Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Tol Thelyn

(1/7) > >>

Fine:
Valion, Valirë und Veantur mit der Súlrohír von der Bucht von Belfalas


Die Súlrohír ankerte vor einem breiten Sandstrand, der sich zwischen zwei von hohen Klippen gesäumten Küstenabschnitten befand. Der Kapitän stellte den Zwillingen das große Beiboot zur Verfügung und sie nahmen sieben Krieger vom Ethir mit als sie die kurze Strecke bis zum Ufer zurücklegten. Knirschend stieß die Unterseite ihres Boots auf Sand und sie sprangen durch das knöcheltiefe Wasser an Land. Zwei Mann blieben zurück um das Boot zu bewachen und zu siebt machten sie sich in Richtung des Turms auf, der in der Ferne hinter einem bewaldeten Stück Land zu sehen war.

"Was erzählt man sich unter Seefahrern über diese Insel?" fragte Valirë den ältesten ihrer Begleiter, einen alten Seefahrer vom Ethir.
"Viel weiß ich nicht," antwortete dieser. "Es gibt über die Weiße Insel nur alte Legenden. Angeblich ist sie von Schatten bewohnt."
"Schatten?" wunderte sich Valion. "Das ist doch nichts als Gerede. Was meint Ihr, wer wohl den Turm erbaut hat? Ganz offensichtlich ist er von númenorischer Bauart. Ich schätze, hier gab es einst einen Hafen der Dúnedain."
"Zumindest bis vor Kurzem," vermutete Valirë. "Doch wer auch immer den Turm in Brand gesteckt hat, er war ein Feind der Insel und seiner Bewohner. So viel steht fest."
Sie gingen weiter und näherten sich dem Turm. In der Nähe der Bäume fanden sie eine Straße, die durch das kleine Wäldchen direkt auf ihr Ziel zuführte. Sie folgten dem Weg und durchquerten den Hain während die Sonne ihren Zenit erreichte. Gesprochen wurde kaum. Sie alle hielten ihre Waffen griffbereit und die Anspannung war deutlich spürbar. Etwas lag in der Luft.

Die Gruppe verließ den Schatten der Bäume, und sie kamen auf eine Ebene, die zwischen ihnen und dem Turm lag. Überall sahen sie Spuren der Verwüstung. Offenbar hatte es hier einst bewohntes und bestelltes Land gegeben. Valion sah zerstörte Höfe und Felder, jedoch nirgendwo Zeichen der Inselbewohner. Sie durchquerten ein verlassenes Dorf in dem sich nichts regte als der Wind, der über die Dächer strich. Der Turm rückte näher. Eine traurige Stille lag über der Insel und selbst den Zwillingen war nicht nach draufgängerischen Sprüchen zumute. Die Verwüstung bedrückte sie alle, obwohl sie nicht wussten, wer hier gelebt hatte oder weshalb die Zerstörung angerichtet worden war.

In der Nähe des Turms durchquerten sie einen überwucherten Garten, der wohl einst ordentlich und gepflegt gewesen war, nun jedoch mit dem Rest der Insel dem Verfall preisgegeben war. Zu ihrer Überraschung fanden sie dort einen Mann vor, der regungslos auf den verkohlten Turm starrte. Er war von hochgewachsener Gestalt und trug haradische Gewänder, doch seine Gesichtszüge erinnerten Valion eher an seine Verwandten, die Fürsten von Pelargir, als an einen Südländer.
Vorsichtig näherten sie sich und als der Mann keine Reaktion zeigte sprach Valirë ihn an.
"Zum Gruße, Freund. Was bringt euch an diesen düsteren Ort?"
Der Fremde wandte sich ihr zu, den Blick von jemandem, der aus einem Traum erwacht in den grau schimmernden Augen. "Wer seid ihr?" fragte er. "Ihr seid keine Haradrim, nein.... keine von Sûladans Schergen." Er musterte sie der Reihe nach und sein Blick blieb an Valion hängen. Einen Augenblick starrten die beiden Männer einander an, doch dann senkte der Fremde den Blick. "Dies ist Tol Thelyn. Einst war es die Insel des Sonnenuntergangs. Die Insel der Standhaften. Die Weiße Insel. Doch heute ist sie nichtsmehr von alldem. Der Schatten Sûladans hat sie verschluckt. Und es ist meine Schuld!"
Verzweiflung flackerte in den Augen des Fremden auf. Er schien ein gebrochener Mann zu sein.
"Wir sind gondorische Seefahrer," erklärte Valirë, der ihr Bruder das Reden überließ. "Unser Schiff liegt vor dem Nordufer. Die Strömung trieb uns während einer Flaute hierher."
"Gondor..." stieß der Mann hervor. "Gondor hat uns vergessen. Gondor hat den Bund vergessen. Ihr kommt zu spät. Die Dúnedain von Harad wurden vernichtet und die Turmherren sind gefallen."
"Wer sind die Turmherren?" fragte Valirë. "Und was hat Euer Gerede zu bedeuten? Erklärt Euch, dann helfen wir Euch, die Insel sicher zu verlassen."
"Ich bin.. Tayyad," gab der Fremde zurück. "Oder zumindest war ich das in den vergangenen Jahren. Doch geboren wurde ich hier, auf Tol Thelyn, als Beorn Dúnadan. Mein Vater Hador gab mir später den Namen Thorongil."
"Thorongil!" rief Valion überrascht. Der letzte große Held Gondors (vor Boromir, dem Sohn Denethors) war im Ethir und in Pelargir bei jedem Kind bekannt. "So seid Ihr also der Fluch Umbars?"
"Nein, das war vor meiner Zeit," sagte Thorongil. "Nach seinem Sieg erhielt ich zu Thorongils Ehren dessen Namen. Ja, dieser Thorongil war ein Held, denn er war der einzige, der sich der Dúnedain des Südens erinnerte. Über das Haus Hallatans ist er auch ein Verwandter der Turmherren und in den alten Schriften im Norden las er über Arandir den Reisenden, der seinen Vetter Hallatan in Arnor besuchte. Thorongil berief sich auf das Bündnis, dass mein Vorfahr mit Isildur selbst geschlossen hatte und so unterstützten die Männer der Insel seinen Angriff auf Umbar. Ohne ihre Hilfe wäre er gar nicht möglich gewesen. Doch davon weiß in Gondor niemand etwas, habe ich Recht? In Gondor schert es niemand, dass der Turm, der drei Jahrtausende überdauerte, von Sûladan in Brand gesetzt wurde und sein Bewahrer auf dessen Schwelle erschlagen wurde. In Gondor hat man die Turmherren vergessen."
"Es war also Sûladan, der die Insel angriff?" hakte Valirë nach. "Wie lange ist das her? Hat irgendjemand überlebt?"
"Ich weiß es nicht," seufzte Thorongil. "Ich... habe mich einst mit meinem Vater überworfen und verließ die Insel. Erst als ich vom Fall des Turms hörte kehrte ich zurück. Einige Dúnedain haben überlebt, vor allem jene, die in den Städten und Reichen Harads mit Missionen meines Vaters unterwegs waren. Auch habe ich gesehen, dass bei den zerstörten Schiffen im Hafen zwei fehlen; die Rossigil, das Flaggschiff der Turmherren mit dem einst mein Ahnherr Ciryatan von Númenor hierher kam, und ein zweites, kleineres Schiff. Noch besteht ein klein wenig Hoffnung, dass an Bord dieser beiden Schiffe einige Dúnedain entkommen sind."

