fortsetzte. Der Felsen, der am weitesten draußen in der Bucht lag, ragte beinahe zwei Meter über die Wasseroberfläche hinaus. Sie mussten springen und sich an der Kante des Steines hinaufziehen, um ganz nach oben zu kommen, und oben angelangt brauchte Aerien einen Augenblick um ihr Gleichgewicht wieder zu erlangen und schwankte kurz im Wind. Narissa legte ihr einen Arm um die Hüfte, zog sie an sich und hielt sie fest, und der Wind wirbelte ihre Haare durcheinander und vermischte sie, Schwarz und Weiß.
"Hm", machte Aerien, und berührte Narissas Stirn mit ihrer. "Man könnte meinen, dass das von Anfang an dein Plan war."
"Vielleicht... aber eigentlich brauche ich dafür keine Entschuldigung", gab Narissa zurück, und Aerien lächelte. "Ganz sicher nicht."
Narissa löste sich ein wenig von ihr, sodass sie nebeneinander auf dem Felsen standen und nach Westen auf die Küste von Harad blickten. Entlang des Meeres zog sich ein schmaler Streifen, der an vielen Stellen von dichtem Grün bewachsen war, doch nur kurz danach wurde er von dem gelbbraunen Sand und Staub der Mehu-Wüste abgelöst.  Es war ein karges Land, in dem dennoch einige Stämme der Haradrim lebten, von denen die meisten seit altersher mit den den Dúnedain der Insel befreundet waren.
Nach einiger Zeit brach Narissa das Schweigen, und sagte: "Du weißt, das ich dich liebe, oder?"
Aerien wandte ihr abrupt den Kopf zu, und ihre Augen strahlten. "Wissen tue ich das... aber du hast es mir so noch nicht gesagt." "Mhm..." Narissa legte den Kopf schief. "Dann tue ich es eben nochmal: Ich liebe dich, Aerien." Es so auszusprechen, verursachte ihr ein merkwürdiges, aber gleichzeitig angenehmes Gefühl irgendwo in der Magengrube. Eine feine Röte überzog Aeriens Wangen, und Narissa war sich sicher, dass sie ganz genauso aussah, als Aerien antwortete: "Und ich dich auch, 'Rissa. Ich dich auch."
Nach einem Augenblick unterbrach Narissa den Blickkontakt und räusperte sich ein wenig verlegen. "Und vertraust du mir jetzt?"
Aerien warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu und antwortete langsam: "Eigentlich schon... aber ich fürchte, du hast immer noch irgendetwas vor."
"Mag schon sein...", sagte Narissa vor sich hin, blickte zum strahlend blauen Himmel empor, und versetzte Aerien dann einen plötzlichen Stoß, der sie zur Seite und über den Rand des Felsblocks taumeln ließ. Aerien stieß einen kurzen überraschten Schrei aus, bevor sie mit einem Platschen im Wasser landete. Für einen kurzen Augenblick verschwand sie vollständig unter Wasser, bevor sie wieder auftauchte, nach Luft schnappte und wild mit den Armen um sich schlug.
"Mit den Füßen treten, die Arme gleichmäßig bewegen!", rief Narissa vom Felsen herunter. "Und den Mund zumachen, bevor du dich verschluckst!" Im gleichen Moment schlug eine kleine Welle Aerien gegen das Gesicht, sie verschluckte sich, hustete und spuckte Wasser aus, während sie panisch dagegen ankämpfte, unterzugehen. Narissa seufzte, verdrehte die Augen, und zog ihre Stiefel aus, bevor sie kopfüber vom Felsen ins Wasser sprang. Das Wasser war angenehm kühl, hier in der Bucht aber nicht so kalt wie an der Westküste der Insel, wo es kalte Strömungen vom Meer gab. Sie tauchte um Aerien herum, wobei sie darauf aufpassen musste nicht von Aeriens Armen und Beinen getroffen zu werden.
Hinter Aerien kam sie wieder an die Oberfläche, schlang Aerien einen Arm um den Oberkörper und hielt sie beide mit dem anderen und den Beinen über Wasser. "Ganz ruhig, ich bin da", sagte sie ihrer Freundin ins Ohr, und Aerien entspannte sich augenblicklich spürbar. "Beweg die Arme ganz regelmäßig, vor und zurück - ja, genau so." Es dauerte einen Moment bis Aerien den richtigen Rhythmus gefunden hatte und nicht mehr unterzugehen drohte, und Narissa sie loslassen konnte. "Lass dich einfach treiben und von den Wellen schaukeln. Das Meer tut dir nichts." Aerien antwortete nichts, ganz damit beschäftigt, über Wasser zu bleiben, und Narissa musste lächeln. "Immerhin bist du seine Tochter."

Nach einigen Augenblicken, die sie sich treiben ließen, schlang Narissa ihren Arm wieder um Aerien, und zog sie ein Stück mit sich in Richtung Ufer, bis das Wasser flach genug war, um bequem stehen zu können. Als sie Aerien wieder losgelassen hatte, warf diese ihr mit blitzenden Augen einen Blick zu. "Mach das nie wieder!"
Narissa zuckte ohne jedes Schuldbewusstsein die Schultern, und spritzte wie zufällig ein wenig Wasser in Aeriens Richtung. "Ist jetzt nicht mehr nötig, jetzt kennst du das Wasser ja und gehst nächstes Mal vielleicht freiwillig hinein." Sie grinste über Aeriens strengen Blick, und fügte hinzu: "Und außerdem hätte ich nicht gedacht, dass jemand so schlecht Schwimmen kann."
Aerien spritzte mit der Hand ein wenig Wasser zurück, und protestierte: "Im Gegensatz zu dir bin ich weit weg vom Meer aufgewachsen - und auch von Flüssen oder anderen größeren Gewässern. Wo soll ich da Schwimmen gelernt haben."
"Das musst du wirklich dringend nachholen", stellte Narissa entschlossen fest. Sie hatte beinahe vergessen, dass sie selbst als sie hier angekommen war, ebenfalls nicht Schwimmen gekonnt hatte. Doch über die Jahre hatte sie es gelernt, und inzwischen kam es ihr wie eine Selbstverständlichkeit vor - so wie Laufen oder Klettern. "Ich werde es dir zeigen. Es ist ganz einfach, du wirst schon sehen."
"Aber nicht mehr heute", meinte Aerien. "Diese Lektion hat mir für einen Tag gereicht."
Narissa wich ihrem Blick aus, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen. Gemeinsam kehrten sie an das Ufer aus weichem, feinen Sand zurück, zunächst halb gehend, halb schwimmend, und schließlich durch das flache Wasser watend. Ihre nasse Kleidung klebte eng an der Haut, was es Narissa erschwerte, ihren Blick von Aerien loszureißen. Sobald sie das Ufer erreicht hatten, stürzte Aerien sich mit einem Mal auf sie, riss sie zu Boden und drückte sie in den Sand. "So", knurrte sie. "Jetzt muss ich mir noch eine Strafe für dich ausdenken..." Soweit wollte Narissa es nicht kommen lassen, obwohl sie den Verdacht hatte, dass ihr gefallen könnte was Aerien im Sinn hatte. Sie wälzte sich herum, und versuchte ihrerseits Aerien unter sich zu bringen. Ein paar Augenblicke kämpfen sie im Sand miteinander, der an ihrer nassen Kleidung kleben blieb, doch schließlich kam Narissa wieder unter Aerien zu liegen, die mit den Knien ihre Hüfte umklammerte und mit der rechten Hand ihre Handgelenke über dem Kopf zusammenhielt und auf den Boden drückte.
"Strafe muss sein", sagte sie schwer atmend, und ihr linke Hand wanderte langsam an Narissas Seite hinunter. Als sie das untere Ende der Rippen erreichte und ein wenig darüber hinaus nach unten glitt, konnte Narissa ein Zusammenzucken und leises Quietschen nicht unterdrücken. Aerien hob eine Augenbraue. "Das ist doch nicht die Möglichkeit...", sagte sie leise. "Bist du etwa... kitzlig?" Sie bohrte ihre Finger leicht in Narissas rechte Seite, und Narissa schnappte nach Luft und krümmte sich ein wenig zusammen. Ein Grinsen breitete sich auf Aeriens Gesicht aus, als sie Narissas Handgelenke losließ, und ihr Werk auch mit der rechten Hand begann. Es war zu viel für Narissa, der nichts anderes übrig blieb als sich kichernd und nach Luft schnappend unter Aeriens Fingern hin und her zu winden. "Ich... gebe auf!", brachte sie mühsam hervor, unterbrochen von einem erneuten Kichern. "Es tut... mir Leid!"
"So einfach kommst du mir nicht davon!", antwortete Aerien, ohne das Kitzeln zu unterbrechen. "Es gibt keine Gnade!"
Im selben Moment hörte Narissa, wie jemand ihren und Aeriens Namen rief. Es war eindeutig Laedris' Stimme, die von weiter im Inland kam. Auch Aerien schien es gehört zu haben, denn sie zeigte Gnade, entließ Narissa aus ihrem Griff und rappelte sich auf. Auch Narissa kam mühsam auf die Füße, gerade als Laedris hinter einem Busch hervorkam und auf den Strand trat. "Meister Edrahil würde gerne etwas mit euch besprechen." Dann fiel ihr Blick auf den Zustand der Kleidung der Beiden, und sie stockte kurz. "Allerdings... solltet ihr auch vorher vielleicht umziehen..."
Narissa warf einen Blick zu Aerien, die wiederum sie ansah. In der warmen Sonne hatte ihre Kleidung bereits zu trocknen begonnen und wurde vom salzigen Meerwasser hart und steif, und beide waren über und über mit Sand verklebt. Als ihre Blicke sich trafen, konnte Narissa ein Grinsen und ein Kichern nicht unterdrücken, und steckte damit auch Aerien an.
Mit größter Mühe konnte Narissa ihr Kichern schließlich unterdrücken, und antwortete Laedris, die verständnislos zugesehen hatte und ein wenig errötet war, mit mühsamem Ernst, der hin und wieder vom unkontrollierbaren Zucken ihrer Mundwinkel unterbrochen wurde: "Natürlich, wir werden sobald wie möglich zu ihm kommen... und uns vorher umziehen."
Laedris nickte nur stumm, und eilte dann so schnell wie möglich in Richtung des Turmes davon. Narissa sah Aerien an, der noch immer Wasser aus den Haaren tropfte, und beide brachen erneut in unkontrolliertes Gelächter aus.

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Rückkehr zum Turm
« Antwort #21 am: 15. Mär 2017, 12:55 »
"Du hast deine Schuhe auf dem Felsen vergessen," erinnerte Aerien Narissa, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten. Während sie versuchte, das Wasser aus ihren schwarz glänzenden Haaren herauszuwringen suchte Narissa ihre Habseligkeiten zusammen. Narissas Haare waren ein gutes Stück kürzer, weshalb sie schneller trocknen würden. Aerien sah zu, wie Hadors Enkelin gewandt über die in der Mitte des Strands ins Meer hineinragenden Felsen kletterte und dabei nicht ein einziges Mal ins Straucheln geriet. Sie stellte fest, dass ihr dieser Anblick sehr gefiel. Nachdenklich strich sie mit der Hand durch den warmen Sand. Sand war etwas, das sie kannte, aber nicht in Verbindung mit Wasser. Es faszinierte sie, wie weich und formbar der Sand wurde, wenn das Meerwasser darin versickerte.
"Möchtest du eine Sandburg bauen?" fragte Narissa belustigt. Aerien hatte sie nicht zurückkehren sehen und drehte sich überrascht um.
"Eigentlich mag ich Sand nicht," meinte sie. "Hattest du schon einmal welchen im Schuh? Das ist wirklich unangenehm."
"Nun stell' dich nicht so an. Wir gehen einfach barfuß zum Turm zurück."
Sie nahmen ihre Schuhe in die Hände und verließen den Strand. Ein ausgetretener Pfad führte durch grüne Wiesen zurück zum Turm, der vom Licht der untergehenden Sonne rötlich beleuchtet wurde. Es war ein wundersamer Anblick, der in Aerien eine Erinnerung weckte.
"Minas Tirith," murmelte sie leise und vor ihrem inneren Auge erschien die Weiße Stadt, wie sie sie damals zum ersten Mal gesehen hatte: Groß und majestätisch, getaucht in das Licht der Abendsonne. Damals war sie noch Azruphel gewesen und hatte die Stadt in Mordors Namen besucht, auch wenn ihre eigentlichen Ziele andere gewesen waren.
Narissa entging diese Aussage natürlich nicht, denn sie hatte scharfe Ohren. "Was redest du da?" fragte sie und blieb stehen.
"Der Turm erinnert mich an Minas Tirith," erklärte Aerien. "Ich habe dir das noch gar nich erzählt, aber dort habe ich Beregond getroffen. Die Stadt ist vom Herrn der Ringeister besetzt worden und es sind nur noch wenige Menschen dort. Dennoch bietet sie noch immer einen gewaltigen Anblick. Ich würde es dir gerne eines Tages zeigen."
"Unser Weg wird uns bestimmt irgendwann dorthin führen," meinte Narissa.
"Nein, ich möchte nicht einfach so dorthin, Rissa. Die Stadt in den Händen der Orks zu sehen hat mich mit Trauer und Schmerz erfüllt. Wenn ich nach Minas Tirith zurückkehre, will ich ihr die Freiheit bringen."
"Dafür bräuchten wir eine Armee, und Gondors Unterstützung," wandte Narissa ein. "Du hast doch gehört, was Edrahil gesagt hat: solange der König Gondors ein Gefangener Saurons ist, sind dem Truchsessen die Hände gebunden."
"Aber was ist mit Damrod und seinen Leuten? Sie sind gut ausgerüstet und sie sind viele - könnten sie nicht...?"
"Das musst du Serelloth fragen. Ich kenne mich in Gondor noch weniger aus als du. Komm, wir sollten hier nicht rumstehen. Du wirst dir noch eine Erkältung holen wenn wir deine Haare nicht bald trocken kriegen."
"Oooh, machst du dir Sorgen um mich?" stichelte Aerien.
"Eher um mich selbst," gab Narissa amüsiert zurück. "Wenn wir nicht pünktlich bei Edrahil auftauchen werde ich den ganzen Abend lang seine miese Laune ertragen müssen."
"Du meinst, er kann noch mieser gelaunt sein als er sowieso schon ist?"
"O ja, kann er. Du hast noch gar nichts gesehen," sagte Narissa unheilvoll. "Also los. Bis zum Turm ist es nicht mehr weit."

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich bereit für das Gespräch mit Edrahil gemacht hatten. Aerien bestand darauf, sich mit sauberem Wasser abzuwaschen und saß in einem gut gefüllten Badezuber, den Minûlîth irgenwo aufgetrieben hatte. "Ich wusste nicht, dass Meerwasser so unangenehm auf der Haut klebt und juckt, nachdem sie schon getrocknet ist," beschwerte sie sich während Narissa ihr den Rücken abtupfte.
"Die Tochter des Meeres jammert über Meerwasser," sagte Narissa gelassen. "Welche Ironie."
"Ich hab' mir den Namen nicht ausgesucht, sondern ihn nur übersetzt," antwortete Aerien und band sich ein Handtuch um.
"Aber er passt zu dir. Eines Tages wirst du bestimmt eine große Seefahrerin werden. Tante Melíril leiht dir bestimmt ihr Schiff."
"Hmm," machte Aerien. "Solange ich dabei nicht nass werde..."
Sie beschloss, eines der Kleider anzuprobieren, die Minûlîths Schwester gehört hatten. Ihre Wahl fiel auf ein dunkelrotes Kleid mit goldenen Stickereien an Armen und Saum. Der Stoff erinnerte Aerien an Durthang. Sie fand sogar, er roch ein wenig nach ihrer Mutter. Ihre Gedanken schweiften ab und sie fragte sich, wie es ihrer Familie wohl gerade ging. Azruphels Mutter war die Einzige, die ihre wahren Absichten kannte. Alle anderen mussten wohl glauben, sie sei in Ithilien ein Opfer der Überfälle der Partisanen geworden. Andererseits hatte der Nazgûl in Qafsah offenbar sehr genau über Aeriens Flucht Bescheid gewusst...
Aeriens Überlegungen blieben bei ihrem Vater hängen. Er war nach Dol Guldur beordert worden. Ob er wohl noch immer dort ist? Ich frage mich, wie es ihm geht, und ob er von meinem Verrat gehört hat... Ihr fiel ein, was Varakhôr am Tag vor seiner Abreise zu ihr gesagt hatte, als sie einen der seltenen Momente erlebt hatten in denen sie wirklich etwas Zeit hatten um miteinander zu sprechen.
"Wenn ich zurückkehre werde ich einen Mann für dich finden," hatte ihr Vater gesagt. "Es wird Zeit für dich, deine Pflicht gegenüber der Familie zu erfüllen."
"Was, wenn ich ihn nicht mag, Vater?" hatte Azruphel eingewandt.
"Er wird dich gut behandeln, dafür sorge ich. Ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter in die falschen Hände gerät. Mache dir keine Sorgen, Kind. Es wird jemand sein, der sich meinen Respekt verdient hat."
Ihr war damals niemand eingefallen, den sie sich gewünscht hatte. Unter den schwarzen Númenorern von Durthang, deren Stand hoch genug gewesen wäre um für eine Vermählung in Frage zu kommen, war niemand gewesen, der Azruphel gefallen hätte. Und auch sonst gab es im Tal von Aglarêth nur wenige, die sie überhaupt attraktiv fand. Es wäre zwar möglich, jemanden von niedrigerem Gesellschaftsstand in Betracht zu ziehen, dies würde allerdings am Hof für viel Gerede sorgen. Es war bereits vorgekommen dass die Fürsten von Durthang ihre Töchter an Krieger verheiratet hatten, die sich im Kampf einen Namen gemacht hatten, doch solche Ereignisse waren eine Seltenheit. Und außerdem gefiel Azruphel die Vorstellung überhaupt nicht, als eine Art Preis betrachtet zu werden.

"He, Meerestochter, träumst du?" Narissas Stimme riss Aerien aus den Gedanken. Die Turmerbin hatte sich inzwischen ebenfalls trockene Sachen angezogen und trug nun einen festen Wappenrock mit dem Abzeichen des Reiches von Tol Thelyn auf der Brust: Ein hoch aufragender stilisierter Turm in Weiß, auf einem orangefarbenen Segel, dazu eine kleine silberne Blüte im Zentrum, die für die Vorfahren Ciryatans in Númenor stand. Narissa trug hohe Stiefel und hatte ihre Dolche umgegürtet. Sie wirkte auf Aerien kampfbereit und entschlossen.
"Ich habe nur nachgedacht," antwortete Aerien. "Du siehst gut aus in der Tracht der Insel," fügte sie hinzu.
"Und du in den Kleidern von Melírils Schwester," gab Narissa lächelnd zurück. "Die, die nach Dol Amroth gegangen ist."
"Dort möchte ich auch eines Tages hin, und die berühmten Schwanenritter sehen," schwärmte Aerien. "Sie haben den Ansturm Mordors zweimal abgewehrt obwohl sie weit in der Unterzahl waren, wusstest du das?"
"Es wird bestimmt mal die Gelegenheit geben, Dol Amroth zu besuchen," meinte Narissa und nahm Aeriens Hand. "Aber zuerst sollten wir vielleicht dem Abgesandten Dol Amroths unsere Aufwartung machen. Du weißt schon, Meister Edrahil. Seine Geduld ist bestimmt schon lange zu Ende gegangen."
Hastig band Aerien ihre Haare zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammen und stand auf. "Also gut. Gehen wir zu ihm."

