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Autor Thema: Tol Thelyn  (Gelesen 19178 mal)

Fine

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Rat der Thelynrim
« Antwort #15 am: 11. Feb 2017, 14:15 »
Am folgenden Morgen versammelte Narissas Onkel Thorongil, der Herr der Insel, seine Familie und wichtigsten Berater an dem großen ovalen Tisch, der in einem der größeren Räume des Turms stand und an dem sie zuvor alle gemeinsam gefrühstückt hatten. Die lange Seite des Raumes, die an die Runde Außenmauer des Turms grenzte, war von einem sehr breiten Fenster durchbrochen,  durch das sich ein guter Blick über das Meer und den Hafen von Tol Thelyn bot. Die schweren roten Vorhänge waren beiseite gezogen worden und warme Seeluft und Sonnenstrahlen drangen herein.

Aerien saß zwischen Narissa und Kapitän Hallatan, dessen Schiff neben den beiden anderen, größeren Booten fest vertäut war. Abgesehen von Thorongil selbst waren seine Frau Melíril, Meister Edrahil von Dol Amroth, sowie drei weitere Männer und zwei Frauen anwesend, aus denen Thorongils Rat sich heute zusammensetzte.
"Die Sicherheit und der Schutz der Insel müssen für den Moment oberste Priorität für uns haben," sagte Thorongil. "Mein Vater hat, wie Narissa mir berichtete, den Angriff Suladans früh kommen sehen, und nicht zuletzt dank seiner entsprechenden Vorbereitungen gelang es dem Großteil der Thelynrim, rechtzeitig zu fliehen. Wir müssen die Bewegungen unserer Feinde noch genauer überwachen als es damals der Fall war, und darauf vorbereitet sein, die Insel im Notfall erneut zu verlassen."
"Aber das hier ist unsere Heimat!" warf Narissa empört ein. "Willst du sie also einfach kampflos aufgeben und davonrennen, wie..." sie unterbrach sich als Aerien ihr vorsichtig die Hand auf den Unterarm legte.
"Ich bin nicht mehr wie früher," sagte Thorongil streng. "Aber einen Kampf zu bestreiten, den wir nicht gewinnen können, würde nur zu Tod und Verderben führen."
"Herr Thorongil hat recht," sagte Edrahil bedacht. "Gegen die geballte Macht eines haradischen Heeres kann die Weiße Insel nicht lange bestehen. Eure Hoffnung muss auf Heimlichkeit beruhen. Lasst den Hammerschlag niedergehen und euch (selbstverständlich organisiert und geplant) verstreuen, wie Wasser, das später wieder unversehrt zusammenfließt. Ich werde dafür sorgen, dass die Thelynrim in Gondor stets willkommen sein werden."
"Ich danke Euch, Meister Edrahil. Eure Worte sind weise. Und so werden wir es also halten: die gesamte Küste, die in Sichtweite der Insel liegt, soll scharf im Auge behalten werden, und die Häfen, die in den Händen unserer Feinde sind, sollen beobachtet werden. Auch wenn ich glaube und hoffe, dass Suladan und Hasaël von Umbar im Augenblick andere Probleme haben und sich nicht mit uns abgeben werden, ist es dennoch wichtig, zumindest auf die Möglichkeit eines erneuten Angriffes vorbereitet zu sein."
"Wenn Ihr erlaubt, Herr," nahm einer der Männer das Wort, die Aerien noch nicht kannte. Thorongil bedeutete ihm, weiterzusprechen, und er sagte: "Sollten wir nicht auch zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dem Malik, der in Ain Séfra gekrönt wurde, Unterstützung anzubieten? Es wäre durchaus in unserem Interesse, dass er den Krieg gegen Suladan gewinnt, und wenn Narissas Eindruck von ihm korrekt ist scheint Qúsay uns ebenfalls wohlgesonnen zu sein. Siegt er über Suladan, ist die unmittelbare Gefahr für die Insel vorbei."
"Ein guter Einwand, Ríador," sagte Thorongil. "Doch wir wissen, wer Suladan unterstützt: der Dunkle Herrscher von Mordor. Selbst wenn Suladan fällt bleibt die Gefahr, die im Schattenland droht, bestehen. Möge es niemals dazu kommen; aber wenn wir nicht vorsichtig sind wird sich dieser Schatten auch eines Tages bis an die weißen Strände von Tol Thelyn erstrecken."
"Dann sollten wir Arandirs Karte benutzen," warf Narissa entschlossen ein. "Mit Aeriens Wissen können wir dort ordentlichen Schaden anrichten und wichtige Gefangene befreien."
"Unter anderem den König von Gondor," ergänzte Aerien.