"Schluss mit der Geschichtsstunde," unterbrach Valion. "Wir können auf keinen Fall hier bleiben. Vielleicht sind Sûladans Leute noch in der Nähe."
"Du hast Recht," stimmte Valirë zu. "Thorongil, kommt doch mit uns. Auf unserem Schiff könnt Ihr uns alles über die Insel erzählen."
Doch der Fremde schüttelte den Kopf. "Ich habe mein Erbe lange genug mit Füßen getreten. Ich muss hierbleiben und retten, was zu retten ist."
"Welches Erbe?" fragte Valirë, doch Valion wusste bereits was der Mann antworten würde.
"Das der Turmherren," sagte er daher, und Thorongil nickte.
"Ich bin der Sohn Hadors vom Turm. Es wird Zeit, dass ich mich auch so verhalte. Ich werde sammeln was von den Dúnedain Tol Thelyns übrig ist. Wenn ihr Angehörige meines Volkes trefft, berichtet ihnen bitte davon. Ihr erkennt sie an ihren meergrauen Augen."
Die Zwillinge nickten. Valion hatte des merkwürdige Gefühl, Thorongil bedenkenlos vertrauen zu können, weshalb er ihm viel Erfolg wünschte und dies auch so meinte. Sie verabschiedeten sich und versprachen, auf der Rückreise von Umbar erneut einen Halt auf der Insel einzulegen und Thorongil beim Wiederaufbau zu unterstützen. Dann machten sie sich auf den Rückweg zu ihrem Schiff.

Am Strand angekommen fanden sie das Beiboot noch immer wartend vor. Der Nachmittag war beinahe vorbei als sie schließlich wieder die Planken der Súlrohír betraten. Veantur berichtete, dass seine Leute in der Nähe eine Quelle gefunden und die Wasservorräte aufgestockt hatten. Doch hatte er auch weniger gute Neuigkeiten: während ihrer Abwesenheit waren am Horizont mehrere schwarze Segel gesehen worden.
"Die Korsaren sind unterwegs," sagte er beunruhigt. "Wir sollten zusehen, dass wir hier verschwinden."
Und genau das taten sie. Die untergehende Sonne im Rücken setzten sie Kurs nach Osten, in Richtung Festland, und in Richtung Umbar.


Valion und Valirë nach Umbar

Fine:
Lothíriel, Valirë, Bayyin, Tuór, Veantur, Lóminîth und Valion mit der Súlrohír vom Kap Umbar


Valion erwachte, als die Türe zu seiner Kabine mit einem lauten Krachen weit aufgerissen wurde. Er blinzelte verwirrt in das helle Sonnenlicht, das hereinflutete und war für einen Augenblick völlig orientierungslos. Sein Kopf und Oberkörper lagen auf etwas weichem, und gut riechenden... seine Hand ertastete vorsichtig, worum es sich dabei handelte und stellte fest, dass die Oberfläche zwei ausgeprägte Erhebungen direkt oberhalb von der Stelle aufwies, an der Valions linke Wange ruhte...
Jemand räusperte sich. Deutlich. Valions Hand verharrte und er riskierte einen zweiten Blick ins Licht. Vor den Sonnenstrahlen zeichnete sich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt ab, die offenbar die Hände in die Hüften gestützt hatte.
"Bist du fertig damit, die Dame zu betatschen, kleiner Bruder?" sagte Valirë, und Valion konnte das Grinsen aus der Stimme seiner Schwester heraushören. Schnell zog er die Hand weg. In der Hoffnung, dass Lóminîth nichts bemerkt hatte richtete er sich auf - und stellte fest, dass er keine Kleidung trug. Schnell wickelte er die dünne Decke um sich, die seinen Unterkörper bedeckt hatte, doch das löste ein anhaltendes Kichern von Valirë aus.
"Willst du ihr wirklich noch den letzten Schutz vor ungenierten Blicken nehmen?" fragte sie und deutete auf die schlafende Lóminîth, deren blankes Hinterteil gerade zum Vorschein kam.
"Mach die verdammte Tür zu," herrschte Valion seine Schwester an und warf die Decke über seine Verlobte. Dann sprang er aus dem Bett und durchsuchte das kleine Zimmer nach seinen Kleidern, die in allen Ecken verstreut lagen.
Valirë kam aus dem Kichern gar nicht mehr heraus. "Wie ich sehe hast du die Zeit gut genutzt," stichelte sie.
"Jetzt tu' nicht so scheinheilig," knurrte Valion während er sich anzog. "Wer hat denn die erste Gelegenheit genutzt, um mit dem Schreiber unter die Decke zu springen?"
"Das hatte nichts zu bedeuten," gab Valirë zurück. "Aber das..." sie wies auf die nun wieder anständig verhüllte Lóminîth "...ist eine andere Angelegenheit. Immerhin seid ihr beide verlobt. Hast du etwa vor, einen Erben zu zeugen?"
"Unsinn," antwortet Valion. "Hör lieber auf so zu sprechen, bevor noch jemand etwas davon erfährt. Das war eine einmalige Sache. Die Verlobung ist jetzt sowieso hinfällig... genau wie der Rest von Umbar."
"Was kümmert uns das? Wir haben Lothíriel, und damit ist unser Auftrag erfüllt. Lass' uns mit Veantur sprechen und den Kurs ändern," schlug Valirë vor. "Wir sollten nach Dol Amroth, nicht zur Insel."
Valion streifte sich sein Obergewand über und schloss vorsichtig hinter sich die Tür. Glücklicherweise schien Lóminîth trotz all dem Lärm, den Valirë verursacht hatte, nicht erwacht zu sein.
"Ich schätze, für einen Kurskorrektur ist es zu spät," kommentierte er, als er einen Blick auf das Meer warf, denn im Südwesten war bereits die Silhouette des Turms von Tol Thelyn zu erkennen.
"Der war vorher noch nicht da," brummte Valirë missmutig. "Als ich dich wecken ging, war noch nicht einmal Land gesichtet worden."
"Das ist das Geheimnis dieses Schätzchens," warf Veantur stolz ein, der gerade um eine Ecke bog, und er tätschelte die Planken des Schiffes geradezu zärtlich. "Sie schafft es immer wieder, die Leute zu überraschen. Ihr hättet sehen sollen, wie sie die Korsarenschiffe in der Nacht abgehängt hat."
"Korsarenschiffe?" wiederholten die Zwillinge wie aus einem Mund.
"Tja, ja," sagte Veantur nickend. "Waren kaum am Leuchtturm von Kap Umbar vorbei, da kamen sie auch schon aus der Bucht gefahren: eine stattliche Flotte von Schwarzseglern, und allen voran eines ihrer großen Kriegsschiffe. Wenn mich nicht alles täuscht, war das eines der wenigen, die sie noch übrig haben. Muss wohl in den Schlachten bei Dol Amroth und Pelargir geschont worden sein. Das war schon ein ziemlich großer Kahn! Stärker, aber nicht schneller als diese Schönheit hier." Erneut strich er zärtlich über die Planken der Súlrohir. "In Sachen Geschwindigkeit und Wendigkeit macht ihr keiner was vor."
"Gut zu hören," sagte Valirë.
"Wir sollten diesmal im Hafen der Weißen Insel anlegen," schlug Valion vor. "Sie scheint noch immer verlassen zu sein."
"Aye!" bestätigte Veantur und gab seiner Mannschaft den entsprechenden Befehl.