Sie verließen Narissas Zimmer und trafen unterwegs erneut auf Laedris. "Da seid ihr beiden ja," rief die junge Frau ihnen zu als sie sich auf der Treppe begegneten. "Herr Edrahil schickt mich um, und ich zitiere, nachzusehen ob diese beiden unverantwortlichen Mädchen sich auf dem komplizierten Weg den Turm hinab zu meinem Zimmer verlaufen haben." Sie zwinkerte ihnen zu und fuhr fort: "Es wird Zeit, dass ihr ihn aufsucht. Die Sonne ist schon untergegangen und es wird spät."
"Das machen wir, Laedris," sagte Narissa.
"Der Abend hat ja gerade erst begonnen," meinte Aerien. "Bleibt also noch mehr als genug Zeit, um sich anzuhören, was Meister Edrahil uns zu sagen hat."
Laedris nickte. "Sollte man meinen, ja. Aber dieser alte Kerl gibt einem ständig das Gefühl, dass ihm alles viel zu langsam geht."
"Mach dir um ihn keine Sorgen. Wir kommen schon mit ihm zurecht," gab sich Narissa zuversichtlich.
Sie stiegen die Treppe hinab und kamen schließlich vor Edrahils Zimmer an. Vorsichtig klopfte Aerien dagegen, doch die Tür schwang bereits auf...
« Letzte Änderung: 29. Mär 2017, 10:06 von Fine »
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #22 am: 28. Mär 2017, 21:29 »
Edrahil ließ sich auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch nieder, und Thorongil und Eayan setzten sich einander gegenüber an die Kopfenden des Tisches. Obwohl ihm mehrere Fragen unter den Nägeln brannten und er es kaum erwarten konnte die Ideen, die ihm in der Zwischenzeit gekommen waren, zur Diskussion zu stellen, schwieg Edrahil zunächst und wartete ab, dass Thorongil das Wort ergriff. Immerhin war er der Herr von Tol Thelyn, und Edrahil und Eayan waren nur Gäste und Verbündete.
Thorongil faltete die Hände auf dem Tisch, und begann zu erzählen: "Wie Edrahil bereits weiß, kam vor einigen Tagen Karnuzîr, ein Vetter Aeriens und im Gegensatz zu ihr ein treuer Diener des Feindes, mit zwei Gefährten auf die Insel. Er hatte das Mädchen Serelloth in seiner Gewalt, eine Freundin von Narissa und Aerien, und zwang Aerien mit ihrem Leben dazu, Narissa anscheinend zu verraten und nach Mordor zurückzukehren."
Er fuhr fort zu erzählen, wie er und Narissa Karnuzîr verfolgt, zur Strecke gebracht und seine Ränke aufgedeckt hatten. Als er schließlich zum Ende kam, sagte Eayan: "Ich bin froh, dass sich alles aufgeklärt hat, denn sowohl Narissa als auch Aerien könnten wertvolle Waffen im Kampf gegen den Schatten sein."
Angesichts der Wortwahl verzog Thorongil ein wenig das Gesicht, doch Edrahil gab dem Schattenfalken mit einem unmerklichen Nicken zu verstehen, dass er diese Meinung teilte. Auch wenn er selbst den jungen Frauen ebenfalls Sympathie entgegenbrachte, würde er doch nicht zögern, sie auch in größte Gefahr zu schicken, sollte es ihrem Kampf gegen Mordor nützen - denn der Krieg war größer als jeder einzelne von ihnen, und Opfer mussten gebracht werden.
Er stand auf, die Blicke der beiden anderen Männer ignorierend, ging zur Tür und blickte nach draußen. Zu seinem Glück kam gerade eine junge Frau die Treppe aus den oberen Ebenen des Turmes hinunter, und er sagte: "Laedris, würdest du bitte Narissa und Aerien finden und zu mir schicken?" Laedris wirkte nicht sonderlich begeistert, doch sie nickte und erwiderte: "Natürlich."
Zurück im Zimmer setzte Edrahil sich erneut und erklärte: "Ich denke, es wäre sinnvoll die beiden bei dem, was ich gerne besprechen möchte, dabei zu haben, denn es betrifft sie sehr stark."
Thorongil und Eayan nickten zustimmend, und Edrahil fuhr fort: "Ich habe allerdings zuerst eine Frage an euch, Eayan, über denjenigen, dem Saleme zu dienen scheint."
"Es ist nicht Mordor, in diesem Punkt bin ich mir sicher - auch wenn derjenige keineswegs unser Freund zu sein scheint", sagte Eayan, ohne dass sich eine Regung in seinem Gesicht zeigte. "Und nach dem wenigen was ich herausfinden konnte, kommt er nicht aus Harad oder noch südlich davon, und vermutlich ebenfalls nicht aus dem Osten."
"Damit bleibt nur der Norden", meinte Edrahil, und rieb sich die Stirn. "Er kommt nicht aus Gondor, davon wüsste ich - wenn nicht, müsste ich den Beruf wechseln." Er überlegte. In Rohan gab es niemanden mit ausreichender Macht um Saleme kontrollieren zu können, und die Elben schienen sich nicht für die Länder südlich von Gondor zu interessieren... bis vor einiger Zeit ja nicht einmal für Gondor selbst. Außerdem glaubte er nicht, dass sie sich so offensichtlich gegen andere Feinde Mordors stellen würden, auch wenn die Elben ihm immer ein gewisses Rätsel gewesen waren. Edrahil zog die Augenbrauen zusammen, als ihm ein Verdacht kam.
"Wir müssen einen Boten nach Dol Amroth schicken", sagte er. "Vielleicht kann Amrodin herausfinden, ob..."
Thorongil seufzte. "Wir sind alle auf einer Seite, Edrahil. Ihr müsst eure Verdacht nicht verschweigen."
Edrahil zögerte noch einen Augenblick, denn er sprach ungern über Vermutungen, für die er keine Beweise hatte. Doch Thorongil hatte Recht, sowohl er als auch Eayan hatten das Recht es zu hören. "Habt ihr von Saruman gehört, dem Zauberer und ehemaligen Herrn von Isengart?", fragte er. Thorongil nickte, doch Eayan schüttelte den Kopf und meinte: "Diese Namen sagen mir nichts. Ich habe zwar Gerüchte von den Zauberern gehört, doch nichts gesichertes."
"Ich selbst weiß von dreien", erklärte Edrahil. "Ob es noch mehr gibt, weiß ich nicht, doch Saruman wäre der einzige, der als Salemes Meister in Frage kommt. Früher stand er auf unserer Seite, doch dann wandte er sich gegen unsere Verbündeten. Soweit ich weiß führt er nun Krieg gegen Sauron, denn er hasst Mordor und die Freien Völker gleichermaßen."
Eayan strich sich langsam über das Kinn, während er nachdachte. "Diese Haltung würde auch zu Saleme passen, denn sie arbeitet sowohl gegen Mordor als auch gegen uns. Eure Vermutung könnte sich als richtig erweisen, Edrahil, doch es bleibt die Frage, was das für uns bedeutet."
"Für den Augenblick nicht viel", erwiderte Edrahil. "Saruman ist außerhalb unserer Reichweite, doch immerhin wüssten wir, mit wem wir es zu tun haben."
"Ihr solltet einen Vogel mit der Botschaft nach Dol Amroth schicken", beschloss Thorongil, dem Edrahil als Herr des Turmes in diesen Dingen mindestens ein Mitspracherecht einräumte. "Lasst eure Leute dort nach einer Verbindung zwischen Saruman und Saleme suchen."

Edrahil machte sich eine kurze Notiz auf einem Fetzen Papier, und sagte dann: "Ihr habt Karnuzîr trotz allem am Leben gelassen. Ich nehme an, ihr seht noch einen Verwendungszweck für ihn?"
"Ich habe ihm bereits viele hilfreiche Informationen entlockt", antwortete Thorongil. "Aber ich denke, dass er uns noch mehr Wissen bieten könnte, vielleicht sogar über seine Verwandte in Mordor."
"Unwahrscheinlich, dass er uns mehr erzählen kann als Aerien", warf Eayan ein. "Soweit ich weiß, ist er nicht in Mordor geboren worden, und ist eher ein Diener Suladâns als einer von Mordor."
"Das denke ich ebenfalls", stimmte Edrahil ihm zu. "Deswegen glaube ich, dass er uns einiges über Suladâns Hof erzählen könnte. Und außerdem... ihr habt all seine Begleiter getötet, also weiß niemand außer uns, dass er sich in unserer Gewalt befindet. Das könnten wir vielleicht zu unserem Vorteil nutzen, und ihn für unsere Zwecke benutzen."
Thorongil hatte sich ein Stück vorgebeugt, und auch Eayan lauschte offensichtlich interessiert.
"Wenn wir ihn dazu bringen uns zu helfen, auf die eine oder andere Art, könnte er uns an Suladâns Hof bringen - vielleicht sogar nach Durthang oder in den Dunklen Turm selbst."
Thorongil verzog das Gesicht. "Und wie wollt ihr ihn dazu bringen? Ich glaube nicht, dass er im Augenblick sonderlich geneigt ist die Seiten zu wechseln, nicht nach den... Gesprächen, die ich mit ihm geführt habe."
"Mit Schmerzen werden wir diesbezüglich sicherlich nicht weit kommen. Er könnte zum Schein tun was wir wollen, und uns im entscheidenden Moment verraten", meinte Edrahil nachdenklich. Karnuzîr für ihre Zwecke zu benutzen bot gewaltige Möglichkeiten - aber auch mindestens ebenso große Risiken. "Wir müssen ihm einen Grund geben, uns nicht zu verraten. Zum Beispiel Aeriens Hand, die er ja anscheinend anstrebt."
"Das würde Narissa niemals zulassen", widersprach Eayan. "Und Aerien selbst ebenso wenig."
"Was wir damit erreichen könnten, ist ein paar verletzte Gefühle wert", gab Edrahil emotionslos zurück. "Wir können uns es nicht leisten, uns von einer Laune zweier junger Mädchen ablenken zu lassen."
Thorongil hatte sich erneut vorgebeugt, und die Hände auf den Tisch gelegt. "Vorsicht, Edrahil. Schließt nicht von euch selbst auf andere, nicht jeder ist in der Lage solche Entscheidungen zu treffen und damit zu leben", sagte er leise, und seine Augen funkelten gefährlich. "Und außerdem sprechen wir hier von meiner Nichte, und ich werde nicht verantworten dass sie und Aerien auseinander gerissen werden müssen um unsere Ziele zu erreichen."
"Jeder von uns muss Opfer bringen, um...", begann Edrahil, doch Thorongil unterbrach ihn. "Sie bringen genug Opfer, wenn wir sie tatsächlich nach Mordor schicken. Nein, Edrahil, wir werden einen anderen Weg finden."
Edrahil hob abwehrend die Hände. Er würde seinen Plan nicht aufgeben, doch jetzt darauf zu bestehen schien ihm der falsche Weg zu sein. "Also gut, wir werden sehen", sagte er, stand auf und ging erneut zur Tür.
Er hatte kaum Laedris' Namen gerufen, als das Mädchen bereits vor ihm stand. "Wenigstens auf die kann man sich verlassen", sagte er mit einem Seufzen. "Würdest zu bitte nachsehen, ob diese beiden unverantwortlichen Mädchen sich auf dem komplizierten Weg den Turm hinab zu meinem Zimmer verlaufen haben?"
Laedris nickte und antwortete: "Sofort, Meister. Sie werden wohl einige Zeit zum Umziehen gebraucht haben..."
Edrahil verdrehte die Augen, und schloss die Tür wieder. Er wollte gar nicht so genau wissen, warum Narissa und Aerien sich umziehen mussten.

Glücklicherweise mussten sie nicht lange warten. Eayan und Thorongil  unterhielten sich  leise über irgendetwas, während Edrahil ungeduldig am Fenster stehen geblieben war und hinausblickte. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die ersten Sterne schienen am Himmel und spiegelten sich auf der in dieser Nacht beinahe spiegelglatten Oberfläche des Meeres. Der Anblick ließ Edrahil zurückdenken an eine Zeit vor über vierzig Jahren, an seine Jugend an der Küste von Belfalas. Damals hatte er an solchen Abenden lange am Strand gesessen und auf das Meer hinausgeblickt, auch wenn er früh am nächsten Morgen wieder mit seinem Vater zum Fischen hinausfahren musste. Er hatte sich ausgemalt, welche Abenteuer er später, wenn er erwachsen war, draußen auf dem Meer erleben und welche exotischen Länder er besuchen würde. Nichts von dem, was er sich damals erträumt hatte war eingetreten, und inzwischen war er zu alt für solche Träumereien.
Edrahil wurde aus seinen Gedanken gerissen, als es beinahe zaghaft an der Tür klopfte. Offenbar hatte Eayan die Schritte auf der Treppe gehört, denn er war bereits dort und öffnete die Tür. Nacheinander traten Aerien und Narissa ein, wobei Aerien Thorongils Nichte leise zuflüsterte: "Ich bekomme den Geschmack von dem Wasser einfach nicht aus dem Mund... ich hätte nicht gedacht, dass es so salzig sein kann."
Edrahil verschränkte die Arme vor der Brust und sagte kühl: "Ich bin sicher, das Meer hält noch viele faszinierende Erkenntnisse für euch bereit. Doch für den Moment solltet ihr andere Sorgen haben."
Aerien schwieg, senkte den Blick aber nicht und errötete auch nicht. Narissa erwiderte seinen Blick ebenfalls standhaft und mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen, und erwiderte: "Der Krieg wird schon nicht weglaufen - und die Welt wird nicht untergehen, weil wir versuchen nebenher ein wenig zu leben."
"Zum Leben ist genug Zeit, wenn Sauron besiegt ist", entgegnete Edrahil ohne sich zu rühren. Für euch zumindest. "Ihr seid alt genug und solltet genug erlebt haben, um das zu verstehen."
"Wir haben wahrscheinlich mehr erlebt als ihr", gab Narissa zurück, ohne ihren Blick auch nur einen Fingerbreit zu senken. "Vielleicht solltet ihr mal losziehen in die Welt, anstatt nur hier oder in Umbar herumzusitzen und Ränke zu schmieden."
Edrahil konnte seinen Zorn nur mühsam zurückhalten, doch gleichzeitig beeindruckte ihn ihre Sturheit irgendwie. In der Zeit die er brauchte, um sich eine Antwort zu überlegen - was nicht oft so lange dauerte - schritt Thorongil ein. "Genug", sagte er scharf. "Narissa, du wirst dir anhören was Edrahil zu sagen hat. Und ihr werdet demnächst pünktlicher kommen, wenn er oder ich nach euch rufen lassen."
Narissa erwiderte den Blick ihres Onkels mit rebellischer Mine, sagte jedoch nichts nachdem Aerien unauffällig ihre Hand ergriffen und gedrückt hatte.
"Also schön", sagte Edrahil. Er hatte sich nicht von seiner Position am Fenster wegbewegt, und alle wandten sich ihm zu. "Aerien, wie gut kennst du dich in Mordor aus?"
Aerien, offensichtlich von seiner direkten Frage überrumpelt, rührte sich ein wenig unbehaglich. "Nun, ich... ich selbst war bislang nur im Norden unterwegs, zwischen Durthang und... Minas Morgul. Aber ich habe viel über den Rest des Landes gehört und gelesen, und auf Karten gesehen. Also... recht gut, denke ich." Es war offensichtlich, dass das Thema ihr unangenehm war, doch sie hatte ohne großes Zögern und präzise geantwortet, und das ließ Edrahil hoffen.
Er sah ihr fest in die grauen, beinahe silbrigen Augen, und fragte: "Würdest du jemals dorthin zurückgehen?" Augenblicklich erbleichte Aerien, und bewegte nur stumm die Lippen anstatt zu antworten. Allein der Gedanke schien ihr schwer zuzusetzen, und Edrahil verfluchte Karnuzîr stumm dafür. Ohne seine Einmischung wäre es wohl deutlich einfacher gewesen, Aerien dazu zu überreden. Narissa legte Aerien einen Arm um die Schultern und sagte mit deutlichem Vorwurf in der Stimme: "Das war nicht sonderlich taktvoll, Edrahil."
"Taktvoll zu sein ist im Augenblick nicht meine größte Sorge... und es war ohnehin nie eine meiner Stärken", gab er zurück. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass seine Frage Aerien einen Schock versetzen könnte, doch es musste sein. "Aerien, du weißt wen Sauron in Barad-Dûr gefangen hält." Jedes einzelne dieser Worte schien Aerien wie ein Hammerschlag zu treffen, doch als Edrahil ausgesprochen hatte, nickte sie langsam.
"Aragorn. Ich bin... nur seinetwegen bin ich hier. Er hat mir den Mut gegeben, Mordor und... meine Familie zu verraten."
"Den Mut den er dir gegeben hat, könnte er einem ganzen Volk geben", erklärte Edrahil ruhig. Er hätte es lieber gesehen, wenn der Erbe von Gondor am Schwarzen Tor gefallen und das Haus Dol Amroth die Macht über den Rest von Gondor erlangt hatte, doch solange Elessar am Leben war, würde er der rechtmäßige König sein, und Imrahil würde sich niemals gegen ihn stellen. Und außerdem hatte Edrahil erkannt, wie sehr Isildurs Erbe die Männer Gondors ermutigen konnte, und genau das war es, was sie brauchten um Mordors Streitkräften weiterhin zu widerstehen. Er sprach weiter: "Und außerdem, solange der rechtmäßige König von Gondor sich in Saurons Gewalt befindet, hat er ein mächtiges Unterpfand gegen Gondor in der Hand. Selbst wenn es an anderen Fronten nicht gut für ihn läuft, kann er sich mit dem Leben Elessars unser Stillhalten erkaufen, und ohne die Macht Gondors und Rohans wird es keinen Sieg gegen Mordor geben."
"Und ihr wollt, dass ich nach Mordor gehe und ihn befreie." Aerien fragte nicht, es war eine Feststellung.
"Das ist die Idee", bestätigte Thorongil, obwohl ihm sichtlich unwohl bei der Sache war.
"Ich muss... darüber nachdenken", meinte Aerien, und Edrahil nickte, nachdem er einen Blick mit Eayan und Thorongil gewechselt hatte. "Das ist dein Recht", sagte er. "Denke sorgfältig darüber nach, doch nicht zu lange."
"Augenblick mal", mischte Narissa sich ein. "Ihr wollt sie doch nicht allein wegschicken? Nach Mordor?"
Edrahil lächelte, denn ihre Reaktion kam gänzlich erwartet. "Natürlich nicht", erwiderte er. "Du wirst sie begleiten."
"Ich werde...", begann Narissa, brach dann aber ab als ihr klar wurde, was Edrahil gesagt hatte. Sie warf einen unsicheren Blick zu Thorongil, der nur hilflos die Hände ausbreitete und sagte: "Es gefällt mir nicht, dich einer solchen Gefahr auszusetzen - oder Aerien. Aber Aerien ist die einzige von uns, die sich in Mordor auskennt, und du bist die einzige hier, die noch die volle Ausbildung meines Vaters genossen hat."
"Außer dir", meinte Narissa, und Thorongil nickte. "Außer mir, und ich habe mit Sicherheit mehr Erfahrung als du. Und dennoch... ich kann nicht gehen, du aber schon. Und außerdem..." Er lächelte schwach. "Ich glaube nicht, dass irgendjemand dich davon abhalten könnte, sollte Aerien sich entscheiden zu gehen."
Narissa verschränkte die Arme, schob die Unterlippe vor und erwiderte: "Natürlich nicht." Der Blick, denn Aerien ihr zuwarf war eindeutig verliebt, und für einen winzigen Moment verspürte Edrahil einen Stich seines Gewissens, dass er diese Verbindung so schamlos ausnutzte. Doch der Moment ging schnell vorbei, und er sagte: "Denkt darüber nach. Und wenn wir eure Antwort haben, werden wir Pläne machen."
Als weder Narissa noch Aerien sich rührten, seufzte er und fügte mit einem unwirschen Wink hinzu: "Nun geht schon, ich bin sicher ihr habt noch irgendwelche Dummheiten vor, bevor ihr euch ernsthafte Gedanken machen könnt..."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Reiseziel Mordor?
« Antwort #23 am: 6. Apr 2017, 14:56 »
Während Edrahil, Thorongil und Eayan im Raum blieben (um offenbar weitere Pläne zu schmieden) kehrten Narissa und Aerien in das Dachzimmer zurück, welches sie seit ihrer Rückkehr nach Tol Thelyn gemeinsam bewohnten.
"Also," sagte Narissa und ließ sich auf das Bett fallen. "Was hältst du davon?"
Aerien war ans Fenster getreten und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Über der stillen See war der Mond aufgegangen, der mit jeder Nacht voller wurde. "Ich weiß nicht recht," sagte sie schließlich. "Hättest du mich in Qafsah gefragt, ehe wir Karnuzîr und dem Nazgûl begegnet waren, hätte ich gesagt: Ich würde dir überall hin folgen, selbst in die Schatten Mordors. Und ich wünschte, es wäre noch immer so. Aber..."
"Es ist seitdem viel passiert," wandte Narissa leise ein. "Es gab da.... einige... schöne Augenblicke... du weißt, was ich meine." Aerien konnte aus ihrer Stimme heraushören, dass Narissa gerade etwas rötlich im Gesicht sein müsste. "Aber ich weiß auch, was du meinst. Die Sache mit Karnuzîr war... übel. Ich kann noch immer nicht recht glauben, dass du tatsächlich in Betracht gezogen hast, seine Frau zu werden."
Aerien wandte den Blick von den Weiten Belegaers ab und drehte sich um, einen ernsten Ausdruck im Gesicht. "Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben. Das war ein Fehler, das weiß ich jetzt."
"Und ob das ein Fehler war. Du hättest wissen sollen, dass ich dich nicht aufgeben würde," warf Narissa hastig ein. "Niemals."
"Ja, ich hätte nicht daran zweifeln dürfen. Aber in der Lage, in der ich mich befand, habe ich versucht, das Beste daraus zu machen. Eine Flucht wäre sinnlos gewesen - ich war unbewaffnet und umgeben von Karnuzîrs Wächtern. Also musste ich mich der Tatsache stellen, dass er mich nach Mordor bringen würde. Um Serelloths Leben zu retten befolgte ich seine Anweisungen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich von ihm erdulden musste.... er hat mich angefasst, Rissa, er hat..." sie brach ab als die Erinnerungen zu schmerzhaft wurden und unterdrückte die Tränen, die ihre Augen zu füllen drohten.
Sofort war Narissa aufgesprungen und war bei ihr. "Du bist jetzt in Sicherheit. Was auch immer dieser Bastard getan hat - wir werden es ihm heimzahlen." Sie schloss Aerien in eine enge Umarmung. "Wenn er dich auch nur einmal unsittlich berührt hat, werde ich ihm seine Hände persönlich abhacken. Ich verspreche es dir."
"Das wird die Erinnerungen nicht auslöschen," stellte Aerien leise klar. Sie kam sich in diesem Moment unendlich schwach und verletzlich vor, und hasste sich dafür. Sie wollte vor Narissa keine Schwäche zeigen - und Tränen schon gar nicht.
"Vielleicht nicht - aber es wird sich gut anfühlen," meinte Narissa grimmig. "Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus möchtest. Dank Karnuzîr bist du dir jetzt nicht mehr sicher, ob du es wirklich ertragen könntest, nach Mordor zurückzukehren."
Aerien nickte langsam und setzte sich auf die Bettkante. Narissa sank neben ihr auf die Matratze und legte die Decke um Aeriens Schultern. "Ich habe immer gedacht, ich wäre stark und mich könnte nichts erschüttern. Ich hatte nie Angst vor irgendetwas, verstehst du? Mein ganzes Leben habe ich gelernt, den Anschein aufrecht zu erhalten und nach außen hart und unnahbar zu wirken. Unerschrocken. Durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Das hat mir mein Vater oft genug gesagt. Halte deine Augen stets offen! hat er gesagt. Bewahre die Ruhe! Aber wie kann ich die Ruhe bewahren, wenn da all diese Gefühle sind, die ich nie gekannt habe? Ich will sie nicht einfach unterdrücken oder verbergen. Ich will dir zeigen, was in mir steckt, Rissa. Und ich will stark für dich sein. Ich will mit dir nach Mordor gehen... auch wenn mir dafür noch die Kraft fehlt."
Anstatt einer Antwort drückte Narissa Aeriens Hand und zog sie an sich. "Du bist stark genug für mich - schon immer," sagte sie dann leise. "Etwas Ruhe wird dir für's Erste ganz gut tun, schätze ich. Morgen ist ein neuer Tag, hm? Und denk dran: du besitzt eine Stärke, die du dir selbst nicht zugestehst. Nutze sie."
"Wo war diese Stärke, als der Nazgûl mich in seinem stählernen Griff hatte? Wo war sie, als Karnuzîr mich gefangennahm?" erwiderte Aerien traurig. "Du hast nicht gesehen, was ich in den grausamen Augen sah, die mich aus der Leere unter der Kapuze dieser... Kreatur aus anstarrten." Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken, ehe sie weitersprach. "Tod und Verderben, Rissa. Mordor wird unser Tod sein, wenn wir nicht darauf vorbereitet sind."
"Das ist eine gute Idee," entgegnete Narissa. "Wir werden uns so gut vorbereiten, wie sich noch niemand in Mittelerde vorbereitet hat. Koste es was es wolle. Wir werden bereit sein, hörst du? Wir werden es schaffen."
Aerien schwieg für einen Augenblick. In ihr regte sich etwas, aufgeweckt durch Narissas Optimismus. "Versprichst du es mir?" fragte sie leise.
"Mordor wird nicht unser Ende sein. Das verspreche ich dir," sagte Narissa feierlich. "Schlaf' jetzt. Morgen beginnen wir mit den Vorbereitungen."
RPG:

Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #24 am: 8. Apr 2017, 15:51 »
Nachdem auch Thorongil und Eayan den Raum verlassen hatten, blieb Edrahil noch einen Augenblick am offenen Fenster stehen und blickte auf das nächtliche Meer hinaus. Dann wandte er sich ein wenig widerwillig ab, und ging ebenfalls zur Tür. Er stieg langsam die Treppe ein Stockwerk hinunter, und betrat dort das kleine Zimmer, dass im Augenblick Serelloth bewohnte. Das junge Mädchen war noch wach, saß halb aufgerichtet im Bett und las im Licht einer kleinen Lampe in einem ein wenig staubigen Buch. Als sie Edrahil hereinkommen hörte, ließ sie das Buch sinken und sagte lächelnd: "Edrahil! Diese Geschichten sind wirklich spannend, ich hätte nie gedacht, dass Bücher so interessant sein können."
Edrahil erwiderte das Lächeln, und setzte sich auf den hölzernen Stuhl neben Serelloths Bett. Nachdem ihre Wunde einigermaßen verheilt war, hatte das Mädchen begonnen, sich zu langweilen und sich mit Sorgen um Aerien und Narissa zu quälen. Also hatte Edrahil sie hin und wieder besucht, um sich mit ihr zu unterhalten und sie ein wenig abzulenken - und, auch wenn er sich das nur ungern eingestand, sich selbst auch. Bei diesen Gelegenheiten hatte er einiges über Serelloth erfahren, über ihr Leben in Ithilien unter den Waldläufern, den Auftrag, der sie nach Harad geführt hatte, und über alles was sie mit Aerien und Narissa erlebt hatte. Er selbst hatte sich hin und wieder dabei ertappt, dass er, von Serelloths Offenheit angesteckt, mehr über sich preisgegeben hatte als er eigentlich wollte. So war sie die bislang einzige, der er verraten hatte, dass er die Hoffnung, in Harad eine Spur seines Sohnes zu finden, noch immer nicht aufgegeben hatte.
Er konnte jedoch nicht den ganzen Tag bei Serelloth sein und mit ihr sprechen, also war er zu Bayyin in den Keller hinunter gestiegen, und hatte sich von ihm eine Sammlung von Geschichten und Legenden aus Harad und Gondor, die irgendein gelehrter Turmherr vor langer Zeit gesammelt hatte, geben lassen. Als er Serelloth das Buch gebracht hatte, hatte diese es zunächst misstrauisch beäugt, und war nicht wirklich begeistert gewesen. Bücher und Geschichten hatten in ihrem kurzen Leben bislang keine Rolle gespielt, sondern waren etwas für Gelehrte wie Bayyin gewesen. Doch offensichtlich hatten die Geschichten Serelloth doch noch für sich einnehmen können, denn bei seinen Besuchen fand Edrahil sie oft lesend vor - wie auch jetzt.
"Nun, ich habe es doch gesagt", erwiderte Edrahil. "Meistens lohnt es sich, auf mich zu hören." Serelloth schnaubte. "Jaja, ihr habt immer Recht."
"Leider nicht immer", meinte Edrahil. "Wenn ich immer Recht hätte, wäre Hasael jetzt nicht mehr Fürst von Umbar, aber... lass uns über etwas anderes reden. Was für eine Geschichte ließt du?"
"Eine Legende aus dem Osten", begann Serelloth. "Darin kommt ein Drache aus dem Norden in das Reich Kush, und verwüstet das Land. Jetzt gerade kommt Anlam, ein großer Krieger, in die Hauptstadt, und bietet an den Drachen zu töten, wenn er danach die Tochter des Königs zur Frau bekommt, und zu seinem Nachfolger ernannt wird."
"Ich kann mir denken, wie es ausgeht", sagte Edrahil, doch Serelloth hob die Hand. "Nein, erzählt es mir nicht", bat sie. "Ich will es selbst lesen."
Edrahil zog eine Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts mehr dazu. Stattdessen wechselte er das Thema. "Was würdest du davon halten, nach Hause zu gehen - nach Ithilien, zu deinem Vater?"
"Ich..." Serelloth stockte, und blickte ihn misstrauisch an. "Ihr wollt mich loswerden? Sobald ich kräftig genug zum Reisen bin?"
"Sobald du kräftig genug zum Reisen bist, ja", bestätigte Edrahil, fügte aber hinzu: "Und es hat nichts damit zu tun, dass ich dich loswerden möchte - oder sonst jemand auf dieser Insel." Ganz im Gegenteil, hätte er beinahe hinzugefügt. Serelloth war, neben Minûlîth, die einzige Person mit der er gerne offen sprach, und Minûlîth wandte zur Zeit viel Zeit für Thorongil und ihren Sohn auf.
"Wir brauchen Kontakte nach Gondor - und nicht nur über Briefe", erklärte er. "Und Dol Amroth muss die Verbindung nach Ithilien wieder aufnehmen, denn alleine wird niemand überleben können. Und da dein Vater der Anführer der Waldläufer dort ist, bist du dazu besser geeignet als sonst jemand."
"Hm... wenn ihr meint...", erwiderte Serelloth, sah allerdings nicht wirklich überzeugt aus. Edrahil seufzte, und nahm ihre Hand, die auf der Bettdecke lag, in seine. "Du möchtest weiterhin mit Aerien und Narissa gehen, nicht wahr?"
"Ihr habt schon wieder Recht", antwortete Serelloth mit einem unglücklichen Nicken. "Das, was passiert ist, ist meine Schuld, und jetzt will ich ihnen helfen. Bei was auch immer sie tun werden."
"Der Weg, den diese beiden gehen werden - vermutlich - ist ein sehr dunkler, und sie müssen ihn alleine gehen", sagte Edrahil ruhig. "Und wenn du nach Ithilien gehst, kannst du uns allen helfen - auch Aerien und Narissa."
Er stand auf, und Serelloth sagte leise: "Also... ich werde darüber nachdenken. Ich vermisse meinen Vater ja auch, und er wird sich schon Sorgen um mich machen, aber..."
"Du hast Angst, dass deine Freundinnen glauben, du würdest sie im Stich lassen wollen?"
"Ja... genau wie damals, nach... Qafsah." Serelloth sprach den Namen der Stadt aus, als würde er ihr Schmerzen bereiten, und Edrahil wusste, warum.
"Sie werden es verstehen, wenn du mit ihnen darüber sprichst. Und ich glaube, sie wissen selbst, dass sie ihren Weg alleine gehen werden müssen." Edrahil wandte sich zum Gehen, doch als er an der Tür war, wandte er sich noch einmal um und sagte: "Serelloth - wenn ich ehrlich sein soll, wäre es mir lieber, wenn du nicht gingst. Aber es muss sein." Er zog sanft die Tür hinter sich zu, und sah sich im dunklen Flur plötzlich Minûlîth gegenüber.

"Der finstere Edrahil hat also doch das ein oder andere Gefühl", sagte sie spöttisch, und bot ihm ihren Arm an. "Geh ein Stück mit mir, ja?" Edrahil ergriff den Arm bereitwillig, und ging mit ihr die Treppe hinunter. "Wenn ich jemals eine Tochter gehabt hätte, hätte ich sie mir wie dieses Mädchen gewünscht", gestand er freimütig. Er war an Minûlîths gelegentlich spöttische Bemerkungen gewöhnt, und sie machten ihm nicht aus. Sie verließen den Turm, und gingen langsam den Weg, der zum Hafen hinunterführte, entlang. "Wie kommt es, dass du Serelloth gegenüber so... anders sein kannst, als gegenüber Narissa, oder Aerien?", fragte Minûlîth schließlich, und Edrahil blickte zum Himmel, an dem der Mond wie eine halbe silberne Münze hing. "Ah", machte er, und blieb stehen. "Darum geht es dir also."
"Darum geht es mir", gab Minûlîth zurück, und befreite ihren Arm. Trotz der Dunkelheit erkannte Edrahil mühelos, dass sie ganz und gar nicht zufrieden mit ihm war. "Du willst sie nach Mordor schicken?"
"Nicht ich", wehrte Edrahil ab. "Wir. Weder Eayan noch Thorongil waren anderer Meinung als ich. Und außerdem haben wir ihnen Gelegenheit gegeben, selbst darüber zu entscheiden."
"Und vorher dafür gesorgt, dass die Entscheidung in deinem Sinne ausfällt?", fragte Minûlîth verächtlich, und Edrahil schüttelte den Kopf. "Ich habe ihnen nur dargelegt, warum es unserer Meinung nach sein muss."
"Und Aerien mit Karnuzîr zu verheiraten, muss das auch sein?" Minûlîths Stimme klang kalt, und Edrahil schwieg einen Augenblick lang. "Thorongil scheint dir wirklich alles erzählt zu haben", sagte er schließlich langsam, und Minûlîth nickte heftig. "Im Gegensatz zu dir scheint er mich nicht vergessen zu haben. In Umbar waren wir Verbündete, Edrahil. Wir haben zusammen gearbeitet, nicht heimlich jeder für sich alleine. Ihr hättet mich wenigstens nach meiner Meinung fragen können!"
Edrahil öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, schloss ihn allerdings wieder ohne etwas zu sagen, was nicht oft vorkam. Weiter im Inneren der Insel stieß ein Nachtvogel klagende Laute aus, während sie schwiegen. Schließlich sagte er: "Das hätten wir tun sollen. Verzeih mir, Minûlîth."
Minûlîth schien einen Moment zu brauchen, um seine Reaktion zu begreifen. "Einfach so?", fragte sie dann. "Du entschuldigst dich und gibst mir Recht? Einfach so?"
Edrahil zuckte mit den Schultern. "Manchmal habe ich Unrecht. Und ganz selten bin ich sogar in der Lage, das einzusehen. Und du hast Recht, es ist nicht richtig gewesen, dich zu übergehen. Immerhin bist du noch immer Minûlîth aus dem Haus Minluzîr und die Herrin von Tol Thelyn."
Ein Grinsen breitete sich auf Minûlîths Gesicht aus, als sie erwiderte: "Wer seid ihr, und was habt ihr mit meinem Freund Edrahil gemacht?"
Mit großer Mühe zwang Edrahil sich dazu, das Grinsen nicht zu erwidern, und sagte stattdessen: "Die Nacht scheint eine gute Zeit für Ehrlichkeit zu sein. Aber warte bis morgen, dann wird der finstere Meister Edrahil zurück sein."
Minûlîth lachte, und fragte dann wieder ernst: "Und was ist nun mit Aerien und Karnuzîr? Ganz davon abgesehen dass es dir niemals gelingen würde, sowohl Aerien als auch Narissa davon zu überzeugen, könnte alleine der Versuch..."
"Es war nur ein Gedanke", unterbrach Edrahil sie. "Kein besonders schöner, und ich denke auch, dass er keinen Sinn hat. Ich werde einen anderen Weg finden müssen."

Während sie zum Turm zurückgingen, kam ihm ein anderer Gedanke. "Kush", sagte er. "Das Reich gibt es nicht mehr, doch heute liegt dort ein anderes Königreich... Kerma?"
"Richtig", meinte Minûlîth. "Aerien und Narissa sind seinem König Músab in Aín Sefra begegnet. Wie kommst du darauf?"
"Serelloth hat eine Geschichte über das alte Kush gelesen", erklärte Edrahil. "Und das brachte mich darauf, dass wir Verbündete brauchen - und in Kerma könnten wir anfangen."
"Das könnte gelingen", erwiderte Minûlîth. "Immerhin ist König Músab mit Aerien verwandt. Die Schwester von Aeriens Großvater, der übrigens die Schwester meines Großvaters geheiratet hatte, ist Músabs Mutter."
"Hm", machte Edrahil, und strich sich nachdenklich über das Kinn. "Vielleicht sollten sie bevor sie nach Mordor gehen, einen Umweg machen..."

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Pläne werden geschmiedet
« Antwort #25 am: 10. Apr 2017, 15:04 »
Aerien erwachte früh. Die ersten Sonnenstrahlen drangen gerade erst durch das Fenster und tauchten den Raum in ein geheimnisvolles, bronzefarbenes Licht. Aerien richtete sich im Bett auf - leise und vorsichtig, um Narissa nicht zu wecken, deren Oberkörper sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte. Aerien betrachtete sie einen langen Moment und sah zu, wie die Sonne ihre tastenden Finger langsam über Narissas schlafende Gestalt wandern ließ und ihr weißes Haar einen silbrig-rötlichen Farbton annahm. Dieser Anblick ist definitiv den ganzen Ärger wert, den ich seit der Flucht aus Minas Tirith erdulden musste, dachte Aerien. Ich bin froh, dass mich mein Pfad hierher geführt hat.
Rasch zog sie sich an und wählte eines der leichteren Kleider, die sich in Lóminîths Truhe befunden hatten. Selbst so früh am Morgen drang bereits warme Luft von draußen herein. Die Sommer auf Tol Thelyn waren nur wenig kühler als im Landesinneren Harads und seine Bewohner vertrauten auf die Winde, die vom Meer her über die Insel wehten, um sie ewas abzukühlen. Doch als Aerien vorsichtig eine Hand aus dem Fenster streckte, stellte sie fest, dass sich im Moment kein Lüftchen regte.
Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, Narissa aufzuwecken, doch dann entschied sie sich dagegen. Sie hatte begonnen, ihre Zeit auf Tol Thelyn als eine Art Urlaub zu betrachten, der nicht ewig anhalten würde. Wer weiß, wann wir nach unserem Aufbruch von hier wieder die Gelegenheit haben werden, so richtig auszuschlafen. Also stahl sie sich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer, so dass selbst Narissas geschärftes Gehör nichts davon mitbekam.

Im Eingangsbereich des Turms traf sie auf Minûlîth, die augenscheinlich niemals zu schlafen schien, sondern ständig dieses und jenes organisierte. Sie war wirklich eine äußerst beschäftigte Frau.
"Guten Morgen, Aerien!" rief die Herrin der Insel und umarmte Aerien herzlich, ehe sie dem Mädchen die Hände auf die Schultern legte. "Ich wünschte, meine Schwester könnte dich jetzt gerade sehen. Sie wäre entzückt darüber, wie gut dir ihre Sachen stehen! Weißt du, sie hat sich nur sehr schweren Herzens von diesen Kleidern getrennt. Aber es war nicht zu ändern; das Schiff, dass sie und ihren Verlobten nach Gondor trug, war bis zum Rand vollgestopft. Außerdem haben die meisten der Kleider, die sie hier gelassen hat, einen Schnitt und Muster, die zu sehr nach Umbar und den Südlanden aussehen. Das würde am Hofe von Dol Amroth nicht gut ankommen, wenn du verstehst was ich meine."
Und Aerien verstand. Am Hofe des Fürsten von Durthang war es nicht anders gewesen. Sitten und Moden zu befolgen war ein essentieller Teil davon gewesen, sich dort zu behaupten. Sie war jedoch der Meinung, dass es in Dol Amroth sicherlich nicht ganz so schlimm wie in der Festung der Schwarzen Númenorer zugehen musste. Also nickte sie.
"Ich bin froh darüber, hier einige Sachen zum Wechseln zu haben," sagte sie höflich. "Wenn ich ehrlich bin, hat es mich schon gestört, den ganzen Weg von Mordor bis Ain Séfra immer dieselbe Kleidung zu tragen."
"Das kann ich dir nicht verdenken," meinte Minûlîth. "Wo wir gerade davon sprechen: deine Rüstung habe ich Gardír, dem Schmied gegeben. Du kannst sie dir später bei ihm abholen. Ich habe ihm gesagt, er soll die Siegel Mordors entfernen und die Beulen heraushauen. Er sorgt dafür, dass du im Kampf einen weniger düsteren Eindruck machst; jetzt, wo du nicht mehr für den Schatten kämpfst."
"Ich danke dir, Herrin," antwortete Aerien und wollte respektvoll das Haupt senken, aber Minûlîth hielt sie zurück.
"Nicht so förmlich, meine Liebe, du gehörst doch zur Familie!" rief sie belustigt und versetzte Aerien einen geradezu spielerischen Stups gegen den Oberarm. "Du wirst mich Melíril oder Tante nennen, hörst du?"
"Wie du wünschst, Melíril," sagte Aerien mit einem kleinen Lächeln.
Minûlîth erwiderte das Lächeln. "Du könntest meine Tochter sein, wir sehen uns sogar ein wenig ähnlich - kein Wunder bei unserer Verwandschaft. Weißt du, ich habe mir schon immer ein Mädchen gewünscht - doch dann kam Túor."
"Er ist ein guter Junge," versuchte Aerien dagegenzuhalten.
"Nein, er ist ein Wirbelwind," seufzte Minûlîth. "Und sein Vater stachelt ihn umso mehr auf, mit seinen Geschichten vom Reich der Turmherren und seinen Abenteuern im Süden. Du bist die Einzige, die hier noch etwas Vernunft zeigt, ganz im Gegensatz zu meiner anderen Ersatztochter. Sag' Narissa, dass sie aufhören soll, Túor ihre gefährlichen Kampftricks beizubringen, ja? Er ist noch nicht alt genug für diesen Unsinn... und wenn er es ist, wird sein Vater seine Ausbildung übernehmen. Er hat mehr Erfahrung in solchen Dingen."
"Ich werde es ihr ausrichten," versprach Aerien, auch wenn sie nicht daran glaubte, dass Narissa sich an Minûlîths Anordnung halten würde.
Minûlîth nickte zufrieden. "Wenn du mir noch weiter behilflich sein möchtest, könntest du Serelloth ihr Früstück bringen. Es müsste gleich fertig sein. Würdest du das für mich tun, Aerien?"
"Ich wollte Serelloth sowieso bald besuchen," antwortete Aerien. "Ich gehe sofort. Bis später, Melíril."
Die Herrin der Insel strich Aerien zum Abschied quer über den Kopf und eilte dann geschäftig davon.