Das ließ Edrahil aufhorchen. "Dann ist es also bestätigt, dass Elessar am Leben ist, und in Mordor gefangen gehalten wird? In Dol Amroth zweifelte man zum Zeitpunkt meiner Abreise an der Wahrheit der Worte der Boten Saurons."
"Aerien hat ihn gesehen und mit ihm gesprochen," bestätigte Narissa, und Aerien nickte.
"Dann würde seine Befreiung Sauron sein größtes Druckmittel nehmen," überlegte Edrahil. "Gondor und Dol Amroth könnten wieder ungehindert militärisch gegen die von Mordor besetzten Gebiete vorgehen. Sollte eine Befreiung möglich sein, bin ich dafür, die Gelegenheit nicht ungenutzt zu lassen."
"Man kann doch nicht einfach nach Mordor spazieren," widersprach eine Aerien unbekannte Frau. "Wenn dieser geheime Weg tatsächlich existiert ist es nur schwer zu glauben, dass er noch immer unentdeckt ist."
"Wir können es nur sicher wissen wenn wir jemanden dorthin entsenden, Deireth," erwiderte Thorongil.
"Dann sollten wir genau das tun," antwortete Deireth. "Der Schreiber könnte eine Kopie der Karte anfertigen und dann könnte einer unserer besten Kundschafter nach dem Eingang zu diesem geheimen Weg nach Mordor suchen."
"Mein Sohn Hírilorn würde sich dafür eignen," meinte Hallatan. "Eine Aufgabe wie diese würde ihn unter anderem davon abhalten, hier auf der Insel auf dumme Gedanken zu kommen."
Die Anwesenden lachten herzlich - offenbar kannten sie alle den jungen Hírilorn bereits.
"Nun, seinen letzten Auftrag hat er tadellos ausgeführt, und er besitzt definitiv ein Talent dafür, sich ungesehen zu bewegen," sagte Ríador. "Ich stimme Hallatans Vorschlag zu."
Alle Augen wandten sich nun Thorongil zu, doch dieser blickte nachdenklich drein. "Darüber muss ich nachdenken," sagte er. "Es kann sein, dass wir bei diesem Weg nur einen einzigen Versuch haben."
Edrahil nickte zustimmend; offenbar war er derselben Meinung. "Für die nächsten Tage und Wochen sollten wir uns auf den Schutz der Insel und ihren Wiederaufbau konzentrieren. Wenn absehbar ist, in welche Richtung sich der Krieg in Harad entwickelt werden wir entscheiden, was diesbezüglich zu tun ist."
"Vergesst nicht die Verbündeten, die ihr habt oder haben könntet," sagte Edrahil. "Für die Unterstützung Dol Amroths und Gondor habe ich bereits gesorgt und werde mich auch in Zukunft darum kümmern. Und dann ist da noch der Silberne Bogen - Narissa, wenn mich nicht alles täuscht kannst du uns etwas mehr darüber sagen?"
Narissa nickte. "Aerien und ich sind mit dem Anführer der Gruppe befreundet, die als Silberner Bogen bekannt ist. Sie waren einst Teil der Assassinen, aber jetzt nicht mehr. Wir habe ihnen geholfen, ihre Burg gegen einen Angriff Salemes zu verteidigen, doch der Schattenfalke hat beschlossen, dass seine Gruppe ein neues Versteck braucht."
Erstauntes und aufgeregtes Raunen unterbrach sie. Offenbar war der Schattenfalke den meisten der Anwesenheit ein Begriff. "Seine Krieger verfügen über eine geradezu legendäre Ausbildung," sagte Deireth.
"Er wäre ein sehr mächtiger Verbündeter," meinte Ríador.
"Würde ein Bündnis denn nicht dazu führen, dass die Feinde des Silbernen Bogens auf die Insel kommen würden?" warf ein Mann ein, der bisher noch kaum etwas gesagt hatte.
"Das ist auch meine Befürchtung, Saivin," sagte Thorongil. "Dennoch denke ich, dass ich dem Schattenfalken und seinen Leute zumindest für einige Zeit auf Tol Thelyn Zuflucht gewähren würde, wenn sie hierher kämen. Durch die Silberbögen würde sich die Anzahl unserer Krieger und Spione auf einen Schlag verdoppeln."
"Dann sollten wir den versteckten Wachposten am Festland Bescheid geben," sagte Hallatan.
Die Ratssitzung zog sich noch ungefähr eine halbe Stunde hin, in der vor allem über Umbar gesprochen wurde und wie man es überwachen und Hasaël schaden könnte. Schließlich wurde beschlossen, dass drei von Thorongils besten Leuten in die Stadt geschickt werden sollten, um die Stadtwache zu infiltrieren. Nach dieser Entscheidung war die Besprechung zu Ende, und die Ratsmitglieder verließen den Raum, um sich ihren Aufgaben zuzuwenden.