Nicht einmal eine Stunde später stand Valion am Kai des kleinen Hafens von Tol Thelyn, der Platz für vier Schiffe von der Größe der Súlrohír bot. Zwei der vier Anlegeplätze waren sogar groß genug, um noch größeren Schiffen Platz zu bieten. Die Mannschaft vertäute das Schiff und begann, den Hafen zu inspizieren. Zwar waren hier, wie auf dem Rest der Insel, deutliche Spuren der Zerstörung zu sehen, doch das, was die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog war das zweite Schiff, das am anderen Ende des Hafens vertäut war. Es war etwas kleiner als die Súlrohir und hatte weiße Segel. Neugierig gingen die Zwillinge hinüber, die Waffen griffbereit, aber noch nicht gezogen.
"Guten Morgen!" begrüßte Valion die Gruppe von Menschen, die ihnen wachsam entgegentrat. Er konnte ungefähr zwanzig Männer und Frauen sehen, die auf und in der Nähe des Schiffs daran arbeiteten, Vorräte abzuladen. Sogar einige wenige Kinder waren zu sehen, die zwischen den zerstörten Lagerhäusern am Ufer spielten.
"Schickt Thorongil euch?" fragte der Anführer der Gruppe, ohne sich vorzustellen.
"Thorongil?" wiederholte Valirë. "Meint ihr Thorongil vom Turm?"
"Natürlich - wen sollten wir sonst meinen?" gab ihr Gegenüber verwundert und misstrauisch zurück."
"Wir kommen aus Gondor," erklärte Valion mit ruhiger Stimme. "Vor einigen Wochen trafen wir Thorongil hier auf der Insel, doch er war allein. Er erzählte uns, dass er auf der Suche nach seinem Volk sei. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei euch um die Überlebenden von Tol Thelyn handelt?"
Der Mann nickte und seine Miene hellte sich auf. "Er hat uns davon erzählt, als er uns fand," berichtete er. "Mein Name ist Hallatan, und dies sind alle, die auf meinem kleinen Schiff Platz fanden, als Sûladans Horden unsere Heimat zerstörten. Das zweite Schiff das entkam, die Rossigil, wurde von uns durch einen Sturm getrennt, der vor einiger Zeit über die Bucht von Belfalas fegte."
"Das muss in der Nacht gewesen sein, bevor wir den Ethir erreichten, Valion," erinnerte sich Valirë.
"Die Rossigil war das Flaggschiff der Turmherren," fuhr Hallatan fort. "Wir hoffen, dass die Menschen an Bord ebenfalls überlebt haben. Thorongil brach auf um sie zu suchen, nachdem er uns gefunden und zur Insel zurück geschickt hatte."
"Nun, dann besteht immer noch Hoffnung für sie," befand Valion. "Wir würden gerne hier auf Verbündete warten, wenn Ihr erlaubt," fuhr er fort.
Hallatan nickte. "Thorongil sagte bereits, dass ihr vermutlich bald zurückkehren würdet. Wie ist es euch in Umbar ergangen, wenn ihr mir die Frage gestattet?"
Valion fasste in einigen wenigen Sätzen die Erlebnisse zusammen und berichtete auch von Hasaels Rückkehr, von der Flucht aus der Stadt und wie sie von Edrahil getrennt worden waren. Als er geendet hatte nickte Hallatan verständnisvoll.
"Ich bin mir sicher, eure Freunde werden bald hier eintreffen. Hasael wird zunächst sicherlich alle Hände damit voll zu tun haben, wieder Ordnung in seiner Stadt zu schaffen. Er hätte gewiss nicht die Zeit, Schiffe loszuschicken, um -"
"Segel am Horizont!" rief jemand, der Ausguck hielt, und unterbrach Hallatan jäh. Alle Blicke wandten sich zum Meer, und Valion sah seine Befürchtungen erfüllt, als er erkannte, dass das gesichtete Segel schwarz wie die Nacht war.
"Verdammt," murmelte er. "Jetzt haben uns die Korsaren also doch noch gefunden."
Gefolgt von Valirë eilte er zurück zur Súlrohír, wo die Besatzung sich bereits für den Kampf vorbereitete.
"Diesmal laufen wir nicht weg," knurrte Veantur. "Sie mögen größer und stärker als wir sein, aber wir haben zwei Schiffe und sie nur eines. Anker lichten, Freunde! Zeigen wir denen, was wahre Seefahrer sind!"
Valion zog seine Waffen und seine Schwester tat es ihm gleich. Sie würden kämpfen, um Tol Thelyn zu verteidigen, und Lothíriel in Sicherheit zu bringen.