Aerien stieß die Tür zu Serelloths Zimmer mit dem linken Fuß auf, denn ihre Hände waren damit beschäftigt, das schwer beladene Tablett zu tragen. Serelloth bekam ein reichhaltiges Frühstück seitdem sie Minûlîth gegenüber erwähnt hatte, dass sie nach dem Aufstehen den größten Hunger des Tages hatte und sich dafür mittags und abends beim Essen eher zurückhielt. Serelloth war bereits wach und war so sehr in ein altes Buch vertieft, dass sie nicht einmal aufblickte sondern nur sagte: "Stell es auf den kleinen Tisch neben mir und dann lass' mich in Ruhe - es ist gerade zu spannend um des Frühstücks wegen mittendrin aufzuhören."
Offensichtlich hatte sie nicht erwartet, dass Aerien diejenige sein würde, die ihr das Frühstück brachte, sondern eine der Bediensteten Minûlîths, weshalb Aerien ihr diese Begrüßung nicht übel nahm. Sie stellte das Tablett wie angeordnet neben Serelloths Bett ab und erwog, ihrer gondorischen Freundin das Buch einfach aus der Hand zu schnappen. Und dabei fiel ihr auf, dass das genau das wäre, was Narissa getan hatte. Sie färbt wohl auf mich ab, dachte Aerien lächelnd und setzte sich auf die Bettkante um abzuwarten.
"Was ist denn noch?" fragte Serelloth, wandte ihr jedoch noch immer nicht den Blick zu.
"Muss wohl wirklich fesselnd sein was du da liest," sagte Aerien schmunzelnd. "Worum geht es denn?"
"Um die Legenden von... Moment mal, Aerien? Du bist das? Oh, ich hatte ja keine Ahnung..."
"Hättest du mich wenigstens eines kurzen Blickes gewürdigt würde dein Gesicht jetzt nicht roter als die Schlange Sûladans werden," neckte Aerien als Serelloth das Buch endlich sinken ließ.
Serelloth entgegnete nichts, ihr schien es die Sprache verschlagen zu haben - etwas, das nur äußerst selten bei ihr vorkam.
"Ich hätte von einer erfahrenen Waldläuferin eigentlich erwartet, dass sie sich ihrer Umgebung ständig bewusst ist - schließlich könnte überall Gefahr lauern," sagte eine neue Stimme. Es war Edrahil, der im Türrahmen lehnte. "Aber keine Sorge, Serelloth - wenn Aerien nichts verrät, wird niemand je herausfinden, dass du dich in einen Bücherwurm verwandelt hast."
"Guten Morgen Meister Edrahil," sagte Aerien und stand auf. Dem Gondorer gelang es noch immer, dass sie sich etwas unbehaglich unter seinem scharfen Blick fühlte. Obwohl er gerade für seine Verhältnisse gute Laune zu haben schien, gab er Aerien dennoch das Gefühl, dass sie sich seines Vertrauens noch immer als würdig erweisen musste.
"Guten Morgen, Aerien. Ich nehme an, Narissa schläft noch?" fragte der Herr der Spione und ging von der Türe weg, bis er neben Serelloths Bett stand, Aerien gegenüber.
Aerien nickte, und Serelloth sagte: "Das passt zu ihr. Kaum ist sie nach Hause zurückgekehrt, wird sie faul." Das Mädchen grinste - ein Anblick, der Aeriens Seele unendlich gut tat. Sie war froh, dass Serelloth die Begegnung mit Karnuzîr überlebt hatte und schon bald nicht mehr ans Bett gefesselt sein würde.
"Edrahil sagt, ich solle nach Ithilen zurückkehren wenn ich wieder reisen kann," erzählte Serelloth. Das machte Aerien nachdenklich, denn sie hatte sich zwar damit abgefunden, mit Narissa auf Arandirs geheimem Weg nach Mordor zu reisen, hatte sich dabei jedoch noch keine Gedanken darüber gemacht, was dann aus Serelloth werden würde. In ihrer bisherigen Vorstellung hatte sie die Straße nach zum Schattenland mit Narissa alleine eingeschlagen. Sie vermutete, dass Edrahil Serelloth zu Damrod schicken wollte, um Verbündete für Dol Amroth und die Insel zu gewinnen, und stellte dem älteren Mann diese Frage.
"Gut erkannt," bestätigte Edrahil. "Imrahil, der Truchsess Gondors, stand bereits seit der Schlacht um Linhir mit Damrod von Ithilien in Verbindung, doch es war nie ein besonders enges Band. Doch dank der Rückeroberung des Ethirs ergeben sich neue Möglichkeiten für Gondor, eine längerfristige Verbindung aufzubauen. Und auch für Tol Thelyn könnte sich eine Allianz mit den Waldläufern als vorteilhaft erweisen."
"Ich verstehe," sagte Aerien. "Und was hältst du davon, Serelloth?"
Das gondorische Mädchen verzog das Gesicht.. "Edrahil hat recht," sagte sie, klang jedoch unglücklich dabei. "Ich sollte gehen, sobald es mir möglich ist. Aber ein Teil von mir würde alles dafür geben, Narissa und dich dorthin zu begleiten, wo euch euer Weg hinführen wird. Ich will nicht, dass ihr euch von mir im Stich gelassen fühlt."
Aerien setzte sich wieder auf die Bettkante und nahm Serelloths Hand. "Nein, Serelloth. Ich weiß, dass du uns nie im Stich lassen würdest."
"Und was habe ich dann bei Qafsah getan?" brach es aus Serelloth hervor. "Sieh doch nur, welches Leid ich dabei verursacht habe. Du wärst um ein Haar zurück nach Mordor gebracht worden!"
Das erinnerte Aerien an das Gespräch, das sie mit Serelloth nach ihrer Rückkehr auf die Insel gehabt hatte - nur hatte sich damals Aerien die ganze Schuld gegeben. "Das hatten wir doch alles schon," sagte sie daher. "Ich glaube, wir hatten uns darauf geeinigt, dass Karnuzîr an allem schuld ist - und nicht du. Ich glaube, Herr Edrahil hat Recht - du solltest nach Ithilien gehen. Und das sage ich nicht, weil ich dich loswerden möchte, sondern weil ich glaube, dass der Wege, der vor Narissa und mir liegt, zu gefährlich ist, um ihn zu dritt zu beschreiten. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst, verstehst du?"
Das brachte ihr einen wütenden Blick von Serelloth ein. "Du weißt ganz genau dass mich keine Gefahren davon abhalten würden, dir zu helfen," presste sie hervor. "Aber ich will mich nicht streiten. Ich weiß, dass Tol Thelyn Verbündete braucht, und mein Vater wird mir zuhören. Also werde ich gehen - aber nur, wenn du mir versprichst, dass ihr mich nach eurem Abenteuer in Mordor auf dem Weg nach Gondor abholt, ja? Ich werde in Ithilien auf euch warten. Versprich es mir!"
"Ich verspreche es," sagte Aerien, und sie meinte es auch so.

Edrahil hatte die Auseinandersetzung bislang stumm verfolgt, doch nun sagte er: "Ihr beiden habt da zwei wichtige Punkte angesprochen. Der Weg nach Mordor wird kein Leichter sein, das ist offensichtlich. Und Tol Thelyn braucht Verbündete, das ist ebenso klar. Deswegen schlage ich vor, dass Aerien und Narissa so bald wie möglich aufbrechen sollten - in Richtung des Königreiches von Kerma."
"Kerma?" wiederholte Aerien verwundert. "Das Reich König Músabs?"
"Ganz genau," erwiderte Edrahil. "Wie ich höre, bestanden einst freundschaftliche Beziehung zwischen den Kermern und den Thelynrim. Und König Músab scheint dir wohlgesonnen zu sein, Aerien. Diese Gelegenheit sollten wir nicht verstreichen lassen. Überdies würde diese Reise sicherlich eine gute Übung für euch sein. Ich werde Narissa wecken und es ihr sagen."
"Sie weiß schon Bescheid," sagte Narissa und kam herein. Sie trug die Haare offen und war wie am Vortag in die Tracht Tol Thelyns gekleidet. Und ganz offensichtlich hatte sie an der Türe gelauscht.
Edrahils linke Augenbraue fuhr in die Höhe. "Nun, wenn dem so ist, habe ich mir den Weg zu deinem Zimmer gerade gespart."
"Und ich finde, wir sollten diese Reise machen," erklärte Narissa. "Kerma liegt am östlichen Meer - damit wäre für dich ein Anreiz geschaffen, dem Reich einen Besuch abzustatten," fügte sie in Aeriens Richtung hinzu.
Aerien hingegen war nicht sonderlich begeistert. Sie hatte sich darauf gefreut, mit Narissa nach Gondor zu gehen, nachdem ihr Auftrag in Saurons Land beendet war. Doch Kerma lag in der entgegengesetzten Richtung. Dennoch verstand sie die Argumente, die dafür sprachen. Also atmete sie tief aus und sagte: "Also gut. Statten wir meinem königlichen Verwandten einen Besuch in seiner Heimat ab...."
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #26 am: 27. Apr 2017, 16:54 »
Die nächsten beiden Tage vergingen rasch. Narissa las alles, was sich im Turm an Informationen über Kerma finden ließ - was leider nicht allzu viel war - und begann sich, wie sie sagte, für die Reise aufzuwärmen. Morgens lief sie im Dauerlauf zu den Felsklippen im Südwesten der Insel, an denen die während ihrer Ausbildung gelernt hatte, kletterte rasch hinauf und wieder hinunter und lief wieder zurück.
Ihr Onkel schüttelte den Kopf über diesen Eifer, und sagte dazu: "Ihr werdet mit König Músab verhandeln, mehr nicht. " Aber er hielt sie nicht ab.
Am Morgen des dritten Tages ließ Narissa sich von Minûlîth die Haare schneiden. Vorher waren sie mehr als schulterlang und entsprechend auffällig gewesen, jetzt reichten nur einige Strähnen, die zu beiden Seiten des Kopfes locker herunterfielen bis auf die Schultern. Die restlichen Haare band Narissa im Nacken zu einem losen Knoten zusammen und machte sich auf die Suche nach Aerien.
"Du siehst... anders aus", sagte diese, nachdem Narissa sie auf dem Hof vor dem Turm gefunden hatte.
"Ich dachte mir, es wird vielleicht Zeit ein wenig unauffälliger zu sein", erklärte Narissa, und biss sich auf die Unterlippe. "Gefällt es dir nicht?" Sie fuhr sich ein wenig unsicher mit der Hand über den freien Nacken. Früher hatte sie nie großen Wert auf ihr Äußeres gelegt und es war ihr egal gewesen, was andere von ihr dachten. Viel hatte sich daran eigentlich nicht geändert, doch jetzt gab es eine Person, deren Meinung für sie zählte.
"Es ist nur ungewohnt", erwiderte Aerien mit einem beruhigenden Lächeln, und lehnte ihr Schwert, dass sie geschärft hatte, an die von der Sonne warme Außenmauer des Turmes. "Ich finde, es steht dir durchaus."
Narissa versetzte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange, fragte aber: "Meinst du wirklich?" "Natürlich", gab Aerien mit gespielten Vorwurf zurück. "Glaubst du, ich würde ich anlügen?"
"Hm. Nein."
"Na also. Aber warum ausgerechnet jetzt? Ich glaube nicht, dass König Músab dich an Suladân verkaufen würde." Narissa zog die Schultern noch. "Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass an dieser Sache mehr dran sein wird, als wir jetzt denken."
"Dann hoffe ich, dass dein Gefühl sich täuscht", meinte Aerien. "Ich würde mich jedenfalls über eine angenehm friedliche Reise, hin und wieder zurück, nicht beschweren - wenn man bedenkt was noch vor uns liegt."
"Mhm." Narissa zog sie am Ärmel mit sich. "Lass uns um die Wette laufen, zu den Felsen im Süden. Wer zuletzt da ist, der... das überlege ich mir noch."
"Ich werde nicht in einem Kleid um die Wette laufen!", protestierte Aerien.
"Dann zieh dich eben um - ich warte solange hier. Oder ich verschaffe mir schon einen kleinen Vorsprung...", erwiderte Narissa mit einem Grinsen, und Aerien drohte ihr mit erhobenem Zeigefinger. "Du bist wirklich unmöglich. Wag es ja nicht!"
Narissa lehnte sich an die waren Steine der Mauer und sagte mit einem frechen Grinsen: "Hast Recht, ich habe es nicht nötig, mir einen Vorsprung zu verschaffen. Also los, lass mich nicht zulange warten!"

Nicht allzu lange Zeit später ließ sie sich unterhalb des Kletterfelsens ins dichte Gras fallen. Ihr Atem ging ein wenig schneller als üblich und auf ihren Schläfen und der Stirn glitzerten feine Schweißtropfen. Trotzdem war sie zufrieden, denn sie war schneller als Aerien gewesen.
Diese ließ sich einige Herzschläge später neben Narissa zu Boden gleiten, atmete allerdings ein wenig ruhiger und wirkte weniger angestrengt. "Das nächste Mal laufen wir in voller Rüstung", schlug sie mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen vor.
"In voller Rüstung? Darin kann man sich ja nicht einmal richtig bewegen!", wehrte Narissa ab, und begann unbewusst mit Aeriens Pferdeschwanz zu spielen, ließ die seidigen schwarzen Haare durch die Finger gleiten. "Du vielleicht nicht", stichelte Aerien. "Ich wette mit dir, in voller Rüstung würdest du doppelt so lange brauchen, und ich wäre genauso schnell wie jetzt."
"Ha! Das ist doch Angeberei", meinte Narissa, aber sie sagte es ohne Schärfe. Auf der Lichtung unterhalb der Felsen war es friedlich und ruhig, und einige Vögel sangen in den Bäumen und vom Meer her waren leise die Schreie der Möwen zu hören. Diesem Geräusch entging man auf der Insel nirgends, und es war für Narissa ein Stück Heimat. "Höchstens ein bisschen", sagte Aerien ein wenig schläfrig. Narissa hatte sich inzwischen aufgesetzt, und Aerien hatte den Kopf auf ihren Oberschenkel gebettet.
Sie blieben einige Zeit schweigend so sitzen, und Narissa wünschte sich beinahe, nie wieder fortgehen zu müssen. Doch irgendwann sagte sie ein wenig wehmütig: "Wir sollten zurückgehen. Sonst kann Serelloth sich nicht von uns verabschieden, und du kannst dir ja vorstellen, was sie davon halten würde."
Aerien seufzte, lächelte aber als sie antwortete: "Ja, das kann ich mir nur allzu lebhaft vorstellen..."

An dem Kai, an dem die Thoroval vor Anker lag, hatten sich eine kleine Menge versammelt, als Aerien und Narissa den Hafen erreichten. Hallatan, der Kapitän der Thoroval verabschiedete sich gerade von seinem Sohn Hírilorn. Ta-er, die Serelloth als Vertreterin des Silbernen Bogens nach Gondor begleiten würde, sprach leise mit Eayan, während Serelloth mit Edrahil, Thorongil und Minûlîth redete. 
Als Narissa und Aerien zu ihnen traten, sagte Serelloth: "Da seid ihr ja. Ich dachte schon, ihr wolltet mich aufbrechen lassen, ohne mich zu verabschieden." Sie sagte es im Scherz, doch es war deutlich zu erkennen, dass ihre Aussage einen wahren Kern hatte. Bei aller äußerlichen Unbeschwertheit schien Serelloths Selbstsicherheit in letzter Zeit ein wenig gelitten zu haben. Narissa hoffte, dass sie in Ithilien zurechtkommen würde - doch mit Ta-er an Serelloths Seite brauchte sie sich vermutlich keine Sorgen zu machen.
"Das würde uns doch nie einfallen", erwiderte Aerien, und schloss das Mädchen fest in die Arme. "Sei vorsichtig und pass auf dich auf. Und grüß deinen Vater von mir, wenn du ihn siehst - und Beregond, falls er dort ist."
"Das mache ich, 'Rien... und ich werde ihm auch erklären, warum du einfach verschwunden bist", sagte Serelloth mit einem Augenzwinkern, und Aerien räusperte sich ein wenig unbehaglich. "Ja bitte, erklär es ihm und sag ihm, dass es mir leid tut ihn einfach alleine gelassen zu haben."
Als nächstes umarmte Serelloth Narissa, und sagte: "Pass gut auf Aerien auf - obwohl, das tust du wahrscheinlich sowieso."
Narissa nickte, und Aerien warf ein: "Und wer passt auf sie auf?" Serelloth lachte. "Dann passt eben aufeinander auf. Bitte."
Verstohlen schob Narissa ihre Finger durch Aeriens, als sie antwortete: "Natürlich. Irgendwann treffen wir uns alle heile in Gondor wieder. Das verspreche ich, Serelloth."
"Man sollte nur Dinge versprechen, die man halten kann", sagte Edrahil leise, und Minûlîth verdrehte die Augen.
"Was ich verspreche, halte ich", gab Narissa entschlossen zurück. Sie würde sich nicht von einem alten Mann ihre Zuversicht nehmen lassen. Edrahil schwieg, doch der Zweifel in seinen Augen war nicht zu übersehen.
Serelloth verabschiedete sich auch von Minûlîth und Thorongil und bedankte sich für ihre Gastfreundschaft, und sagte zuletzt Edrahil Lebwohl. Sie umarmte den Spion kurz, obwohl dieser nicht unbedingt damit einverstanden zu sein schien, und Narissa nahm sich vor, sich seinen verdutzten Gesichtsausdruck zu merken um sich später aufzuheitern.
"Auf dem Schiff wirst du etwas finden, um dir die Zeit auf der Reise zu vertreiben", sagte Edrahil leise. "Jetzt geh, Serelloth."
Nacheinander kletterten Serelloth, Hallatan und Ta-er an Bord der Thoroval. Die Leinen wurden losgemacht, und ein leichter Wind trieb das Schiff langsam aus dem Hafen und in Richtung Norden.
Während das Schiff sich langsam entfernte, fragte Narissa: "Was habt ihr gemeint, Edrahil? Womit soll Serelloth sich die Zeit vertreiben?"
"Ich habe... einige Bücher die ihr gefallen könnten aus der Bibliothek des Turmes entwendet", antwortete der Spion, und Thorongil wandte ihm überrascht den Kopf zu. "Ihr habt was? Ihr hätte auch einfach fragen können, das wisst ihr."
"Durchaus", erwiderte Edrahil. "Aber das hätte die Überraschung verdorben. Ihr hättet es womöglich eurer Frau erzählt und Minûlîth ist, wie wir alle, der Verbreitung von Gerüchten nicht allzu abgeneigt..." Die Angesprochene schnappte empört nach Luft, doch alle anderen lachten - selbst Eayan, der normalerweise nur selten überhaupt lächelte.

Langsam zerstreute sich die Menge, doch Narissa und Aerien blieben noch einige Zeit am Hafen stehen und sahen der Thoroval nach, bis sie am Horizont verschwand. "Ich wünschte, wir hätten mitfahren können", meinte Narissa. "Gemeinsam Gondor erkunden, Dol Amroth und Ithilien sehen..."
"Eines Tages", sagte Aerien leise. "Eines Tages werden wir zusammen nach Gondor gehen, und selbst die Weiße Stadt sehen, frei von Saurons Dienern, wie sie sein sollte. Aber vorher gibt es noch viel zu tun."
"Ich weiß." Narissa seufzte. "Also dann... morgen sind wir an der Reihe."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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« Antwort #27 am: 28. Apr 2017, 23:41 »
Aerien saß in Narissas Turmzimmer am Fenster und sah der Sonne dabei zu, wie sie langsam über dem rotgoldenen Ozean Belegaer versank. Auf dem Rückweg zum Turm war Aerien bereits wortkarg gewesen, und nun, da sie für einige Momente alleine war, hatte sie endlich Zeit, ihre durcheinander geratenen Gedanken zu ordnen. Narissa war ihr bislang nicht die Treppe des Turmes hinauf gefolgt, sondern war in Richtung der Küche abgebogen. Wahrscheinlich wollte sie sich dort nach Essen umsehen. Aerien hingegen verspürte kaum Appetit. Serelloths Abschied hatte sie an etwas erinnert. Schemenhafte Bilder aus ihrer Vergangenheit zogen vor ihrem inneren Auge herauf...

~~~

Azruarî Minluzîrith stand neben der dreizehnjährigen Azruphel und hatte die Hand ihrer Enkelin fest ergriffen. Hinter ihnen ragte das düstere große Tor Durthangs in den von dicken Wolken bedeckten Himmel Mordors hinauf und versprach all jenen, die seine Schwelle ohne Erlaubnis überquerten, ein grausames Schicksal. Dies war Azruphels Zuhause... der einzige Ort, den sie kannte. Hier waren ihre Familie und alle, die sie kannte... doch dies änderte sich nun.
"Dies ist eine große Ehre für deinen Vater," sagte Azruphels Mutter Lóminzîl leise. "Er wird zum Dunklen Turm gerufen und vor den Großen Gebieter treten. Dies wird nur den würdigsten Dienern des Auges gewährt." Neben ihr standen zwei schweigsame Gardisten, deren Namen Azruphel nur deshalb kannte, weil ihr Vater seit seiner Ernennung zum Fürsten von Durthang dazu übergegangen war, selbst den niedersten Bediensteten mit vollem Namen anzusprechen; eine Geste des Respekts, die ganz und gar ungewöhnlich für den Bâr n'Adûnâi, den Herrn der Erben Númenors, war. Azruphels Großmutter hatte ihr einmal erklärt, dass ihr Vater Varakhôr einen anderen Ansatz verfolgte als sein Vorgänger, der in Lugbûrz saß und dort als Mund des Großen Gebieters bekannt war. Varakhôr herrschte nicht durch Furcht, sondern durch Respekt. Er war weniger grausam, doch dabei nicht weniger konsequent. Er gab jenen eine Chance, die sich durch ihre Talente hervortaten und stellte selbst die hochgeborensten Söhne und Töchter Durthangs auf die Probe. Und bislang schien diese Methode zu funktionieren. Niemand stellte die Autorität von Azruphels Vaters infrage. Seit seinem Amtsantritt hatte es nicht einen einzigen Attentatsversuch gegeben. Dennoch ließ er seine Familie stets gut bewachen. Die Gardisten - Aglarân und Zaphrakár - waren altgediente Veteranen und erledigten ihre Aufgaben ohne zu murren. Azruphel war das ganz recht, denn so konnte sie die Gegenwart der schwer gepanzerten, furchteinflößenden Gestalten recht gut ausblenden.

Eine Bewegung zu ihrer Rechten erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ihr schwarzsilbernes Kleid flatterte leicht im Wind, der durch das Tal von Durthang glitt und Azruphel ließ die Hände an ihren Seiten hinabgleiten, um den Saum unten zu halten. Als sie wieder aufblickte stand jemand vor ihr. Es war Arnakhôr, Abrazîrs Sohn, gehüllt in dunkelgraue, edle Gewänder. Er war sechs Jahre älter als Azruphel und nach dem Gesetz der Númenorer ein ausgewachsener Mann. Aber Azruphel erinnerte sich noch an den Jungen, der er gewesen war, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. Rasch unterdrückte sie jegliche Anspannung und begegnete seinem Blick mit der für solche Anlässe angebrachte Neutralität. Eine Pause trat ein, während ihr Vater im Hintergrund in den Sattel seines schwarzen Rosses stieg.
"Was gibt es, Arnakhôr?" fragte Azruphel schließlich, nachdem sie innerlich bis siebzig gezählt hatte.
"Wie fühlst du dich?" konterte ihr Gegenüber und brachte Azruphel damit aus dem Konzept. Zwar hatte ihre Mutter bereits damit begonnen, ihr die Feinheiten der Gesprächskunst beizubringen, doch Azruphel war noch immer ein Mädchen, das gerade erst an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand, und hatte die unterschütterliche, ruhige Miene, die ihre Mutter so perfekt beherrschte, noch längst nicht vollständig unter Kontrolle. "Es ist das erste Mal, dass dein Vater Durthang für längere Zeit verlassen wird," fuhr Arnakhôr fort. "Wirst du ihn vermissen?"
Das war eine sonderbare Frage. Natürlich würde Azruphel ihren Vater vermissen. Aber wieso wollte Arnakhôr das wissen? "Es geht mir gut," sagte sie diplomatisch und wiederholte, was ihre Mutter zuvor gesagt hatte: "Ihm wird eine große Ehre zuteil."
Arnakhôr betrachtete sie mit einem seltsamen Blick, unter dem Azruphel sich noch unbehaglicher als zuvor fühlte. Sie fühlte sich nackt und schlang unbewusst die Arme um den Oberkörper.
"Geh deiner Wege, Junge," zischte Azruphels Großmutter Azruarî. "Sie verabschiedet sich von ihrem Vater, und du bist ihr im Weg. Vergiss nicht, wo dein Platz ist."
"Ich kenne meinen Platz, Herrin," gab Arnakhôr zurück. "Ich kenne ihn sehr genau." Damit gab er den Weg frei und verschwand in der Menge.

Azruphel lief rasch auf die andere Seite der Straße, wo sich die Eskorte ihres Vaters um sein Pferd sammelte. Die in graue, düstere Rüstungen gehüllten Krieger bildeten eine Gasse für das Mädchen und sie blieb neben den Vorderbeinen des Pferdes stehen. "Vater," rief Arzuphel und erregte Varakhors Aufmerksamkeit, als er gerade seinen Helm aufsetzte.
"Ich erwarte, dass du deine Studien in meiner Abwesenheit nicht vernachlässigst, Azruphel," erwiderte er und strich ihr über den Kopf.
"Das werde ich nicht, Vater. Ich verspreche es!"
"Wenn ich zurückkehre, werden wir gemeinsam herausfinden, ob du dich für das Erlernen der dunklen Künste eignest," versprach Varakhôr im Gegenzug. "Der Große Gebieter hat einen Auftrag in Khand für mich. Es werden viele Tage vergehen, bis wir uns wiedersehen. Bleibe unerschrocken, und höre auf deine Mutter. Gib immer dein Bestes - für das flammende Auge."
"Für das flammende Auge," wisperte Azruphel andächtig.
Varakhôr gab seinem Pferd die Sporen und preschte davon, gefolgt von seiner Eskorte. Azruphel blieb allein zurück.


~~~

Serelloths Abschied war eine ganz andere Sache als der Aufbruch ihres Vaters gewesen, aber in Aerien hatte er ähnliche Gefühle der Veränderung und des Verlusts ausgelöst. Sie hatte damals natürlich gewusst, dass ihr Vater zurückkehren würde; hatte fest damit gerechnet und war nicht enttäuscht worden. Aber mit Varakhôr war damals ein fester Bestandteil ihres Lebens für eine Zeit lang verschwunden, und hatte Azruphel damit aus ihrem gewohnten Alltag gerissen. Das Gefühl, das sie gehabt hatte als sie der Thoroval nachgesehen hatte, war beinahe exakt dasselbe gewesen, das die dreizehnjährige Azruphel damals empfunden hatte, als sie ihren Vater davonreiten sah. Und damals wie heute blieb sie in der Geheinschaft von Menschen zurück, die sie als ihre Familie bezeichnete. Dennoch würde für einige Zeit jemand fehlen.

Als Aerien an ihre neue Familie dachte kam wie aufs Stichwort Narissa hereingeplatz, voll beladen mit allerlei Köstlichkeiten, die sie später als "das beste Abendessen, das Tol Thelyn je gesehen hat" bezeichnete. Sie stellte kurzerhand alles auf ihr Bett und kam zu Aerien hinüber. "Du kannst ein andermal trübsinnig sein, Sternchen. Heute ist unser letzer Abend auf der Insel. Und den werden wir feiern, hörst du? Ich will keine traurigen Gesichter sehen."
"Wie hast du mich gerade genannt, Rissa?"
Narissa stupste mit ihrem Zeigefinger gegen Aeriens Medaillon, das aus ihrem Ausschnitt hervorragte. "Finde dich damit ab. Es war an der Zeit, dir einen Spitznamen verpassen. Das fand zumindest Túor, und ich stimme ihm voll zu."
"Túor nennt mich..."
"Er ist ein aufgewecktes Kerlchen, findest du nicht?"
"Du hast ihn auch noch ermuntert? Du bist wirklich unmöglich!"
Narissa grinste unverschämt. "Das wusstest du schon bevor du dich mit mir eingelassen hast, und es hat dich nicht davon abgehalten, mir deine..."
"Kein einziges Wort mehr!" unterbrach Aerien ihre Freundin, ehe sie weitersprechen konnte. "Dir werd' ich's zeigen!"
Und damit stürzte sie sich auf Narissa.

Am späten Vormittag des nächsten Tages standen Túor und Thorongil nebeneinander am Kai von Tol Thelyn und sahen zu, wie sich ein Ruderboot vom Festland näherte. Narissa hatte darauf bestanden, keines der großen Schiffe für die Überfahrt zu benutzen, da "kleine Boote viel aufregender sind". Sie hielt Aeriens Hand und wippte aufgeregt mit den Beinen auf- und ab, bis Aerien ihr einen gereizten Klaps auf den Rücken versetzte. "Bei den... silbernen Glocken von Valimar," wisperte sie. "Nächstes mal werde ich den Wein so gut verstecken, dass ihn selbst der beste Meisterdieb Mittelerdes nicht finden kann."
Narissa hingegen grinste breit. "Du wolltest doch wohl nicht gerade Bei den Sternen sagen, hmm?"
"Untersteh' dich," drohte Aerien, und tatsächlich beschränkte sich Narissa darauf, einen Stern mit ihrem Finger in die Luft zu malen. Aerien schlug danach, doch Narissa zog die Hand aus ihrer Reichweite.
"Deine gute Laune ist wohl nicht ganz so ansteckend wie ich dachte," sagte Minûlîth, die das Ganze mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete. "Aerien scheint zumindest völlig immun dagegen zu sein."
"Wenigstens eine, die den Ernst der Lager erkannt hat," sagte Edrahil, der gerade herbeikam. "Vergesst nicht, wie wichtig euer Auftrag ist, Mädchen. Ihr müsst bei König Músab einen guten Eindruck machen und die Insel würdig vertreten. Wir brauchen dieses Bündnis."
"Ich weiß das, Meister Edrahil," sagte Aerien betont. "Und ich gebe Euch mein Wort, dass ich mein Bestes dafür tun werde, dass das Königreich von Kerma ein Bündnis mit Tol Thelyn schließt."
"Ich verlasse mich darauf, Aerien," schärfte Edrahil ihr noch einmal ein. "Und der Herr und die Herrin der Insel tun es ebenso."
Thorongil, der Túor inzwischen auf die Schultern gehoben hatte, meinte: "Sie schaffen das schon, Edrahil. Vergesst nicht, auf eurer Reise auf hin und wieder ein wenig Spaß zu haben! Dass ihr vorsichtig sein und um Sûladans Reich einen weiten Bogen machen solltet wisst ihr ja bereits. Vertrödelt nicht zu viel Zeit in Kerma! Es ist ein faszinierendes Land, das viel zu bieten hat, aber wir brauchen euch bald wieder hier."
"Rissa und Sternchen machen das schon," stellte Túor zuversichtlich klar. "Ich habe euch nämlich nicht erlaubt, zu versagen."
"Na wenn das so ist," lachte Narissa, während Aerien nun doch den Anflug eines Lächelns zeigte. Sie hatte Túor trotz des fürchterlichen Spitznamens, den er ihr verpasst hatte, ins Herz geschlossen.
Endlich erreichte das Boot den Kai und drei Thelynrim sprangen von Bord, während der vierte sitzen blieb und die Vorräte entgegennahm, die man ihm reichte. Aerien und Narissa kletterten an Bord - Aerien vorsichtig und bedacht, Narissa mit einem übermütigen Sprung - und machten es sich im Bug gemütlich.
Jetzt beginnt es also, dachte Aerien.
Thorongil, Túor, Minûlîth und sogar Edrahil winkten ihnen zum Abschied, als das Boot wieder in See stach und sie in Richtung des Festlandes trug.

Aerien und Narissa nach Weit-Harad
« Letzte Änderung: 9. Jun 2017, 15:55 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #28 am: 25. Mai 2017, 13:53 »
Edrahil öffnete die eisenbeschlagene Tür im untersten Keller des Turmes und trat in den dunklen Raum hinein. Seine Fackel bot die einzige Lichtquelle im Raum und enthüllte einen Boden aus nacktem Stein, der nur mit einer dünnen Strohschicht bedeckt war. In einer Ecke kauerte Karnuzîr. Eine recht kurze Kette verband seinen rechten Arm mit der Wand, und schränkte ihn stark in seiner Bewegungsfreiheit ein. Als er das Licht der Fackel bemerkte, hob Aeriens Vetter kurz den Kopf, ließ ihn allerdings sofort wieder sinken als er Edrahil erkannte.
Edrahil befestigte die Fackel in einem Halter an der Wand und ließ sich schweigend auf einem Stuhl nieder, der Karnuzîrs Ecke gegenüberstand - zu weit entfernt als dass Karnuzîr ihn erreichen konnte. Eine notwendige Vorsichtsmaßnahme, denn selbst so gründlich geschlagen wie er war, schätzte Edrahil Karnuzîr noch immer als extrem gefährlich ein.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen, während dem Edrahil den Gefangenen nicht außer Augen ließ. Es war wichtig, dass Karnuzîr den ersten Schritt machte, denn wenn er das Gespräch eröffnete, würde er eher bereit sein, zu reden.

Schließlich hob Karnuzîr den Kopf. Das Fackellicht spiegelte sich flackernd in seinen dunklen Augen, als er fragte: "Was wollt ihr? Mich foltern? Dann nur zu..."
"Nicht foltern", erwiderte Edrahil. Seine Stimme war weich wie Samt, weise und gütig. Er hatte diese Stimme lange geübt, und in Dol Amroth oft eingesetzt um gefangene Kriminelle auf seine Seite zu ziehen. Ehemalige Kriminelle boten oftmals die besten Spione unter dem gemeinen Volk, und viele besaßen äußerst nützliche Kontakte. "Nur reden."
Karnuzîr schnaubte verächtlich. "Reden. Natürlich. Vielleicht wollt ihr mir beim Reden noch den ein oder anderen Finger abnehmen?" Seine Stimme klang bitter, offenbar hatte Thorongils Folter ihn doch stärker getroffen als er zeigen wollte.
Edrahil schüttelte langsam den Kopf. "Nein, das ist nicht wirklich meine Art." Das war nicht die ganze Wahrheit. Er sah durchaus den Sinn darin, gefangene Feinde zu foltern um an Informationen zu kommen. Doch in diesem Fall hatte Thorongil bereits die Vorarbeit geleistet, und nun würde er etwas anders - feinfühliger - vorgehen können. "Sagt mir, Karnuzîr, wisst ihr, wer ich bin?"
Der Gefangene schüttelte den Kopf. "Nein. Nicht die geringste Ahnung - wahrscheinlich seid ihr irgendeiner der Folterknechte dieses Turmherren. Also tut endlich, wozu ihr hergekommen seid." Edrahil seufzte. Offensichtlich hatte Karnuzîr überhaupt keine Ahnung davon, dass es auch in einer solchen Situation noch andere Methoden gab, das zu bekommen was man wollte, als brutale Folter.
"Eher sein Verbündeter", erwiderte er. "Mein Name ist Edrahil - von Linhir, wenn man so will, obwohl ich strenggenommen kein Adeliger bin. Ich bin der Herr der Spione von Dol Amroth."
Zum ersten Mal flackerte ein Hauch von Interesse in Karnuzîrs Augen auf. Damit hatte er offenbar nicht gerechnet. "Ihr seid weit weg von zu Hause, alter Mann."
"Ihr hingegen nicht", gab Edrahil zurück.
"Mordor ist weit weg von hier."
"Oh, ich spreche nicht von Mordor." Edrahil lächelte. Es war immer ein Vorteil, den Schwachpunkt des Gegners zu kennen, und Aeriens Erzählung über Kanuzîr hatte sich in dieser Hinsicht als überaus aufschlussreich erwiesen. "Das große weite Land Harad liegt gleich auf der anderen Seite der Bucht - und ihr seid ja immerhin zur Hälfte haradischer Abstammung, nicht wahr?"
Karnuzîr spuckte verächtlich zur Seite aus. "Mein Vater stammt aus dem Haus der Fürsten von Durthang, den einzig wahren Erben Númenors."
"Das mag sein. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ein solch edles Haus jemanden mit eurer Abstammung zu sich zählen würde..." Karnuzîr schwieg und sah zu Boden. Offenbar hatte Edrahil mit seiner Vermutung goldrichtig gelegen, und seinen wunden Punkt direkt getroffen. "Deswegen wolltet ihr Aerien entführen und als eure Frau nach Durthang führen", fuhr er mit weicher Stimme fort. "Ihr wolltet euch auf diese Weise legitimieren, und endlich wirklich zu ihnen gehören."
"Schweigt", sagte Karnuzîr leise und tonlos, doch Edrahil ließ sich nicht beirren. "Aber ist das wirklich nötig, Karnuzîr? Warum um die Anerkennung von Leuten kämpfen, die euch nie wirklich als einen der ihren anerkennen wollen, egal was ihr tut? Warum nicht jemand anders sein, nicht sein, wer ihr sein könnt? Ich hätte ein Fischer sein sollen, aber das wollte ich nicht - also habe ich einen anderen Weg eingeschlagen. Vielleicht wird es auch für euch Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen."
"Ich... werde nicht... kann nicht..." Unsicherheit flackerte auf Karnuzîrs bleichem Gesicht auf. Edrahil stand auf. Für heute war es genug - es war nicht möglich, jemanden an einem einzigen Tag zu ändern. Er musste Karnuzîr für sich allein nachdenken lassen, und später wiederkommen - so oft es nötig sein würde.
"Denkt über meine Worte nach", sagte er, als er an der Tür war. "Ich lasse euch die Fackel da - noch etwa eine Stunde Licht. Vielleicht beginnt ihr dann, den Wert des Lichts in der Dunkelheit zu begreifen."
Mit diesen Worten verließ er das Verließ, und stieg langsam die Treppe hinauf zurück in das Licht des Tages.