Eandril:
Die Aglarbalak aus Umbar

Edrahil saß auf dem Deck der Aglarbalak mit dem Rücken an die Reling gelehnt und genoss die Morgensonne. An Land wäre es wahrscheinlich bereits heiß, doch hier auf See war die Sonne angenehm. Es erinnerte ihn daran, wie er früher mit seinem Vater zum Fischen gefahren war, auch dort hatte er den Frieden der frühen Morgenstunden auf See genossen. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht, und er sah Minûlîth vor sich stehen. "Wie es aussieht, haben wir die Korsaren abgehängt", sagte sie, klang dabei allerdings nicht wirklich glücklich. Zu Edrahils Überraschung ließ sie sich neben ihm auf den hölzernen Deckplanken nieder, zog die Beine an und schlang die Arme um ihre Knie. "Irgendein Zeichen von der Súlrohír?"
Edrahil schüttelte den Kopf. "Nein, aber das muss nichts heißen. Auf See verliert man einander leicht aus den Augen, erst recht in der Dunkelheit."
"Hm", machte Minûlîth, doch Edrahil konnte sehen, dass sie sich sorgte. "Mach dir keine Sorgen", sagte er, und blinzelte in der Sonne. "Ich bin mir sicher, dass sie entkommen sind. Nach allem was ich gehört habe, ist die Súlrohír ein sehr schnelles Schiff und Veantur ein äußerst fähiger Kapitän - womöglich sind sie bereits auf der Insel und erwarten uns."
Minûlîth machte ein Geräusch, das sich wie die Mischung aus einem Lachen und Schluchzen anhörte. "Du bist ein merkwürdiger Mann, Edrahil. Gestern hätte ich schwören können, dass du kein Herz hast - und wenn, dann eines aus Stein. Und heute findest du die richtigen Worte, um mich zu trösten."
"Gestern musste ich sicher gehen, dass getan wird was getan werden muss", erklärte Edrahil, und strich unbewusst über den Stumpf seines rechten Daumens. "Und falls es dich beruhigt, ich habe mich dabei nicht allzu gut gefühlt."
Diesmal war es eindeutig, das Minûlîth lachte, und sie strich sich eine vom Wind verwehte Haarsträhne aus der Stirn. "Das beruhigt mich tatsächlich ein wenig. Niemand auf unserer Seite sollte sich gut dabei fühlen, seine Freunde in Gefahr zu sehen und einfach nichts zu tun - selbst wenn es das Richtige ist." Ihre Blicke wanderten nach oben zum leicht erhöhten Achterdeck des Schiffes, auf dem Thorongil am Steuer stand, das Gesicht regungslos nach vorne gewandt.
Edrahil folgte ihrem Blick, und sagte: "Du hast dich in einen Mann verliebt, der ebenso dazu fähig ist, Herrin Minûlîth." Minûlîth lächelte, ohne den Blick von Thorongil abzuwenden. "Auch wenn es dich eigentlich nichts angeht, Meister Edrahil - das habe ich."
"Du solltest es ihm sagen", sagte Edrahil unvermittelt, doch Minûlîth schien sofort zu begreifen, worauf er hinauswollte. "Ich weiß nicht...", sagte sie unsicher. "Ich habe es so lange geheimgehalten, und jetzt..."
"Erst ist nicht mehr der Wanderer von einst", erwiderte Edrahil. "Sieh ihn dir an - er ist der Herr des Turmes. Valion hat mir von ihrer Begegnung erzählt, und auch, dass Thorongil das Erbe seines Vaters antreten will. Ein Sohn hält ihn nicht länger zurück, sondern ist..."
"... ein Erbe", schloss Minûlîth an seiner Statt, und Edrahil freute sich, dass sie begriffen hatte. "Ein Fürst braucht einen Erben...", sagte sie nachdenklich, und als sie weitersprach, glänzten ihre Augen. "... und eine Frau."
"Genau so ist es", meinte Edrahil, und klopfte ihr sanft auf die Schulter bevor er sich mühsam erhob. "Du solltest dir überlegen, wie genau du es ihm beibringst... und ich gehe ihn fragen, wie nah wir der Insel schon sind." Er zwinkerte Minûlîth zu, und humpelte in Richtung Achterdeck davon.

Oben angekommen stellte er sich neben Thorongil, und der Turmherr deutete nach Süden, wo eine grüne Insel zu sehen war. "Seht", sagte er. "Tol Thelyn, die Weiße Insel. Heimstätte der Turmherren... und meine Heimat." Sein Blick wanderte zu Minûlîth, die noch immer auf dem Unterdeck saß, und er fügte hinzu: "Jedenfalls eine davon."
"Sie würde euch heiraten, wisst ihr?", sagte Edrahil, und lächelte über die überraschte Miene Thorongils. "Meint ihr wirklich? Ich habe sie nie gefragt, ich war arm und im Exil, und nun dachte ich..."
"Dass es zu spät sein könnte? Das glaube ich nicht... aber herausfinden könnt ihr das nur, in dem ihr sie fragt", sagte Edrahil, und lächelte in sich hinein. Er fragte sich was geschehen würde, wenn Minûlîth und Thorongil sich gleichzeitig einen Heiratsantrag machten. Seine Fröhlichkeit schwand ein wenig, als er vor der Insel zwei Schiffe auftauchen sah, die auf sie zukamen. "Zuhause oder nicht, irgendjemand dort scheint uns nicht zu mögen."
Thorongil blickte nach oben und knurrte: "Diese verdammten schwarzen Segel... wenn ich andere hätte, hätte ich sie längst ausgetauscht. Sie müssen uns für Korsaren halten."
"Oder es ist eine Täuschung, und sie greifen uns tatsächlich an", erwiderte Edrahil, auch wenn der Gedanke schwer zu ertragen war. Er glaubte nämlich, an dem einen der Schiffe blaue Segel zu erkennen...
Thorongil warf ihm einen seltsamen Blick zu. "Ihr seit ein ziemlicher Schwarzseher, wisst ihr das?" Edrahil zuckte mit den Schultern. "Natürlich - deshalb lebe ich noch."
Der Kapitän seufzte, und rief dann mit hallender Stimme: "Alle Mann an die Waffen - wir könnten angegriffen werden."