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #29 am: 24. Aug 2017, 18:33 »
Karnuzîr blickte Edrahil mit versteinerter Miene entgegen, offenbar hatte er ihn bereits erwartet. Einige Tage waren seit Edrahils letztem Besuch vergessen, doch die Zeit in der Dunkelheit schien den Gefangenen nicht gebrochen zu haben - noch nicht, zumindest.
"Habt ihr mich vermisst, alter Mann?", fragte Karnuzîr mit einer vor Hohn triefenden Stimme. "Oder warum seit ihr hier?" "Natürlich habe ich euch vermisst", entgegnete Edrahil mit kaum verhülltem Spott, und befestigte die Fackel in der Wandhalterung, von wo sie ein sanft flackerndes Licht über den kleinen, steinernen Raum warf. "Wie könnte ich auch nicht, bei eurer natürlichen Freundlichkeit?"
Karnuzîr schnaubte verächtlich und wandte den Kopf ab. "Fangt schon an. Droht mir damit, meine Mutter oder meinen Vater in eure Gewalt zu bringen und zu foltern, bis ich euch gebe was auch immer ihr von mir wollt. Denkt nicht, ich hätte nicht verstanden, was ihr letztes Mal sagen wolltet, als ihr sie erwähnt habt." Er hob den Kopf wieder und strich sich mit der freien Linken einige verfilzte schwarze Haare aus dem Gesicht. Seine dunklen Augen brannten. "Aber ihr werdet keinen Erfolg haben - sie bedeuten mir nichts. Nichts im Vergleich zu der Sache, der ich diene."
Edrahil schlug ein Bein über das andere und legte die Fingerspitzen zusammen. "Das ist überaus schade, Karnuzîr. Sollte ich Thorongils Männer gänzlich umsonst zu eurer Mutter geschickt haben?" Natürlich hatte er nichts dergleichen getan, aber er hatte das unmerkliche Zittern in Karnuzîrs Stimme bemerkt. So hart und unbeeindruckt Aeriens Vetter auch tun mochte, in seiner Mutter besaß er trotz aller gegenteiligen Beteuerungen einen deutlichen Schwachpunkt. Vielleicht sollte er seine Lüge doch noch zur Wahrheit machen, überlegte Edrahil.
"Aber sprechen wir doch über etwas anderes", wechselte in einem munteren Plauderton das Thema, während Karnuzîr ihn aus seiner dunklen Ecke misstrauisch beobachtete. Nicht ohne Grund fürchtete er sichtlich eine Falle. "Wie wäre es mit Serelloth? Es wird euch sicherlich beruhigen, dass das Mädchen inzwischen vollständig genesen und in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Immerhin wart ihr dafür verantwortlich, dass sie beinahe gestorben ist."
"Das war notwendig", erwiderte Karnuzîr nach kurzem Zögern mit flacher, ausdrucksloser Stimme. "Hätte ich sie nicht verwundet, hätte diese weißhaarige Schlampe und sofort verfolgt."
"Nun nun. Ich würde euch raten, Narissa ein wenig höflicher zu bezeichnen - immerhin hat ihr Onkel sie sehr gern. Und wozu er fähig ist wenn er zornig ist, hast du selbst erlebt." Edrahil deutete mit einem Nicken auf Karnuzîrs verstümmelte und vernarbte linke Hand. Karnuzîr zuckte mit den Schultern. "Die Schmerzen bedeuten mir nichts."
Edrahil nickte langsam, ohne jedoch weiter auf Karnuzîr einzugehen. "Jedenfalls stimme ich die vollkommen zu, in der Situation in die du dich gebracht hattest, war es notwendig, Serelloth zu verwunden. Noch besser wäre es gewesen, Narissa zu töten, aber ich bezweifle, dass euch das ohne Schwierigkeiten gelungen wäre. Oder vielleicht..."
"Sie sollte es sehen", unterbrach Karnuzîr ihn mit nur unzureichend unterdrücktem Zorn. "Sie hatte mir gestohlen was mir zusteht, sie hatte mir Azruphel gestohlen, die mir gehören sollte. Und sie sollte leben und sehen, wie ich sie mir zurückhole."
"Wir sind uns denke ich einig, dass sich das am Ende als Fehler erwiesen hat", meinte Edrahil mit einem Lächeln, und beugte sich ein Stück vor. "Aber das klang beinahe so, als würdest du Aerien... lieben?" Er sagte es leichthin, in verwundertem Tonfall, so, als würde er es für völlig unmöglich halten, und Karnuzîr reagierte wie erwartet.
"Ich begehre sie", höhnte er. "Welcher Mann würde das nicht tun? Selbst in eurem Alter sollte euch aufgefallen sein, dass sie eine schöne Frau ist, oder hat eure Sehkraft bereits soweit nachgelassen? Und außerdem stand sie mir zu." Eine erneute Lüge, dachte Edrahil bei sich.
"Anstatt ihr und Narissa also geplant und überlegt eine Falle zu stellen, sobald die die Insel verlassen hätten, habt ihr und eure Freunde beschlossen euch in die Höhle des Löwen zu wagen - nur wegen eures gekränkten Stolzes." Edrahil lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. "Vergebt mir, aber das klingt nicht die die Diener Mordors, die ich bislang kennengelernt habe. Diese sind kühl und überlegt, und lassen sich nicht von niederen Bedürfnissen dazu hinreißen, ihren waren Zweck zu erfüllen. Oh, natürlich gibt es jene die von Habgier, Eifersucht, und Hass getrieben werden, aber dass sind solche, die euer Herr lieber früher und später seinen Zwecken opfert. Ich hatte euch nicht für einen solchen gehalten, Karnuzîr."
"Das bin ich auch nicht", widersprach der Gefangene heftig. "Ich bin Auge und Ohr des Gebieters in Harad, einer seiner treuesten Diener, und..."
Edrahil lächelte mitleidig. "Ach bitte. Glaubt ihr, Sauron würde einem seiner wichtigsten Diener gestatten, für einen solch unbedeutenden Rachefeldzug sein Leben und das seiner Männer zu riskieren? Und seht nur, was ihr angerichtet habt. Ihr habt eure Männer verloren, habt euch gefangen nehmen lassen, und das Band zwischen zwei von Saurons Widersachern so eng geschmiedet, dass es ihm schwer fallen wird, in Zukunft einen Keil zwischen sie zu treiben. Selbst wenn ihr für Mordor das wart für das ihr euch haltet, diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei."
Einen Moment herrschte Schweigen. Die schmutzigen schwarzen Haare waren Karnuzîr in Strähnen vor das Gesicht gefallen und verbargen seine Augen, doch Edrahil spürte seinen Blick.
Schließlich sagte Aeriens Vetter tonlos: "Dann tötet mich und bringt es zu Ende. Welchen Zweck hat es für euch, mich in diesem Loch zu quälen?"
"Ich kann mir einiges vorstellen", gab Edrahil zurück. "Aber..." Er zog ein kleines rundes Fläschchen aus schwarzem Glas aus der Tasche und schwenkte es sanft im Licht der Fackel. In dem Fläschchen befand sich ein schnell und zuverlässig wirkendes Gift, dass einen Mann innerhalb von Minuten umbringen würde - erst recht, wenn er sich in einem so geschwächten Zustand befand wie Karnuzîr gerade. "Ich habe euch etwas mitgebracht." Minûlîth hatte das Mittel besorgt, und Edrahil hatte nicht gefragt wie und woher.
Karnuzîrs Augen verfolgten das Fläschchen unablässig. Offensichtlich hatte er bereits begriffn, worum es sich dabei handelte. "Und was wollt ihr für diese Gnade von mir haben? Informationen über die Verteidigung von Mordor? Über Saurons Diener in Harad? Über meine erlesene Verwandtschaft in Durthang?" Sein Tonfall war verächtlich, doch Edrahil antwortete: "Das würde mir alles sehr gut gefallen. Aber nein, ich erwarte dafür nur, dass ihr mir noch ein wenig zuhört, bevor ich es euch gebe." Es war ein riskantes Spiel, doch nach allem was Edrahil über Karnuzîr wusste, und nach allem was er gesehen hatte, war er sich beinahe vollständig sicher was den Ausgang anging.
"Sprecht."
"Ich habe es euch beim letzten Mal bereits gesagt", begann Edrahil sanft. "Ihr könntet einen anderen Weg einschlagen - jetzt, da euer Weg in Mordors Diensten unwiederbringlich zu einem Ende gekommen ist. Narissas Weg wird sie nach Mordor führen, und Aerien wird sie begleiten."
"Das wird ihr Ende sein", warf Karnuzîr ausdruckslos ein. "In Mordor ist inzwischen sicherlich Nachricht über Azruphels Verrat eingetroffen."
"Das ist uns bewusst. Aber wird man diesen Nachrichten glauben, wenn sie selbst das Gegenteil behauptet?"
"Bei Verrat wird sich in Mordor nicht lange mit Höflichkeiten und Verhandlungen aufgehalten." Obwohl Karnuzîrs Stimme ausdruckslos blieb, flackerte sein Blick. "Sie werden sterben, langsam und qualvoll, wenn sie nach Mordor gehen, denn Azruphels Treue ist nun zweifelhaft." Diese Befürchtung hegte Edrahil allerdings auch, und nur aus diesem Grund war er überhaupt zu Karnuzîr gekommen.
"Während niemand in Mordor einen Grund hat, an eurer Treue zu zweifeln, nicht wahr?" Edrahil erhob sich, und ließ das Fläschchen über den Boden zu Karnuzîr rollen, der es mit einer schnellen Handbewegung ergriff. "Überlegt euch also gut was ihr tut. Ob ihr lebt oder sterbt könnte auch darüber entscheiden, ob eure Cousine lebt oder stirbt."
Er wandte sich zum Gehen, doch an der Tür angekommen sagte er noch: "Ihr habt bis Morgen früh Zeit, euch zu entscheiden."

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #30 am: 10. Sep 2017, 21:18 »
..., und ich will euch nicht verschweigen, dass euer Sohn durch die Hände Thorongils nach seiner Gefangennahme einige Schmerzen und Verletzungen erlitten hat - was in Anbetracht seiner jüngsten Taten und seiner Vergangenheit sicherlich wenig überraschend ist. Er verbrachte einige Zeit im Kerker des Turmes von Tol Thelyn, wo ich zwei Gespräche mit ihm führte, in deren Verlauf ich ihn dazu zu bringen versuchte, einzusehen, dass er den falschen Weg eingeschlagen hat. Nach unserem zweiten Treffen überließ ich ihm eine Phiole mit einem schnell wirkenden, schmerzlosen Gift, dass euch bekannt sein dürfte, und...

Edrahil tunkte die Feder ins Tintenfass, schrieb jedoch nicht weiter sondern hob den Kopf, als er hörte wie sich die Tür seines Zimmers öffnete und Laedris mit leisen Schritten über die Schwelle trat. Edrahil wartete ab, bis das Mädchen an seinen Tisch herangekommen war, und fragte leise: "Und?"
Laedris antwortete nicht sofort. "Was schreibt ihr?", fragte sie stattdessen, und warf einen neugierigen Blick auf das zur Hälfte beschriebene Blatt Papier, das vor Edrahil auf dem Tisch lag. Edrahil seufzte. Eigentlich mochte er Laedris gerne - sie war ein kluges und aufgewecktes Mädchen, doch ihre Neugierde und ihr Mangel an Zurückhaltung standen ihr immer wieder im Weg. Ihrer Unbeschwertheit schien die Flucht von der Insel, bei der sie ihre Eltern verloren hatte, nicht allzu sehr beeinträchtigt zu haben, und damit erinnerte sie Edrahil an Serelloth. "Einen Brief an einen alten Kontakt - nicht, dass dich das etwas angehen würde", erwiderte er. "Also?"
Laedris zog das schwarze Fläschchen aus der Tasche ihres Kleides, und schwenkte es triumphierend. Das Licht der aufgehenden Sonne, dass durch das Fenster von Osten hereinschien, spiegelte sich in dem schwarzen Glas und ließ es in Laedris' Hand aufblitzen.
"Voll", erklärte Laedris. "Und das Siegel nicht gebrochen - ganz wie ihr vermutet habt." In ihrer Stimme schwang ein deutlicher Hauch Bewunderung mit, und Edrahil musste sich beherrschen um nicht erleichtert auszuatmen. Er streckte die Hand aus, und Laedirs legte die Phiole vorsichtig in seine Handfläche. "Woher habt ihr gewusst, dass er es nicht nehmen würde?", fragte sie dabei neugierig.
"Ich habe mit ihm gesprochen, und ihm zugehört", erwiderte Edrahil widerwillig. "Etwas, das du auch noch lernen solltest - weniger reden, und aufmerksamer beobachten." Das Mädchen nickte eifrig. "Und woran konntet ihr..."
Sie wurde unterbrochen, als die Tür hinter ihr heftig aufgestoßen wurde, und Thorongil ins Zimmer trat. Die Miene des Herrn von Tol Thelyn war düster, und in seinen dunklen Augen stand verhaltener Zorn. Mit einer raschen Bewegung ließ Edrahil das Giftfläschchen in seinem Ärmel verschwinden, während Thorongil in Laedris' Richtung eine eindeutige Kopfbewegung machte und sagte: "Verschwinde. Wir haben etwas zu besprechen, und ich möchte nicht, dass bis heute Abend die ganze Insel davon weiß." Laedris verschwand ohne Zögern und ohne ein weiteres Wort, doch Edrahil lächelte in sich hinein. Das Mädchen war weniger redselig als Thorongil zu glauben schien, denn ansonsten hätten sie dieses Gespräch bereits am vorigen Abend geführt.
Als Laedris die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte Thorongil zornig: "Was glaubt ihr eigentlich, was ihr tut?" Seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen, und auf der Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte gebildet.
Edrahil zuckte mit den Schultern. "Ich tue, was immer notwendig ist um Mordor zu bekämpfen und Gondor zu schützen."
"Und wie schadet es Mordor, unseren wertvollsten Gefangenen, den wir seit langem hatten, zu vergiften?", fuhr Thorongil ihn an. "Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich Karnuzîr tot in meinem Kerker vorfinde, wenn ich hinuntergehe?"
Edrahil holte schweigend das Fläschchen aus seinem Ärmel hervor und stellte es vor sich auf den Tisch. Den angefangenen Brief hatte er zuvor unauffällig unter einen Stapel Papiere geschoben - dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um mit Thorongil darüber zu sprechen. "Nicht sehr groß", antwortete er, und hob eine Augenbraue. "Es sei denn, Karnuzîr hätte es geschafft, die Flasche wieder makellos zu versiegeln, nachdem er das Gift getrunken hat."
Thorongils Schultern entspannten sich bei diesen Worten sichtlich, und auch die Zornesfalte auf seiner Stirn glättete sich, während er sich auf dem Stuhl Edrahil gegenüber niederließ. "Na schön", knurrte er. "Er lebt also immer noch. Aber trotzdem hättet ihr mit mir darüber sprechen sollen, bevor ihr so etwas tut. Immerhin ist Karnuzîr mein Gefangener."
"Hm", machte Edrahil. "Vielleicht habt ihr Recht. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob ihr zustimmen würdet, und ich hielt es für zwingend notwendig, es zu versuchen."
"Also dachtet ihr euch, ihr tut es einfach - und ich hätte nie davon erfahren, wenn Melíril mir nicht erzählt hätte, was ihr getan habt." Minûlîth hatte das Gift für Edrahil besorgt, also war sie selbstverständlich eingeweiht gewesen - und Edrahil hatte nie damit gerechnet, dass sie es Thorongil für immer verschweigen wurde.
"Wie gesagt, ich hielt es für notwendig", entgegnete er mit unbewegter Miene. "Ich hoffe, ich habe eure Beziehung nicht allzu sehr belastet?" Für einen Augenblick entspannten sich Thorongils Züge, und seine Mundwinkel zuckten. "Keineswegs. Ich kenne sie lange genug um zu wissen, dass sie immer ihre Geheimnisse haben wird und immer eigenständig handeln wird, und ich habe mich damit abgefunden, weil sie es wert ist." Er lehnte sich ein wenig in seinem Stuhl zurück, der anfängliche Zorn offenbar vollständig verflogen. "Also, warum wart ihr der Ansicht, dass es unbedingt notwendig wäre, Karnuzîr vor diese Wahl zu stellen?"
"Es ist einfach", erklärte Edrahil. "Hätte er das Gift getrunken, wäre er letzten Endes wertlos für uns gewesen - dann wäre seine Treue zu Mordor stärker als selbst sein Lebenswillen gewesen, und er hätte uns niemals etwas Nützliches verraten oder uns anderweitig geholfen. Doch da er das Gift nicht getrunken hat... besitzt er noch etwas anderes, das ihn am Leben erhält, und das uns erlauben wird, ihn für unsere Zwecke zu benutzen."
Thorongil warf ihm einen aufmerksamen Blick zu. "Ihr sprecht von Mordor." Edrahil nickte langsam. "Eure Nichte wird jeden noch so kleinen Vorteil brauchen, wenn sie diese Reise überleben oder gar Erfolg haben soll. Aeriens Hilfe ist bereits unschätzbar wertvoll, doch mit Karnuzîrs Hilfe stünden ihre Chancen noch deutlich besser."
"Trauen können wir ihm trotzdem nicht", führte Thorongil den Gedanken für ihn fort. "Aber ich nehme an, dass ihr einen Weg gefunden habt, ihn auch so für unsere Zwecke einzusetzen?"
"Ich kenne einen seiner Druckpunkte", bestätigte Edrahil, und warf einen raschen Seitenblick auf den Stapel, unter dem der halb fertiggestellte Brief begraben lag. "Und ich arbeite bereits an einem weiteren..."

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #31 am: 19. Sep 2017, 17:21 »
Karnuzîr hatte Gebrauch von dem Kamm und Rasiermesser gemacht, die auf Edrahils Bitte in seine Zelle gebracht worden waren. Seine schwarzen Haare waren weniger verfilzt und hingen ihm nicht mehr wild ins Gesicht, und er hatte sich den stoppeligen Bart vollständig abrasiert - ein gutes Zeichen, wie Edrahil fand.
Edrahil ließ sich Karnuzîr gegenüber auf seinem üblichen Stuhl nieder, und sagte: "Wie schön, dass ihr beschlossen habt, am Leben zu bleiben. Warum? Ich habe euch zwei Gelegenheiten geboten, es freiwillig und einfach zu beenden."
"Ganz sicher nicht, um euch eine Freude zu machen", gab Karnuzîr spöttisch zurück. "Aber ihr habt mir klar gemacht, dass es... sinnlos wäre, jetzt zu sterben."
"Das berührt mein Herz. Ich hatte gefürchtet, ihr wärt vollständig an die Dunkelheit verloren, aber siehe - ich habe euch zurück an Licht geführt." Karnuzîr gab einen Laut von sich, der beinahe als Lachen gelten mochte, und Edrahil lächelte. "Also, mein junger Freund. Da ihr euch auf dem Weg der Läuterung befindet, gibt es etwas, das ihr mir erzählen möchtet...? Über Mordor, über Suladân, über die Pläne des Schattens, uns alle zu vernichten?"
"Warum sollte ich das tun?", fragte Karnuzîr, und seine Miene zeigte nach außen hin nichts als distanziertes Interesse. "Wenn Mordor siegt, werde ich frei sein und ihr alle tot. Denkt ihr nicht, ich wäre deshalb am Leben geblieben? Also warum sollte ich euch helfen?"
Edrahil beugte sich ein Stück vor. "Muss ich es aussprechen, Karnuzîr? Ihr habt bei unserem letzten Gespräch etwas über Aeriens Schicksal gesagt, wenn sie nach Mordor zurückkehrt. Ihr habt gesagt, dass ihr Treue zweifelhaft sei, und dass sie deshalb qualvoll sterben würde."
"Und ihr glaubt, das würde mich berühren, weil ich sie als Frau begehre?" Karnuzîr schnaubte verächtlich, wich Edrahils Blick aber aus. "Ihr irrt euch gewaltig, alter Mann."
Edrahil seufzte. Karnuzîr war tatsächlich ein harter Brocken, bei jeder ihrer Begegnungen schienen sie vom selben Punkt anzufangen wie bei der letzten. "Nein, ich glaube ihr seid derjenige, der sich irrt. Und selbst wenn Aeriens Schicksal euch nicht berührt - was ich nicht glaube - so solltet ihr euch doch im Klaren sein, in welcher Lage ihr euch befindet. Glaubt ihr wirklich, dass Mordors Sieg eure Rettung sein würde? Was glaubt ihr, wie leicht es für mich ist, Zweifel an eurer Treue zu säen, was euer Untergang wäre..."
"Ihr seid gerissen", räumte Karnuzîr ein. "Aber..." Edrahil ließ ihn nicht aussprechen. "Nein, Karnuzîr. Ihr habt eure Entscheidung getroffen, als ihr das Gift nicht getrunken habt. Also sprecht."
Karnuzîrs Blick irrte nervös in der dämmrigen, nur vom Licht der Fackel erhellten, Kerkerzelle umher, und er leckte sich die Lippen. "Also... schön. Ich habe etwas für euch."
Edrahil beugte sich unwillkürlich interessiert vor. "Vielleicht solltet ihr den Herrn dieser Insel einmal nach dem Namen Taraezaphel Bellakanî fragen... bevor sie euch alle vernichtet, denn sie weiß, wo ihr euch versteckt."

"Tareazaphel...", sagte Minûlîth in das Schweigen hinein, dass sich nach Edrahils Worten über die Anwesenden gelegt hatte. Neben ihr und Thorongil hatten sich noch drei weitere in dem großen Raum auf halber Höhe des Turms eingefunden: Die Thelynrim Ríador und Deireth sowie Eayan al-Tayir, der Edrahil gegenüber saß und schweigend aber aufmerksam zu lauschen schien. "Wir alle hier haben bereits von ihr gehört", meinte Thorongil. "Es wundert mich, dass nicht wenigstens Gerüchte über sie bis nach Gondor gedrungen sind."
"Ich weiß über vieles, was in Harad geschieht, Bescheid", erwiderte Edrahil. "Doch nur wenig über das, was südlich seiner Grenzen vorgeht, denn es betrifft Gondor nur selten. Wenn ich dem trauen kann, was Karnuzîr sagt, hat sich das allerdings nun geändert."
"In diesem Fall kannst du Karnuzîr glauben", sagte Minûlîth. "Rae, wie sie sich meistens nennt, ist eine Verwandte von mir und hat einige Zeit bei uns in Umbar gelebt, bevor sie nach Süden gegangen ist. Den Gerüchten zufolge versucht sie, das alte Reich von Arzayân wieder aufleben zu lassen."
Deireth, eine zierliche Frau mit grauschwarzen Haaren, räusperte sich, und sagte: "Arzayân hat Sauron nie gedient, und sich ihm im Krieg des Bundes nicht angeschlossen. Wieso sollte es jetzt anders sein?"
"Die Zeiten haben sich geändert, Deireth", widersprach Ríador. "Arzayân ist vor langer Zeit zerbrochen, und nach so langer Zeit kann eine einzelne Person kein ganzes Reich wieder errichten - selbst wenn Rae eine so gute Anführerin ist wie man hört. Nicht ohne Hilfe, und wer würde sich dazu besser anbieten, als der Sultan von Harad und sein dunkler Herr?"
"Ríador könnte Recht haben." Thorongils Miene war besorgt. "Und die Verbindung zwischen Karnuzîr und Rae unterstützt diese Befürchtung weiter. Warum sollte Rae mit Karnuzîr zusammenarbeiten um Aerien zu entführen, wenn sie sich nicht auf Mordors Seite gestellt hat?"
Edrahil legte die Fingerspitzen auf dem Tisch zusammen, während ein leichter Wind vom Meer die zurückgezogenen Vorhänge sanft bewegte. "Habt ihr bereits etwas unternommen, um mehr herauszufinden?"
Thorongil schüttelte den Kopf und verneinte. "Unsere Aufmerksamkeit wird von Suladân und Mordor beansprucht. Die Thoroval ist noch nicht aus Gondor zurückgekehrt, und..." Er stockte, als wäre ihm mit einem Mal etwas klar geworden. "Wir haben nie wirklich darüber gesprochen, wie wir die Rossigil gefunden haben, denn zuviel ist seitdem geschehen. Aber der Fluss, in dessen Delta sie vor Anker lag, ist der Bankasoka in der Sprache der Einheimischen Stämme - Harsirion nannten ihn die alten númenorischen Entdecker, die ihn zuerst befuhren. Und an seinem Oberlauf liegen die Ruinen der alten Hauptstadt von Arzayân."
"Und ihr habt kein Mitglied der Besatzung dort angetroffen?", fragte Eayan, der bislang geschwiegen hatte, und Thorongil schüttelte bedrückt den Kopf. "Nein. Ich weiß nicht, wie viele mit der Rossigil fliehen konnten, doch als wir dort ankamen war niemand von ihnen mehr dort. Ich hatte angenommen, dass sie wilden Tieren oder einem der nahen Stämme zum Opfer gefallen sein könnten, denn die Bewohner des Deltas sind Fremden nicht freundlich gesinnt und haben keine Verwendung für Schiffe - das würde erklären, warum es unbewacht vor Anker lag. Aber wenn die Gerüchte über Rae und Arzyân wahr sind..."
"Das würde etwas Merkwürdiges erklären, was Karnuzîr gesagt hat", warf Edrahil ein. Das Bild begann sich vor seinem inneren Auge langsam zusammenzufügen. "Er hat mir erzählt, die Insel nicht durch Suladâns Männer gefunden zu haben, oder indem er Narissa und Aerien hierher gefolgt ist. Das ist es, was er ursprünglich behauptet hat, doch ich vermute es war eine Lüge, um seine wahre Quelle zu schützen - Rae."
Thorongil ballte die Fäuste auf dem Tisch, und Minûlîth legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm. "Sie und ihre Männer müssen die Rossigil vor uns gefunden haben und die Besatzung in ihre Gewalt gebracht haben", sagte der Herr der Insel mit mühsam beherrschtem Zorn. "Vielleicht sind einige von ihnen sogar noch am Leben, gefangen in Azaryân."
"Die Chancen darauf stehen schlecht", meinte Edrahil. Es war besser, sich keine sinnlosen Hoffnungen zu machen, die höchstwahrscheinlich doch enttäuscht werden würden. "Warum sollte sie die Gefangenen am Leben lassen, wenn sie hat, was sie braucht?"
Thorongil sagte nichts, sondern blickte ihn nur an. An seiner Stelle sagte Minûlîth ruhig: "Du hast eine bedrückende Art, den Realitäten ins Auge zu sehen. Aber selbst wenn diese Menschen tot sein sollten, können wir es uns doch nicht länger erlauben, die Geschehnisse im Süden zu ignorieren. Was nützt es uns, die Lage im Norden zu kontrollieren, nur um den Schlag aus der anderen Richtung nicht kommen zu sehen? Jemand muss nach Azaryân gehen."
"Ich werde selbst gehen", sagte Thorongil entschlossen. "Wir alle wissen, welchen Schaden Rae mit ihrem Wissen bereits angerichtet hat, und ich glaube nicht, dass das bereits alles gewesen ist. Ich werde gehen, herausfinden was sie vorhat, und ihre Pläne vereiteln."
"Ich verstehe, dass ihr gehen wollt. Aber ihr solltet dennoch hierbleiben", widersprach Edrahil ihm. "Als die Assassinen einen Boten nach Dol Amroth schickten, ist nicht Fürst Imrahil selbst nach Umbar gegangen, sondern ich. Lasst mich euch an eurer Stelle gehen - solange ihr mir einen verlässlichen Begleiter zur Seite stellt, denn so scharf mein Verstand sein mag, zum Kämpfen bin ich nicht sonderlich gut geeignet." Er gestattete sich ein ironisches, etwas bitteres Lächeln. Es kam nicht häufig vor, dass er sich die alten Zeiten zurückwünschte, als er in der Armee Gondors gedient hatte, doch manchmal wünschte er sich, weniger nutzlos zu sein, wenn es zu Kämpfen kam.
"Auch du wirst hier gebraucht", meine Minûlîth. "Und ohne dich beleidigen zu wollen, wäre es vielleicht sinnvoller, jemand jüngeres zu schicken."
"In Umbar konnte ich ebenfalls auf mich achten", entgegnete Edrahil kühl. "Mit Hilfe der Assassinen, mit meiner Hilfe, und mit der von Valion und Valirë." Das Lächeln nahm Minûlîths Worten ein wenig die Härte, doch Edrahil war nicht in der Stimmung, sich durch ihre Sorge von seinem Weg abbringen zu lassen.
"Eben deshalb will ich nicht alleine gehen." Er wandte sich wieder Thorongil zu. "Gebt mir einen verlässlichen Mann mit, und ich werde herausfinden ob Azaryân tatsächlich eine Bedrohung ist - und wenn dem so sein sollte, werde ich sie beseitigen."
"Ihr scheint euch eurer Sache sehr sicher zu sein", warf Eayan ein, und Edrahil zuckte mit den Schultern. "Nicht wirklicht. Aber ich erkenne die Notwendigkeit, es zu tun, und darum brauche ich mir um mein Scheitern keine Gedanken zu machen."
"Das ist nicht die schlechteste Einstellung." Eayan lächelte, und dieses Lächeln hatte etwas gefährliches an sich - zumal es ein überaus seltener Anblick war. "Nun, wenn ihr entschlossen seid, wird der silberne Bogen nicht beiseite stehen. Immerhin ist eine Bedrohung für euch nun auch eine für uns. Ich werde euch ebenfalls einen meiner Männer zur Seite stellen." Das Lächeln des Schattenfalken wurde noch eine Spur gefährlicher. "Den besten von ihnen, um genau zu sein - mich."

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #32 am: 17. Okt 2017, 19:03 »
"Also." Edrahil ließ sich Bayyin gegenüber auf dem gepolsterten Sessel nieder, und blickte den Schreiber über die Stapel von Papieren und Büchern auf dem Tisch zwischen ihnen an. "Was habt ihr herausfinden können?"
"Arzâyan war ursprünglich eine Kolonie der Númenorer, die in der zweiten Hälfte des zweiten Zeitalters gegründet worden war, und..." "... später von den Männern des Königs kontrolliert wurde, die sich als einzig rechtmäßige Erben Númenors sahen", unterbracht Edrahil den Schreiber direkt wieder. "Ich kann lesen, Bayyin, und habe es in den letzten Tagen ausgiebig getan. Ich meinte eher, was ihr darüber herausgefunden habt, wie es sein kann, dass plötzlich die Erbin eines Reiches auftaucht, das eigentlich vor beinahe einem halben Jahrtausend untergegangen ist, und versucht uns Schwierigkeiten zu machen."
"Nun.." Bayyin kratzte sich verlegen am Kinn. "In dieser Hinsicht ist tatsächlich einiges unklar. Ich muss dazu ein wenig zurückgehen, bis zum Erbfolgekrieg, der Arzâyan schließlich zerstörte. Ich nehme an, ihr wisst über den groben Ablauf Bescheid?" Edrahil nickte knapp. Ganz hinten in einem verstauben Regal des Archives hatten sich zwei dicke Bände gefunden, die sich mit der Geschichte und Geographie Arzâyans befassten, und Edrahil hatte die letzten Tage damit verbracht, sich möglichst viel Wissen daraus anzueignen.
"Ich habe Aufzeichnungen gefunden, die offenbar von einem von Thorongils Vorgängern stammen - von Mardil, dem Sechsunddreißigsten der Turmherren. Seine Mutter könnte euch übrigens interessieren, denn offenbar war sie..." Edrahil hob die Hand, um Bayyin zu unterbrechen. "Mich interessiert nicht die Mutter von irgendeinem der Turmherren", sagte er kühl. "Im Augenblick interessierten mich nur Rae und Arzâyan." Bayyin setzte eine Miene auf, die eindeutig Na schön, dein Pech aussagte, und unwillkürlich und gegen seinen Willen wurde Edrahils Neugierde geweckt. Doch er hatte jetzt anderes im Kopf, und keine Zeit für was immer Bayyin noch entdeckt haben mochte. Das musste warten, bis die Angelegenheit mit Arzâyan geklärt war. "Mardil schreibt, wie er in Ain Salah einem Mann namens Saphadzîr begegnet ist", erzählte Bayyin unverkennbar mürrisch, und Edrahil zog eine Augenbraue hoch. "Ein adûnaischer Name in Harad? Ungewöhnlich. Und dann auch noch ausgerechnet dieser..." Auf Bayyins fragenden Blick hin schüttelte Edrahil den Kopf. Der Schreiber zuckte mit den Schultern, und sprach weiter: "Allerdings. Und es bleibt seltsam. Mardil beschreibt Saphadzîr als einen Mann fortgeschrittenen Alters,
 mit grauen Strähnen in dem schwarzen Haar und Bart, und dennoch kräftig, eine merkwürdige Kraft ausstrahlend.
Und, was noch seltsamer erscheint, mit hellerer Haut als ein Bewohner Harads, als käme er aus dem Norden."
"Oder aus dem tiefen Süden - einem Königreich, dass von Nachkommen Númenors bewohnt wird?", warf Edrahil ein, und Bayyin nickte. "Zu diesem Schluss kam Mardil ebenfalls, nachdem er mit Saphadzîr gesprochen hatte. Denn Saphadzîr warte Mardil davor, dass der neue König von Arzâyan, Kalphazôr, mit der Größe seines Reiches unzufrieden sei, und außerdem geschworen hatte, die falschen Erben Númenors zu vernichten", berichtete Bayyin, und Edrahil ergänzte von selbst: "Mit anderen Worten die Dúnedain von Gondor - und von Tol Thelyn, so er davon wusste. Ich vermute, Mardil war derjenige, der daraufhin Mörder nach Arzâyan schickte?"
"Er schickte keine Mörder aus", berichtigte Bayyin. "Er ging selbst nach Arzâyan, um sich selbst ein Bild zu machen. Doch ihr habt richtig vermutet, dass Mardil für Kalphazôrs Tod verantwortlich war, denn er sah tatsächlich eine Gefahr für den Norden heranwachsen, und handelte - zumindest ist es das, was er in seinen Aufzeichnungen schreibt."
"Das sind interessante Enthüllungen", meinte Edrahil. "Und dennoch vermag ich nicht zu erkennen, welche Bedeutung es für unsere gegenwärtige Situation hat."
"Es erklärt gewisse Dinge." Bayyin beugte sich ein wenig vor. "Mardil war dafür verantwortlich, den Krieg auszulösen in dem Arzâyan endete, doch sein Sohn Galador ist derjenige, dem wir unsere heutigen Probleme mit Rae zu verdanken haben." Er zog ein fleckiges, teilweise vom Feuer geschwärztes Dokument aus dem Papierstapel hervor. "Dieses Dokument ist vom Feuer beschädigt worden, als Suladâns Truppen den Turm niederbrannten, und teilweise unleserlich. Doch ich glaube herauslesen zu können, dass Galador gegen die Erlaubnis seines Vaters nach Arzâyan reiste, und entsetzt von den Gräueln war, die der Krieg über das Land gebracht hatte. Er war es, der Relezôr, dem Großonkel der sich bekriegenden Geschwister, und seiner Familie half, nach Norden nach Umbar zu fliehen, und wurde dafür von seinem Vater von Tol Thelyn für zehn Jahre verbannt."
"Und dennoch bewegte irgendetwas Mardil dazu, die Exilanten aus Arzâyan nicht zu ermorden, obwohl es vermutlich durchaus möglich gewesen wäre", meinte Edrahil nachdenklich. "Reue über das was er ausgelöst hatte? Möglich, aber eigentlich unwichtig. Es war ein Fehler, das wissen wir heute." Doch vielleicht lässt sich dieses Wissen nutzen...
"Fehler oder nicht, durch Galadors Hilfe konnte das Haus Nardûkhôr überleben", sagte Bayyin. "Sofern diese Taraezaphel wirklich eine Nachfahrin dieses Hauses ist, und keine Betrügerin."
"Ich glaube nicht, dass sie eine Betrügerin ist", stellte Edrahil klar. "Sie wäre kaum mit Minûlîth verwandt, wenn sie es wäre... Aber dennoch. Raes Versuch, Arzâyan in Saurons Diensten wieder aufzubauen, muss gestoppt werden, und sie selbst wenn möglich getötet werden."
"Und wie wollt ihr das anfangen?", fragte Bayyin, und Edrahil lächelte gefährlich. "Das weiß ich noch nicht... doch ich habe schon einige Ideen. Was davon umsetzbar ist, werde ich erst sehen, wenn ich in Arzâyan bin."
Bayyin schwieg einen Augenblick, und sagte dann zögerlich: "Bevor ihr geht... es gibt einen Namen in Mardils Aufzeichnungen, der mich wundert. Tassadar - er passt weder in die Sprachen der Haradrim oder des tiefen Südens, noch klingt er númenorisch. Er scheint irgendetwas mit dem Prinzen Taraezahil und seinem goldenen Schild zu tun haben, doch Mardils Aufzeichnungen sind diesbezüglich sehr undeutlich und nicht verständlich."
Edrahil überlegte. "Ich werde diese Aufzeichnungen mit mir nehmen. Vielleicht erschließt sich mir der Sinn an Ort und Stelle... Ich glaube zwar nicht, dass uns Geschichten aus der Vergangenheit viel gegen Rae nützen werden, doch wer weiß? Man muss sich seine Möglichkeiten offen halten."

Edrahil und Eayan per Schiff die Südküste Harads entlang
« Letzte Änderung: 2. Dez 2017, 17:35 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Das große Wagnis
« Antwort #33 am: 25. Jan 2019, 12:04 »
Narissa, Aerien, Thorongil, Kani und Gatisen aus der Mehu-Wüste
Edrahil aus Arzâyan


Das Gefühl von Heimkehr in ihrem pochenden Herzen war beinahe zuviel für Aerien, als das große Schiff der Thelynrim in den Hafen der Weißen Insel einlief und sie eine kleine Menschenmenge am Anlegeplatz erwartete. Unter ihnen entdeckte sie Minûlîth, die den kleinen Túor an der Hand hielt, und weitere bekannte Gesichter. Alle schienen froh über ihre sichere Rückkehr aus Kerma zu sein und empfingen sie voller Freude, als Narissa und Aerien von Bord gingen.
"Willkommen zurück," begrüßte die Herrin der Insel sie, ehe sie beide Mädchen nacheinander umarmte.
"Habt ihr viele Abenteuer bestanden?" fragte Túor aufgeregt.
"Das haben wir," bestätigte Narissa zufrieden. "Wenn du brav bist, erzählen wir dir alles."
Túor stieß einen Freudeschrei aus und wirbelte mit seinem Holzschwert wild in der Luft herum, bis seine Mutter ihn ermahnte, ruhig zu bleiben.
"Ihr müsst hungrig sein," sagte Minûlîth. "Kommt, wir können uns beim Essen über eure Reise unterhalten. So Einiges ist mir bereits zu Ohren gedrungen, aber in einer Sache bin ich Túor ähnlich: Ich will alles ganz genau wissen." Sie zeigte ihnen ein seltenes Grinsen und wies dann die Menschenmenge an, wieder ihren individuellen Aufgaben nachzugehen. Rasch zerstreuten sich die Thelynrim, die offenbar früh gelernt hatten, die Befehlen der Herrin des Turmes nicht in Frage zu stellen.
Aerien fiel auf, dass Thorongil ungewohnt grimmig dreinblickte. Der Herr der Thelynrim hatte seit seiner Unterhaltung mit König Músab von Kerma kein einziges Mal gelacht und hatte die Überfahrt zur Insel in grüblerischem Schweigen verbracht. Aerien fragte sich, was wohl hinter dieser Laune stecken mochte, doch noch wagte sie nicht, offen nachzufragen.

Sie ließen ihr Gepäck in Narissas Zimmer oben im Turm bringen und Minûlîth ließ es sich nicht nehmen, sie alle sogleich zum Essen zu rufen, das bereits vorbereitet worden war. Und so trugen Aerien und Narissa noch immer ihre staubige Reisekleidung, während sich die Familie des Turmherren am Tisch versammelte. Es gab einfache Kost - kein Vergleich zu den üppigen Banketten des königlichen Palasts in Kerma - doch Aerien störte sich nicht daran. Noch immer schwebte sie innerlich auf einer Wolke des Wohlgefühls. Es fühlte sich gut an, einen Ort zu haben, an dem man sie so annahm, wie sie war.
"Ihr hattet also Erfolg mit Eurer Suche nach dem geheimnisvollen Königssymbol von Kerma," begann Minûlîth das Gespräch. "Wir haben Gerüchte aus dem Osten gehört, die besagten, dass der König jenes Reiches zwei Abenteurer aus dem Ausland mit der Suche danach beauftragt hat und konnten uns den Rest denken."
"Es war nicht leicht, aber wir haben es geschafft," erzählte Narissa zwischen zwei Bissen. "Die Alternative wäre gewesen, dass ich einen der Prinzen Kermas geheiratet hätte."
Túor lachte bei diesen Worten, als hätte Narissa einen unglaublich komischen Witz gemacht. Als sie ihn fragend anblickte, sagte er: "Du bist doch keine Braut, Narissa, sondern eine Kämpferin."
"Manchmal kann man auch beides sein," wandte Aerien lächelnd ein, und Túor machte große Augen.
Minûlîth stellte ihnen viele weitere Fragen während des ausgedehnten Essens, die Aerien und Narissa abwechselnd beantworteten. Als sie von der Schlacht bei El Kurra und Músabs Entscheidung, sich mit Sûladan zu verbünden erzählten, ließ ein Faustschlag Thorongils auf die Tischkante das Gespräch verstummen. Der Herr des Turmes schien seinen Zorn noch nicht begraben zu haben. Thorongil stand wortlos auf und eilte hinaus.
"Glaubt mir, als ich davon erfahren habe, hätte ich zu gerne genau so reagiert," sagte Narissa, die als Erste ihre Sprache wiedergefunden hatte.
Minûlîth blickte besorgt drein. "Ich frage mich, was nun werden wird," sagte sie leise. "Wir sind von Feinden umzingelt und wenn Kerma sich nun mit dem Sultanat verbündet hat, war eure Fahrt nach Kerma umsonst."
"Nicht umsonst, nein," sagte Aerien. "Wir haben so viel gelernt und verstehen einander nun viel besser."
"Und ich habe zwei schöne neue Dolche," fügte Narissa hinzu.

In jener Nacht schlief Aerien so gut wie schon lange nicht mehr. Sie trug frische, leichte Kleidung und war froh, ihre Reisekleidung waschen zu können. Am folgenden Tag und den beiden Tagen danach erholten sie sich von den Strapazen ihrer Reise und verbrachten wertvolle, sorglose Stunden an den Stränden und in den Wäldern Tol Thelyns, oder in der Gemeinschaft ihrer Familie und Freunde. Doch auch Zeit zu zweit, oder sogar alleine fanden Narissa und Aerien in jenen Tagen, bis am vierten Tag seit ihrer Rückkehr am südlichen Horizont ein Segel auftauchte.
So kehrte Edrahil, der Herr der Spione, aus dem tiefen Süden Harads nach Tol Thelyn zurück. Er hatte getan, wozu er ausgezogen war, und dennoch waren sein Blick und seine Laune so grimmig wie eh und je. Denn obwohl es ihm gelungen war, die gefährliche Jungfrau von Arzâyan gefangen zu nehmen, war dieser mitten während der Rückfahrt nach Tol Thelyn die Flucht gelungen.
Noch am selben Abend rief Edrahil die Mädchen zu sich und hörte sich geduldig ihren Bericht über die Ereignisse in Kerma an. Er stellte nur wenige Fragen und wirkte noch verschlossener als üblich. Er wirkte müde, wie Aerien fand. Doch natürlich sagte sie ihm das nicht.
Kurz vor Mitternacht rief Thorongol Edrahil, Aerien, Narissa und seine engsten Berater zu sich. Auch Bayyin, der Schreiber, war darunter, der die Karte Arandirs bei sich trug.
"Nun denn," sagte der Herr des Turmes. "Wir sind hier, um die letzten Details der wichtigen Aufgabe zu besprechen, die ich an meine Nichte und an Aerien zu übertragen gedenke."
"Die Reise nach Mordor," wisperte Aerien. Es auszusprechen, machte es nun endgültig zur Wirklichkeit. Sie würde zurückkehren - ins Land der Schatten.
"So ist es. Es obliegt euch beiden, den verborgenen Pfad Arandirs zu beschreiten und einen Weg zu finden, den König Gondors aus seiner Gefangenschaft zu befreien. Meister Bayyin?"
Wie als hätte er darauf gewartet, rollte der junge Schreiber die Karte auf dem hölzernen Tisch zwischen ihnen auf. "Ich habe das Reisetagebuch des Arandir in eurer Abwesenheit weiter studiert und bin mir inzwischen sicher über die Lage des versteckten Pfades." Er deutete auf die Stelle, an der der Fluss Harnen die südliche Biegung des Schattengebirges von Mordor traf. "Ihr müsst nach Harondor gehen, und dem Harnen bis zu seiner Quelle folgen. Und von dort müsst ihr in den niedrigen Ausläufern des Schattengebirges ungefähr eine Meile weiter nach Norden wandern, bis ihr einen großen Felsen seht, der den Pfad verdeckt, und in den ein stilisierter Weißer Baum eingraviert worden ist."
"Das Siegel Gondors," sagte Aerien unnötigerweise.
"Und wenn wir den Pfad passiert haben?" fragte Narissa.
"Aerien wird einen Weg durch Nurn, der Landstrich auf der anderen Seite finden müssen. Wir haben erfahren, dass Sauron dort den Großteil seiner Sklaven unterhält. Vielleicht bietet euch das eine Gelegenheit, durchzuschlüpfen," sagte Edrahil. "Und sollte das nicht ausreichen, werdet ihr euch Karnuzîrs bedienen müssen."
"Karnuzîr!" stieß Aerien überrascht aus. "Was ist mit ihm?"
"Ich habe ihn davon überzeugt, euch auf eurem Weg durch Mordor behilfich zu sein," sagte Edrahil kalt. "Er wird euch Zugang zum Dunklen Turm verschaffen, indem er vorgibt, euch gefangen genommen zu haben."
Narissa und Aerien tauschten einen unbehaglichen Blick aus. Karnuzîr mitzunehmen gefiel ihnen nicht sonderlich. Doch Aerien erkannte, dass Edrahil Recht hatte. Wenn Karnuzîr ihnen wirklich helfen würde, würde er ihre beste Chance darstellen, unbehelligt durch Mordor hindurch zu kommen und bis zu Aragorn durchzudringen.
"Ihr müsst den Gefangenen befreien und ihn nach Gondor bringen," fuhr Thorongil fort. "Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass wir nun über diese einzigartige Gelegenheit verfügen."
"Wir werden sie nutzen," rief Narissa entschlossen. "So wie wir in Kerma Erfolg hatten, werden wir auch diesmal siegen."
"Kerma ist nicht Mordor," wandte Edrahil vorsichtig ein. "Die Gefahr, in die ihr euch begebt, wird um ein Vielfaches höher sein. Geht nur um ein Weniges fehl, werdet ihr sterben."
Aerien schluckte, doch dann erwachte ihr Mut in ihrem Herzen. "Narissa hat Recht. Dies wird keine Niederlage. Wir werden zurückkehren."
Minûlîth ergriff Aeriens Hand und drückte sie. "Versprich es mir, kalî. Versprich mir, dass ihr zu uns zurückkehrt."
Aerien nickte, und Narissa sagte: "Wir versprechen es."