Als sich die beiden Schiffe zu beiden Seiten der Aglarbalak näherten, stand Edrahil mit Minûlîth an der Tür, die auf die unteren Decks des Schiffes führte. Sie wären beide in einem Kampf nicht von nutzen, hatten sich allerdings gegen alle Bitten und Befehle Thorongils geweigert, sich bereits jetzt unter Deck zu begeben. Auf Deck hatten sich die gesamte Besatzung des Schiffes versammelt, die Waffen bereit, und schließlich stießen beide Angreifer seitlich an die Aglarbalak und klemmten sie zwischen sich ein. Da die Aglarbalak höher war als ihre Angreifer konnte Edrahil deren Decks von seiner Position aus nicht erkennen, doch er hörte eine männliche Stimme rufen: "Ergebt euch und legt eure Waffen nieder, sonst werden wir nicht einen einzigen von euch verschonen."
"Das kann doch nicht wahr sein...", stieß Edrahil hervor, und humpelte so schnell wie möglich in die Richtung, aus der die Stimme - eine sehr bekannte Stimme - gekommen war. Er beugte sich über die Reling, blickte auf die Súlrohír hinunter und knurrte: "Valion Cirgonion... und Valirë Cirgoniel. Ich hätte es mir denken können."
Edrahil konnte sehen, wie dem bis zu diesen Augenblick zuversichtlichen Valion vor seinen Augen die Kinnlade herunterfiel. Seine Schwester hingegen hob ihre Klinge und winkte Edrahil damit zu,
"Heda, Edrahil! Falls Ihr es nicht bemerkt habt - das ist ein Korsarenschiff, auf dem Ihr da mitfahrt!" rief sie übermütig zu ihm herüber.
Obwohl ihn die Erleichterung beim Anblick der Zwillinge wie ein Faustschlag getroffen hatte, verdrehte Edrahil die Augen. "Falls ihr es nicht bemerkt habt, ist dies ein freundliches Korsarenschiff." Er deutete nach oben zum Mast, wo er eine improvisierte kleine gelbe Flagge hatte anbringen lassen.
"Und darüberhinaus kein wirkliches Korsarenschiff", ergänzte Minûlîth, die neben ihm an die Reling geeilt war. "Sondern das Flaggschiff von Haus Minluzîr."
Von der anderen Seite des Schiffes war Thorongils Stimme zu hören: "Hallatan! Hat es einen Grund, dass ihr mich angreift?"
"Nun... wir dachten, ihr wärt Korsaren", wehte schwach die Antwort zu Edrahil hinüber, und Thorongil rief zurück: "Korsaren? Oh mein Freund, wir haben einiges zu besprechen sobald ich an Land bin..."
"Und wir ebenfalls", rief Edrahil zu den Zwillingen hinunter. Valions verdutzte Miene hatte sich noch kein Stück verändert, und so fügte Edrahil hinzu: "Also, Kapitän Veantur, wenn ihr unser Schiff freigeben möchtet... Jederzeit!"

Fine:
Ungefähr eine Stunde später fanden sie sich alle im Hinterhof eines der noch intakten Lagerhäuser am Hafen wieder. Jemand hatte hier einen kleinen Garten angelegt, der die Verwüstung der Insel unbeschadet überstanden hatte und von einer niedrigen Hecke umgeben war. Während die Besatzungen der drei Schiffe damit beschäftigt waren, die Boote sicher im Hafen zu vertäuen, gegen die Winde zu sichern und einiges an Vorräten auf- und abzuladen versammelten Edrahil und Thorongil ihre Verbündeten in dem kleinen Garten. Sie saßen rings um einen großen Holztisch und ließen Wasser und Wein herumgehen, den Veantur zur Feier des Tages gespendet hatte. Lóminîth, die seit der letzten Nacht geradezu anhänglich geworden war, saß auf Valions Schoß und hatte die Arme um seinen Hals geschlungen während sie Edrahils Bericht von dessen Flucht aus Umbar lauschte. Lothíriel und Valirë saßen daneben und tauschten wissende Blicke aus. Kapitän Veantur, Thorongil, Mínulîth, Bayyin und sogar der kleine Túor stellten sich die hölzerne Stühle rings um den Tisch auf, die Bayyin in einem kleinen Schuppen in einer der Ecken des Gartens entdeckt hatte, und schon bald hatte jeder einen Sitzplatz gefunden.
"Hasael hat einen neuen Anführer für seine Leibwache gefunden, aber ich muss sagen, an meinen guten Freund Aquan reicht der Bursche wirklich nicht heran," sagte Edrahil gerade.
"Nun, er hatte euch eine ziemlich gute Falle gestellt," warf Thorongil lächelnd ein. "Ihr habt Glück, dass ich zufällig gerade in der Gegend war."
"Ganz zufällig natürlich," kommentierte Minûlîth amüsiert.
"Natürlich," nickte Thorongil und strich sich durch den Bart. "Ich bin froh, dass ich mich dazu entschlossen habe, nach Umbar zu fahren nachdem ich Hallatan und seine Leute gefunden hatte," sagte er und wurde wieder ernst. "Dass die Besatzung des kleineren Schiffes überlebt hat macht mir Hoffnung darauf, dass es auch die Rossigil geschafft hat. Immerhin brachte sie einst Ciryatan und die Vorfahren der Thelynrim aus Westernis hierher. Wenn sie noch am Leben sind, werde ich sie finden."
"Das wirst du," bekräftigte Minûlîth. "Ich werde dir dabei helfen, so gut ich kann."
"Melíril," flüsterte Thorongil mit Wärme in der Stimme. "Das bedeutet mir sehr viel."
"Also," warf Lóminîth ein und alle Augen richteten sich auf sie. "Wann gebt ihr einander das Versprechen?"
Thorongil und Minûlîth sahen sich an. Der Erbe des Turms hatte nach jahrelanger Übung seine Gesichtszüge zu gut unter Kontrolle, doch die Wangen seiner Geliebten färbten sich in hellem Rot als sie verlegen zur Seite blickte. "Ich denke, die Zeit ist gekommen," sagte Thorongil und erhob sich von seinem Stuhl. Doch Minûlîth ergriff sein Handgelenk und hielt ihn zurück. "Warte, Beorn. Es gibt da etwas, das du wissen musst, ehe du das tust."
"Wovon sprichst du?" wunderte er sich. Die Gespräche am Tisch waren verstummt und alle bis auf Edrahil schienen gespannt den Atem anzuhalten.
"Túor," sprach Minûlîth den Jungen sanft an. "Komm bitte her zu mir."
"Ja, Mutter," antwortete der Siebenjährige und trat neben sie. Minûlîth legte ihm die Hände auf die Schultern und ihr Blick traf den Thorongils.
"...Mutter?" wiederholte dieser verständnislos. "Ich dachte..."
"Das war eine Lüge," gestand Minûlîth leise. Man konnte ihr ansehen, wie schwer es ihr fiel, diese Wahrheit auszusprechen. "Als Túor geboren wurde... warst du weit weg, auf einer Fahrt im tiefen Süden. Ich ... wollte dich nicht damit belasten."
Thorongil blickte schweigend zwischen seinem Sohn und seiner Geliebten hin und her, einen schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht. Ein langer Moment des Schweigens trat ein.
"Wie konntest du nur," sagte Thorongil tonlos.    
"Beorn, ich - " begann sie, doch er unterbrach sie mit einer Bewegung seiner Hand.
"Wie konntest du nur annehmen, ein solches Geschenk würde mich belasten?" rief er, doch in seiner Stimme lag pure Freude. "Ich habe einen Sohn!" Er legte seine kräftigen Arme um Túor und hob den Jungen hoch. "Ich habe einen Sohn! Einen Erben!"
Es war Lothíriel, die als erste reagierte. Anmutig erhob sich die Prinzessin und begann, zu klatschen. Einer nach dem anderen fielen sie mit ein. Thorongil setzte Túor auf seine Schulter und legte seinen anderen Arm um Minûlîths Schulter. "Wir sind eine Familie," erklärte er. "Wenn es der Herrin Minûlîth von Haus Minluzîr gefällt, meine Frau zu werden," fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.
"Und ob mir das gefällt," rief sie mit Tränen der Erleichterung in den Augen.
"Dann sei es. Ein Hoch auf Melíril und Túor vom Turm!" verkündete Thorongil, und der Applaus steigerte sich zu einem lauten Höhepunkt.