Thorongil beschloss, eines seiner Schiffe zu entsenden, um Aerien und Narissa bis zu den Mündungen des Flusses Harnen zu bringen. Das würde ihnen erlauben, den Gefahren des Krieges in Harad aus dem Weg zu gehen und ihre Kräfte noch einen Tag länger zu schonen. Anschließend würde das Schiff weiter nach Gondor fahren, um in Dol Amroth Vorräte für die Insel zu erwerben und bei dieser Gelegenheit Prinz Gatisen von Kerma und seine Begleiterin Kani nach Dol Amroth zu bringen. Sie wurden mit reichlich Proviant ausgestattet. Aeriens Rüstung war von den Schmieden der Thelynrim angepasst worden, sodass sie leichter war und mehr Bewegungsfreiheit bot, ohne groß an Schutz einzubüßen. Auf dem Brustpanzer und den Schulterpolstern war nun nicht länger das Rote Auge zu sehen, sondern das Siegel der Turmherren. Und dann war der Zeitpunkt gekommen, um die Insel erneut zu verlassen.
Aerien hatte gemischte Gefühle dabei, als man Karnuzîr aus den Kerkern unter dem Turm zerrte und ihn auf das Schiff brachte. Er sagte kein Wort, doch sein Blick suchte und fand Aeriens Augen, und sie stellte fest, dass sie nicht imstande war, wegzusehen. Erst als Karnuzîr unter Deck und außer Sicht gebracht worden war, verging der Moment und sie atmete tief durch.
Der Abschied fiel ihnen nicht leicht. So wenig Zeit war ihnen gewährt worden. Doch beide wussten, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Mit jedem Tag gewann der Dunkle Herrscher Mordors an Stärke. Sie konnten nicht darauf warten, bis er Gondor erneut überrante. Und so gingen sie mit den besten Wünschen aller Thelynrim an Bord und fuhren unter einem günstigen Wind nach Norden, in Richtung der Küste Harondors und der Mündungen des Harnen.


Narissa, Aerien, Kani und Gatisen nach Harondor
Edrahil mit Langlas und Hírilorn nach Umbar
« Letzte Änderung: 23. Mai 2020, 19:47 von Fine »
RPG:

Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #34 am: 25. Apr 2021, 09:02 »
Narissa, Valion, Thorongil und Aldar mit der Falthaleth vom Meer

Am Abend des nächsten Tages lief die Falthaleth sanft in den Hafen von Tol Thelyn ein, und beim Anblick der Insel und des weißen Turms im Abendlicht legte Thorongil Narissa einen Arm um die Schulter.
"Selbst wenn es nicht für lange ist... es ist schön, nach Hause zu kommen." Narissa sah zu ihm auf. "Es ist schön, sie wieder "Zuhause" nennen zu können", meinte sie leise. Thorongil lächelte und drückte sanft ihre Schulter. Er blickte ein wenig zur Seite, wo Valion alleine stand und die zwischen Hafen und Turm wieder aufgebaute kleine Siedlung betrachtete.
"Valion, ich erinnere mich gut an unsere erste Begegnung", sagte Thorongil. Narissa lauschte ihrem Onkel gespannt. Valion hatte ihr erzählt, wie er und seine Schwester Thorongil hier vollkommen zufällig über den Weg gelaufen, doch sie hatte nicht erfahren, wie Thorongil darüber dachte. Überhaupt war er in vielen Dingen noch immer ein Rätsel für sie. "Damals war ich... gebrochen", sprach er weiter. "Ich hatte versagt, mein Volk war vernichtet und in alle Winde zerstreut, von meiner Familie niemand mehr übrig. Ihr habt mich dazu gebracht mich zu erinnern, was es bedeutet einer der Turmherren zu sein, und was meine Pflicht ist."
Valion war, zu Narissas Überraschung, tatsächlich ein wenig errötet, und räusperte sich verlegen. "Viel haben wir eigentlich gar nicht getan."
"Vielleicht nicht", fuhr Thorongil fort. "Aber es war genug. Vermutlich hätte ich mich ohne diese Begegnung in irgendwelchen Spelunken verloren, ein gebrochenes Wrack. Und seht was geschehen ist: Meine Heimat ist wieder aufgebaut, und ich habe meine Familie wiedergefunden." Bei den letzten Worten warf er Narissa einen Blick zu und lächelte.
Die Schiffswand stieß mit einem dumpfen Geräusch gegen das steinerne Kai, und einige gebrüllte Befehle später lag die Falthaleth fest vertäut im Hafen. Narissa und Valion folgten Thorongil die Leitplanke hinunter, und als sie festen Boden unter den Füßen hatte blieb Narissa kurz stehen und atmete tief durch. Natürlich würden sie nicht lange hier bleiben, und trotzdem war es schön, nach Hause zu kommen. Aus der kleinen Menschenmenge, die sich versammelt hatte um ihren Fürsten zu begrüßen, löste sich Hallatan, und verneigte sich respektvoll.
"Willkommen zu Hause, mein Fürst", sagte er förmlich, aber voller Wärme. Er zwinkerte Narissa zu. "Und natürlich ist es immer eine Freude, dich zu sehen, Narissa." Narissa lächelte. Sie hatte Hallatan schon in ihrer Jugend hier auf Tol Thelyn immer gemocht, und er war immer freundlich zu ihr gewesen.
"Ich freue mich, nach Hause zu kommen", erwiderte Thorongil laut, und fügte leiser an Hallatan gewandt hinzu: "Versammle den Rat so schnell es geht - es gibt viele Neuigkeiten aus Gondor die besprochen werden müssen." Hallatan nickte, und eilte mit langen Schritten davon. Thorongil wandte sich zu Narissa, Valion und Aldar, der ebenfalls das Schiff verlassen hatte, um. "Narissa, ich schlage vor du triffst alle Vorbereitungen für die Reise, die du für nötig hältst. Vielleicht wird Valion dich begleiten?" Valion wechselte einen Blick mit Narissa, und beide nickten. "Kapitän Aldar, ich danke euch für die Reise. Ihr und eure Mannschaft seid und für heute Abend willkommen, auch wenn ich fürchte, dass wir euch kein Quartier für die Nacht anbieten können."
"Das macht überhaupt nichts", erwiderte Aldar, der sich neugierig umsah. "Meine ganze Mannschaft ist es gewohnt, auch im Hafen an Bord zu schlafen. Frisches Wasser und Proviant wären allerdings höchst willkommen."
Thorongil nickte knapp. "Für beides wird gesorgt werden. Ich fürchte, ich muss mich nun allerdings entschuldigen, es gibt vieles zu besprechen."

Nachdem Thorongil in Richtung des Turms davongeeilt war, schlenderten Narissa und Valion ein wenig langsamer die Straße durch die Siedlung entlang hinterher in die selbe Richtung.
"Es hat sich einiges verändert seit ich das letzte Mal hier war", meinte Valion, der sich aufmerksam umsah. "Offenbar haben mehr von eurem Volk überlebt als gedacht."
"Viele sind mit den Schiffen geflohen, und einige konnten sich auf der Insel verstecken - Sûladans Truppen waren nicht allzu günstig. Sie dachten, mit dem Tod meines Großvaters wäre die Sache erledigt", erklärte Narissa. Es war nicht leicht an jenen Tag zu denken.
"Hm", machte Valion. "Weißt du, manchmal frage ich mich wie viele der Menschen vom Ethir überlebt haben. Ob überhaupt noch jemand von den Menschen lebt, die ich fast mein ganzes Leben, bevor Mordor kam, gekannt habe. Es ist... hart, daran zu denken." Narissa legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Ich verstehe. Nach meiner Flucht... dachte ich, alle Menschen die ich jemals geliebt hatte, wären tot. Nun ja, die meisten waren das auch, also..." Sie schüttelte den Kopf, ärgerlich über sich selbst. "Was ich sagen will: Ich dachte, ich würde den Rest meines Lebens alleine sein. Aber ich habe neue Freunde gefunden. Neue Familie. Und siehe, meine Heimat gibt es noch - oder eher wieder." Sie blickte Valion, dessen Gesichtsausdruck die schwer deuten konnte, an. "Ach, ich bin nicht gut in aufmunternden Reden. Also... wenn du irgendwann Hilfe brauchst, deine Heimat zurückzubekommen, denk an mich. Du hast ja offenbar dazu beigetragen, dass ich meine zurückbekommen habe, also bin ich dir was schuldig."
Valion schwieg einen Augenblick, bevor er plötzlich lachte. "Du bist besser darin als du selbst glaubst. Ich kann es schon vor mir sehen... Valirë und ich, du und deine Aerien... vielleicht nehmen wir noch Hilgorn mit, wenn er dazu nicht zu vernünftig ist... und gemeinsam erobern wir den Ethir zurück." Er wurde wieder ernst. "Es ist ein schöner Gedanke, und... ich würde mich freuen, wenn ihr an unserer Seite wärt, wenn es soweit ist."
Inzwischen hatten sie den Vorplatz des Turms erreicht, und die Sonne war beinahe vollständig hinter dem westlichen Horizont verschwunden. "Warte hier", sagte Narissa kurzentschlossen, verschwand im Turm und kam kurz darauf mit einer kleinen Laterne in der Hand zurück. "Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?", fragte sie Valion.
"Ich könnte mir bessere Zeiten für eine Besichtigung vorstellen", erwiderte er scherzhaft. "Aber warum nicht?"

Narissa schlug den Weg nach Süden ein, vom Turm weg und schließlich am Hof der Familie Aerdor vorbei, der dunkel und verlassen da lag. Hallatan war noch im Turm bei der Besprechung des Rates und Hírilorn war vermutlich noch mit Edrahil und Langlas bei Qúsays Heer - wenn er es noch nicht geschafft hatte, sich umbringen zu lassen. Narissa hoffte, dass es Hírilorn gut ging, allein schon Hallatans wegen, doch sie hatte ihre Zweifel. Immerhin war er nicht besonders erfahren in solchen Dingen, und sie hatte Aeriens Geschichte, wie durchschaubar sein Versuch gewesen war, über Aerien an sie heranzukommen, nicht vergessen.
Nur ein kurzes Stück hinter dem Hof gelangten sie an den kleinen Bachlauf, der hinunter zur versteckten Bucht am Südende der Insel führte, und folgten ihm bis sie den Strand erreichten.
Valion sah sich im schwachen Dämmerlicht der letzten Sonnenstrahlen aufmerksam um. "Ich verstehe, warum deine Vorfahren sich diesen Ort ausgesucht haben", sagte er schließlich. "Und ich verstehe, warum dieser Ort deine Heimat ist." Narissa nickte stumm, und ging mit langsamen Schritten über den weichen Sand auf den alten Leuchtturm am östlichen Ende des Strands zu. Nach einigen Augenblicken folgte Valion ihr, und kurze Zeit später standen sie am Fuß des Leuchtturms.
"Als junges Mädchen bin ich hin und wieder hier her geflüchtet, wenn mein Großvater oder einer meiner Lehrer zu streng zu mir gewesen war", erzählte sie, während sie die ausgetretenen und von Salz und Wind zerfressenen Stufen hinauf stieg. "Naja, oder wenn ich irgendetwas ausgefressen hatte und mich für ein paar Stunden verstecken musste." Sie zog die alte Tür mit ein wenig Mühe auf und warf Valion einen großen Stein zu. "Leg ihn in die Tür, damit sie nicht zu fällt", erklärte sie auf seinen fragenden Gesichtsausdruck hin. "Wenn das passiert bekommt man sie von innen so gut wie gar nicht mehr auf. Ich musste einmal als Kind aus einem der Fenster klettern und wäre beinahe abgestürzt, und Aerien hat sich hier versehentlich eingeschlossen, als wir das erste Mal hier waren." Bei der Erinnerung musste Narissa lächeln. Sie strich nachdenklich mit der Hand über die alten Decken und Kissen, die noch immer hier lagen. Sie rochen schwach nach Salz, und waren ziemlich staubig. "Das habe ich hier her geschmuggelt, nachdem ich diesen Ort entdeckt hatte", erklärte sie, während sie an das nächste Fenster trat und hinausblickte. Die Sonne war vollends hinter dem Horizont versunken, und aufgehende Mond malte eine silberne Straße auf das ruhige Wasser. Der Abend war beinahe vollkommen windstill.
"Und dein Großvater wusste nichts von diesem Ort?", fragte Valion, der bislang schweigend zugehört hatte. Er klang skeptisch, und Narissa musste lachen. "Natürlich wusste er davon. Er... hat nur so getan, als würde niemand außer mir wissen, das der Leuchtturm noch steht. Das hat er mir erklärt als ich... siebzehn war, glaube ich. Wir hatten einen ziemlich üblen Streit gehabt. Ich weiß nicht mal mehr, worum es ging." Sie lehnte sich auf die staubige Fensterbank und blickte hinaus auf die silberne Straße auf dem Meer. "Mein Großvater hatte kein solches Temperament wie ich, doch manchmal konnte er mir durchaus das Wasser reichen. Ich weiß noch, dass ich einen ganzen Tag alleine hier gewesen bin, länger als je zuvor. Ich habe sogar hier geschlafen. Am nächsten Morgen kam er den Strand entlangspaziert, brachte mir Frühstück und ist wieder gegangen. Irgendwann später habe ich ihn danach gefragt, und er hat mir erklärt, dass er mir diesen Ort lassen wollte, aber schließlich nicht zulassen konnte, dass ich verhungere." Sie schniefte und wischte sich über die Wangen, die zu ihrer eigenen Überraschung nass waren.
Valion war neben sie getreten, und blickte ebenfalls aus dem Fenster. Nach einiger Zeit sagte er leise: "Dein Großvater klingt als wäre er ein guter Mann gewesen."
Narissa wischte sich erneut über die Augen und sagte leise: "Ein guter Mann und ein ziemlicher Mistkerl. Er war für Jahre alles was ich an Familie hatte, und alles was ich brauchte. Als Sûladans Männer ihn getötet haben brach meine gesamte Welt zusammen, und dafür werde ich ihn töten."
Halb erwartete sie, dass Valion versuchen würde, sie davon abzubringen, ihr erzählen würde, dass Rache niemals der richtige Weg war. Stattdessen nickte er nur, und sagte: "Ich verstehe." Das war zu viel für Narissa, und mit einer plötzlichen Bewegung schlang sie die Arme um ihn, presste das Gesicht an seine Schulter und weinte. Zum ersten Mal seit Jahren löste sich der grauenvolle Klumpen, den sie immer in ihrem Bauch verspürte, wenn sie an jene Nacht dachte, ein wenig. Valion strich ihr ein wenig unbeholfen über den Rücken, und als sie sich schließlich beruhigt hatte und sich von ihm löste, räusperte er sich verlegen und fragte: "Hast du... hast du auch mit Aerien darüber gesprochen, als ihr hier wart?"
Narissa wischte sich die letzten Tränen aus den Augen, und musste lächeln. "Nein. Wir hatten... anderes zu tun."
Valion hob die Augenbrauen, und blickte sich in dem runden, dunklen Raum um. "Ein sehr... romantischer Ort für ein Stelldichein." Er warf ihr einen etwas misstrauischen Blick zu. "Ich hoffe, du dachtest nicht..."
Narissa verdrehte die Augen, und ließ ihn nicht ausreden. "Sei nicht blöd. Erstens, bilde dir nicht zu viel auf deine Anziehungskraft ein. Zweitens bin ich vergeben - genau wie du übrigens. Drittens, glaubst du ich schleppe dich hier hin und heule dich voll um dich zu verführen?"
"Manche Frauen tun das..." Valion machte einen Schritt zurück und hob grinsend die Hände. "Schon gut, schon gut, kein Grund mit mit Blicken zu erdolchen. Es war ein Scherz - vielleicht kein besonders guter."
"Wirklich nicht", brummte Narissa, ließ sich auf ein Kissen fallen und begann die mitgebrachte Laterne anzuzünden. "Immerhin gibst du es zu."
"Zeichen meiner geradezu unmenschlichen Bescheidenheit", meinte Valion, und setzte sich ein wenig vorsichtig auf ein zweites Kissen, und wirbelte trotzdem eine beachtliche Staubwolke auf. Er hustete, und sagte: "Und hier habt ihr... Beachtlich." Der warme gelbliche Schein der Lampe erhellte den Raum ein wenig, und Narissa, die wieder die Hände freihatte, versetzte Valion einen leichten Schlag gegen den Arm. "Da gibt es nichts zu lachen. Es war sehr romantisch."
Valion grinste. "Davon bin ich überzeugt. Ich erinnere mich, wie Lóminîth und ich..." Narissa hielt sich demonstrativ die Ohren zu, und Valion lachte.

Es wurde ein langer Abend, und am nächsten Morgen hatte Narissa das Gefühl gerade erst eingeschlafen zu sein, als Thorongil sie unsanft aus dem Bett warf. Nachdem sie sich fertig angezogen hatte, traf sie auf der Treppe auf Valion, der gerade herzhaft gähnte. "Dein Onkel ist ein grauenvoller Mensch", sagte er zwischen zwei Gähnanfällen, während sie die gewundene Treppe hinunterstiegen. "Wie kann man so früh am Morgen so... munter sein?"
"Er hat mehr von seinem Vater als gedacht", erwiderte Narissa, und musste ebenfalls gähnen. "Ich werte das als Kompliment", meinte Thorongil, der sie in der Halle am Fuß der Treppe erwartete. "Die Zeit drängt, und je eher ihr bei Qúsay ankommt, desto besser."
"Ihr?", fragte Narissa nach, und Thorongil nickte. "Es gibt viel zu tun und vieles zu planen. Ich werde später nachkommen, wenn es geht, doch rechnet lieber nicht damit. Ich habe volles Vertrauen in euch."
"Volles Vertrauen heißt wahrscheinlich: 'Ich hoffe, dass Edrahil euch im Zaum hält'", murmelte Narissa Valion später auf dem Weg zu den Ställen zu, nachdem sie ein kurzes Frühstück zu sich genommen hatten.
Valion schauderte ein wenig. "Diese Hoffnung könnte sich erfüllen. Edrahil ist der einzige Mann auf unserer Seite, der mir manchmal fast Angst macht." Trotz des Dämmerlichts in den Ställen fand Narissa Grauwind schnell, denn es waren hier nicht viele Pferde untergebracht und die graue Stute schnaubte freudig, sobald sie den Stall betreten hatte. Sie kraulte ihrem Pferd sanft die Stirn und flüsterte: "Hast du mich vermisst? Ich habe dich jedenfalls vermisst." Sie wandte sich zu Valion um, der ein wenig verloren im Mittelgang stand und sich umsah.
"Karab", sagte sie, und nickte in Richtung des dunkelbraunen Hengstes, der in der Box neben Grauwind stand. "Er ist Aeriens Pferd. Ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen hätte, wenn du ihn borgst solange wir gemeinsam reisen." Valion trat vorsichtig näher, und Karab betrachtete ihn aufmerksam aus seinen warmen, dunkelbraunen Augen. Schließlich senkte er den Kopf, und ließ sich von Valion den Hals klopfen.
"Ein schönes Tier", meinte Valion anerkennend. "Tatsächlich kommt er aus Gondor", erklärte Narissa. "Aerien hat ihn von den Waldläufern in Ithilien bekommen, wenn ich mich recht erinnere."
"Karab", wiederholte Valion leise. Der Hengst spitzte die Ohren beim Klang seines Namens, und Valion lächelte. "Ja, ich glaube wir werden uns verstehen."
Nacheinander führten Narissa und Valion ihre Pferde aus dem Stall und zu Hafen. Hallatan würde sie mit der Thoroval das kurze Stück bis ans Festland bringen, von wo aus sie schließlich den Weg nach Ain Salah einschlagen würden.

Narissa und Valion zur Mehu-Wüste...
« Letzte Änderung: 28. Apr 2021, 09:58 von Fine »

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