"Gut gemacht," flüsterte Valion seiner Verlobten zu, von deren beiläufiger Bemerkung die ganze Sache erst ausgegangen war.
"Ich habe so meine Momente," sagte Lóminîth mit einem kleinen, aber echten Lächeln. Der Wein machte die Runde am Tisch, und Veantur musste schon bald einen seiner Matrosen losschicken, um Nachschub vom Schiff zu holen.
"Ha ha! Ich hätte mir keinen besseren Ausgang für diesen Tag vorstellen können," lachte der Kapitän, der wie alle in Hochstimmung war. Sogar Edrahil hatte ein zufriedenes Lächeln im Gesicht.
"Nun, im Rahmen der Möglichkeiten haben wir uns wohl tatsächlich ganz gut geschlagen," sagte der Herr der Spione und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Edrahil," sagte Lothíriel streng. "Wenn wir das nächste Mal aus einer im Chaos versinkenden Stadt fliehen, bleibst du gefälligst an meiner Seite, und rennst nicht einfach davon, um den Helden zu spielen."
"Wie Ihr befehlt, Prinzessin," gab Edrahil zurück und deutete eine Verbeugung an.
Bayyin, der neben Valirë saß und immer wieder verstohlene Blicke auf sie warf, hatte während all dem Trubel tatsächlich eines der alten Bücher aus Hasaels Bibliothek vor sich aufgeschlagen. Valirë beugte sich neugierig über seine Schulter und las laut die Stelle vor, an der Bayyins Finger im Text gerade verharrte: "Die Geschichte von Fíriel Aeriell, dem Mädchen aus den Wellen. Schreiber, gibt es nicht etwas spannenderes, das wir zur Feier des Tages tun könnten?"
"Ich... nun ja..." war alles, was Bayyin herausbrachte, ehe Valirë ihn am Arm gepackt und in Richtung eines der kleineren Häuser davonzerrte.
Edrahil seufzte hörbar. "Unverbesserlich."
Valion hingegen konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. "Na kommt schon, Edrahil. Jeder hat seine Art um mit Erlebnissen wie diesen umzugehen."
"Bayyin hat Besseres zu tun als sich von deiner unmöglichen Schwester den Kopf verdrehen zu lassen," gab Edrahil zurück. "Er sagte, dass er eine wichtige Entdeckung gemacht hat. Ich wüsste gerne, worum es sich dabei handelt."
"Das hat doch noch ein wenig Zeit, oder nicht?" fragte Valion.
"Nun... ich schätze, ich kann ein paar Minuten länger warten," antwortete Edrahil ohne eine Miene zu verziehen.
"Hat er gerade..." fragte Valion seine Verlobte, da er nicht recht glauben konnte, dass Edrahil gerade einen Witz gemacht hatte - und schon gar nicht, diese Art von Witz.
"Hat er," bestätigte Lóminîth lachend.

"Wirst du den Turm wieder weiß färben?" fragte Túor seinen Vater, der den Blick auf das ferne Bauwerk gerichtet hatte und nachdenklich dreinblickte.
"Es würde eine deutliche Nachricht senden," sagte Minûlîth, die Thorongils Hand ergriffen hatte. "Die Turmherren sind immer noch hier, und sie kämpfen weiter."
"Als erstes muss ich Ciryatans Schiff finden," antwortete Thorongil. "Vorher ist nicht an einen Wiederaufbau zu denken. Noch sind es zu wenige Dúnedain, die wieder Fuß auf die Insel setzen."
"Wenn wir nach Dol Amroth zurückgekehrt sind, werde ich meinen Vater bitten, euch Unterstützung zu senden," versprach Lothíriel. "Wir fahren doch bald, nicht wahr?" fragte sie in Valions und Edrahils Gruppe.
"So bald wie möglich," bestätigte der Herr der Spione.
"Aber nicht heute," fügte Valion hinzu. "Heute genießen wir die wohlverdiente Pause."
"Wohlverdient,", schnaubte Edrahil, doch Valion sah ihm an, dass er nicht gerade unzufrieden mit dem Lauf der Dinge seit ihrer Flucht aus Umbar war.
Na immerhin, dachte er. Einige Dinge sind sind trotz des Rückschlages in der Hasael-Sache noch immer in Ordnung. Lóminîth ergriff seine Hand und begann, ihn zurück zum Schiff zu geleiten. Und einige sind... besser.

Eandril:
Edrahil blickte Valion und Lóminîth hinterher, und schüttelte den Kopf. "Du wirkst nicht allzu glücklich", meinte Minûlîth, die ihm gegenüber saß. "Diese Verlobung war immerhin deine Idee."
"Tatsache", gab Edrahil kurz zurück. Er wusste, er sollte glücklich darüber sein, dass dieser Teil seiner Pläne so perfekt funktioniert hatte, und dennoch... er vertraute Minûlîth, nicht ihrer Schwester. Minûlîths Worte über Lóminîth hatte er nicht vergessen, und wer konnte schon wissen, was sich hinter ihrem Lächeln verbarg? Es war unwahrscheinlich, dass Lóminîth sich als Verräterin herausstellen würde, doch falls es so war, war sein Plan ein wenig zu gut gelungen. "Ich hoffe nur, dass Valion weiß, was er tut. Ein Bastard zur unrechten Zeit hat schon vielen Häusern Probleme bereitet."
"Keine Sorge", erwiderte Minûlîth mit einem geheimnisvollen Lächeln. "Wir Frauen haben unsere... Methoden."
"Die nicht immer erfolgreich sind", warf Thorongil ein, der neben Minûlîth saß und ihre Hand in seiner hielt, und deutete mit der freien Hand auf Túor. Sein Sohn stand einige Meter entfernt von ihnen, und unterhielt sich angeregt mit Hallatan und Kapitän Veantur. "Túor ist der beste Beweis dafür." Über Minûlîths Wangen zog sich eine zarte Röte, als sie antwortete: "Nun, ihr habt recht. Aber trotzdem finde ich, dass wir ihnen die Gelegenheit lassen sollten."
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auf See die ein oder andere Gelegenheit gefunden haben...", meinte Edrahil, ohne eine Miene zu verziehen, und Lóthiriel warf ihm einen tadelnden Blick zu. "Das war nun schon der zweite vollkommen untypische Witz in kurzer Zeit, Edrahil. Was ist los?"
"Vielleicht habe ich endlich den Humor gefunden, den viele so schmerzlich an mir vermisst zu haben scheinen", antwortete Edrahil. Dann blickte er in die Gesichter der drei anderen, und beschloss für einen Moment, die Maske fallen zu lassen - auch vor sich selbst. "Nein, es ist wie Valion gesagt hat. Jeder hat seine Art um mit Erlebnissen wie diesen umzugehen. Und was ich gesagt habe? Im Rahmen der Möglichkeiten haben wir uns wohl tatsächlich ganz gut geschlagen Das war eine Lüge, zumindest was mich betrifft. Ich bin gescheitert, und das schon zum zweiten Mal."
"Gescheitert?", fragte Lóthiriel ungläubig. "Edrahil, ohne deine Hilfe wäre ich vermutlich noch immer in Hasaels oder sogar schon in Suladâns Händen, Bayyin hätte nie gefunden was... auch immer er gefunden hat, und vermutlich wären wir alle nicht hier."
"Und wir hätten vermutlich noch ewig damit gewartet das zu tun, was wir heute erreicht haben", ergänzte Thorongil, und strich mit dem Daumen zärtlich über Minûlîths Handrücken, doch es besänftigte Edrahil nicht.
"Aber das alles war nicht meine Aufgabe." Beim letzten Wort hieb er mit der Faust auf den Tisch, lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, sagte er: "Verzeihung. Was ich sagen will ist dies: Lóthiriels Rettung war nicht meine Aufgabe, sondern Valions. Das Aufspüren dieser geheimnisvollen Informationen war Bayyins Aufgabe, und bei beidem habe ich lediglich geholfen. Meine Aufgabe hingegen... war Hasaels Sturz, und danach sieht es im Augenblick nicht wirklich aus, nicht wahr?" Er hörte selbst, wie bitter seine letzten Worte klangen, doch er kam nicht gegen das nagende Gefühl, versagt zu haben, an.
"Vielleicht nicht", sagte Thorongil langsam. "Aber wenn die Gerüchte stimmen, bereitet sein Neffe Qúsay einen Krieg gegen Suladân und Hasael vor." Edrahil und Lóthiriel wechselten einen Blick, dann nickte die Prinzessin. "Die Gerüchte stimmen."
"Nun, in diesem Fall hat Hasaels Sturz, so kurzlebig er auch gewesen war, Qúsay Zeit und einen Vorteil verschafft. Das mag das Zünglein an der Wage sein, das Qúsay am Ende den Sieg bringt - und wenn man es so betrachtet, habt ihr damit auch für Hasaels endgültigen Fall gesorgt."
"Ihr habt eine interessante Art, die Welt zu sehen", erwiderte Edrahil nachdenklich, und strich sich über das Kinn. Lóthiriel lachte leise. "Seht, da ist der Herr der Spione wieder."
"Mag sein...", meinte Edrahil, weiter in Gedanken versunken. Wenn er Hasael von Innen heraus nicht stürzen konnte... vielleicht sollte er es auf eine neue Art probieren, von außerhalb.
"Du wirst nicht mit nach Dol Amroth kommen, oder?", fragte die Prinzessin, und Edrahil schüttelte langsam den Kopf. "Nein, ich werde einige Zeit hierbleiben - wenn ihr erlaubt." Er blickte Thorongil fragend an, und der Herr des Turmes lächelte und drückte Minûlîths Hand. "Wir würden uns sehr darüber freuen."
Edrahil warf einen Blick auf das Buch, das aufgeschlagen auf Bayyins verwaistem Platz zurückgeblieben war, und seine Augen blieben an dem Namen hängen, den Valirë vorhin vorgelesen hatte. "Fíriel Aeriell... merkwürdig."
"Gar nicht so sehr", erwiderte Thorongil. "In Harad gibt es die ein oder andere Legende über sie, aber hier kennen wir die wahre Geschichte."
"Hm... wenn ich mich recht erinnere hatte einer der Fürsten von Dol Amroth eine uneheliche Tochter mit diesem Namen, die auf See verschollen ist." Als Herr der Spione hatte Edrahil sich einst einen Überblick über sämtliche ehelichen und unehelichen Abkömmlinge der Fürsten verschafft, denn man konnte nie wissen. Dieser Fíriel hatte er allerdings keine große Beachtung geschenkt, sondern diese Linie unter "erloschen" eingeordnet. "Fürst Húrin, glaube ich", ergänzte Lóthiriel, und Thorongil meinte: "Sehr richtig - wie es aussieht, hat sie meinen Vorfahren die Wahrheit erzählt."
"Wollt ihr damit sagen, dass es sich um die selbe Fíriel handelt?", fragte Edrahil, und der Turmherr nickte. "Allerdings. Sie erlitt einst während eines Sturmes hier auf der Insel Schiffbruch. Der Erbe des Turms, Barahir, nahm sie auf, pflegte sie gesund, verliebte sich in sie und nahm sie schließlich zur Frau. Was euch, verehrte Lóthiriel, zu meiner - wenn auch entfernten - Verwandten macht."
"Ha", machte Lóthiriel ungläubig. "Verwandte findet man offenbar an den ungewöhnlichsten Orten."
"Und Freunde ebenfalls", ergänzte Edrahil, und wechselte einen nachdenklichen Blick mit Minûlîth.

~~~~
Etwa eine Stunde war vergangen, als Valirë und Bayyin zurückkehrten. Während Bayyin etwas beschämt wirkte, benahm Valirë sich als wäre nichts geschehen und fragte unbeschwert: "Sind Valion und Lóminîth noch nicht zurück?"
"Nein - und damit sollte klar sein, wer die größere Ausdauer hat", erwiderte Lóthiriel, und schlug sofort entsetzt die Hände vor den Mund. "Oh, bei allen Sternen. Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe."
"Mehr Ausdauer, hm?", fragte Valirë, und warf Bayyin, der sofort errötete, einen anzüglichen Blick zu. "Vielleicht sollten wir..."
"Nicht nötig", hielt Edrahil sie zurück. "Allzu viel haben die beiden euch nicht voraus." Er deutete in Richtung der Schiffe, aus der Valion und Lóminîth sich näherten. Lóminîths Haar war zerzaust und Valions Kleidung saß ein wenig schief, doch beide wirkten äußerst zufrieden mit sich selbst. Edrahil verdrehte die Augen, und bedeutete allen vieren, sich zu setzen.
"Also", begann er. "Nach dem gewisse Personen ihre Bedürfnisse... befriedigen konnten, ist es allmählich an der Zeit zu erfahren, was du, Bayyin, in Umbar gefunden hast."
Der Schreiber räusperte sich, und legte die Hände vor sich flach auf den Tisch. "Ich habe in Hasaels Bibliothek einen Reisebericht gefunden - gut versteckt und verschlüsselt, doch inzwischen ist es mir gelungen ihn zu lesen. Es ist ein Bericht über die Reisen Arandirs vom Turm."
"Vom Turm?" Thorongil beugte sich interessiert vor. "Allerdings. Wir vermuten, dass es sich dabei um den jüngeren Sohn von Elendar, dem Erbauer des ersten Turmes auf Tol Thelyn, also... hier... handelt."
"Ihr scheint euch gut in unserer Geschichte auszukennen", sagte Thorongil, doch Edrahil griff ein, bevor Bayyin ihm die Überraschung verderben konnte: "Später. Zuerst mehr von diesem Bericht."
"Nun, ja. Arandir beschreibt darin sehr detailliert einen Pass in der Südkette des Schattengebirges - einen Pass nach Mordor, den Sauron nicht kennt", berichtete Bayyin, was ungläubige Gesichter rings um den Tisch hervorrief.
"So etwas kann es nicht geben", meinte Minûlîth. "Der Dunkle Herrscher hat Jahrtausende über Mordor geherrscht, und wird dort jeden Winkel und jede Felsspalte kennen."
"Ich stimme Melíril zu", sagte Thorongil. "Daran ist nur schwer zu glauben."
"Das ist wahr." Edrahil blickte nachdenklich gen Himmel, bevor er Bayyin in die Augen sah. "Glaubst du, dass es wahr ist?", fragte er, und der Schreiber schien einen Augenblick nachzudenken. Dann antwortete er: "Ich weiß nicht, ob dieser Weg noch existiert, oder ob er den Dienern des Dunklen Turms noch immer verborgen ist... aber ja. Ich glaube, dass Arandir die Wahrheit geschrieben hat."
"Und selbst wenn... Was sollten wir damit anfangen?", warf Valirë ungehalten ein. "Es wird mit Sicherheit kein Weg sein, auf dem wir ein großes Heer nach Mordor schicken könnten - wenn wir denn eines hätten."
"Sehr richtig, wir haben keines. Und gerade deshalb wäre ein geheimer Weg in das Schwarze Land für uns von Nutzen", erwiderte Edrahil. "Wir könnten die Heer des Feindes ausspionieren, seine Nachschublinie durchbrechen..."
"Und wir könnten noch etwas tun", sagte Lóthiriel leise, doch in einem Tonfall der alle Anwesenden aufhorchen ließ. "In Mordor wird Aragorn gefangen gehalten, der König von Gondor. Mit seinem Leben erpresst Sauron einen Waffenstillstand vom freien Gondor, während er im Norden gegen andere Gegner kämpft."
"Nur um uns zu vernichten, wenn er sie besiegt hat", sagte Edrahil langsam. Allmählich begann vieles Sinn zu ergeben, und er begriff, welches Geschenk Bayyin ihnen gemacht haben könnte. "Und mit diesem Wissen könnten wir ihn befreien." Lóthiriels Augen glitzerten, und Edrahil hatte seine Prinzessin noch nie zuvor derart kämpferisch gesehen.
"Nur - wer sollte das tun?", fragte Thorongil. "Ich würde selbst gehen, aber... ich kann nicht." Sein Blick schweifte vom Turm über Minûlîth zu Túor, und Edrahil nickte. "Nein, ich verstehe. Aber es gibt jemand anderen, der eine ähnliche Ausbildung genossen hat wie ihr, und es tun könnte."
Er wechselte einen Blick mit Bayyin, der bestätigend nickte. "Ich denke, es ist an der Zeit euch zu verraten, dass ihr und Túor nicht die letzten Überlebenden, aus dem Haus der Turmherren seid", fuhr Edrahil fort.
"Nicht... die letzten?" Thorongil blinzelte mehrmals rasch hintereinander. "Sagt es mir, Edrahil. Wer hat überlebt?"
"Die Tochter eurer Schwester." Es war Bayyin, der antwortete. "Narissa. Ich entkam mit ihr gemeinsam von hier, als Suladâns Truppen angriffen, und gelangte schließlich mit ihr nach Umbar, wo wir Edrahil trafen. Sie ist mir... eine gute Freundin."  Er warf Valirë einen nervösen Seitenblick zu, und errötete erneut ein wenig.
"Narissa..." Thorongil sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umkippte. "Herlennas Tochter. Und sie lebt?"
"Allerdings", sagte Edrahil lächelnd. "Wenn alles gut gegangen ist, ist sie sogar in Sicherheit in Aín Sefra. Ich habe sie dorthin geschickt, um Qúsays Motive zu ergründen."
"Das ist die beste Nachricht, die ich gehört habe seit..." Thorongil sah Minûlîth an. "Nun, eigentlich seit vorhin." Er wandte sich wieder Edrahil zu, und sein Gesicht wurde wieder ernst. "Ihr würdet sie nach Mordor schicken? Mitten in das Land des Feindes."
"Ja", erwiderte Edrahil, und blickte dem Turmherren fest in die Augen. "Wenn es die einzige Möglichkeit ist und sie dazu bereit ist, würde ich es tun."

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

Zur normalen Ansicht wechseln