Aerien und Narissa beschlossen, im Obstgarten zu picknicken und wurden von Laedris und mehreren ihrer Freundinnen begleitet, die Narissa von früher kannten. Zwar hatten sie zu Beginn noch einige wenige Vorbehalte Aerien gegenüber, doch es dauerte nicht lange bis es niemanden mehr zu stören schien, dass sie aus Mordor kam, und eine fröhliche Runde voller Austausch, guten Gesprächen und viel Gekicher entstand.
Im Anschluss daran machte Narissa ihr Versprechen wahr, das sie dem kleinen Túor gegeben hatte, und zeigte ihm, wie man mit dem Dolch umging. Aerien sah eine Weile zu, doch irgendwann verlor sie das Interesse. Sie erhob sich und sagte zu Narissa, dass sie sich etwas die Beine vertreten wollte, bis ihre Freundin mit ihrem Neffen fertig geworden war. Aerien umrundete den Turm und folgte der kleinen Straße zurück zum Hafen, eine Strecke, für die man ungefähr zwanzig Minuten brauchte. Als sie ungefähr auf halbem Weg ein kleines Wäldchen durchquerte, fiel ihr auf, dass der Boden an einer Stelle neben der Straße geschwärzt war; offensichtlich hatte hier jemand ein kleines Feuer gelegt, das nach kurzer Zeit von selbst wieder ausgegangen war. Aerien wunderte sich und sah sich die Stelle genauer an. Irgendetwas kam ihr daran bekannt vor, und als sie sich hinkniete, fiel ihr ein, was es war: während Ihrer Kampf- und Überlebensausbildung in Durthang hatte der Waffenmeister ihr beigebracht, mit kleinen, wenig rauchenden Feuern den Waldboden freizumachen, um dort etwas zu verstecken. Durch die Asche wurde dafür gesorgt, dass an der verbrannten Stelle schneller wieder etwas wuchs und das Versteck verbarg. Mit wachsender Sorge schob Aerien die aufgewühlte Erde vorsichtig beiseite und zog einen kleinen metallischen Gegenstand aus dem Boden... einen ihr nur allzu gut bekannten agân-Wurfstern. Sie wusste, was dieser Fund bedeuten musste...
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 15:56 von Fine »
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Der schwerste Weg
« Antwort #16 am: 13. Feb 2017, 19:57 »
Das kann nur eines bedeuten.

Aerien spannte sich an und tastete nach ihrem Schwert, um kampfbereit aufzuspringen, doch es war zu spät. Eine schlanke Klinge legte sich an ihren Hals. Das Metall fühlte sich kalt auf Aeriens Haut an und übte gerade genug Druck aus, um einen einzelnen Blutstropfen hervortreten zu lassen. Aerien war erstarrt und hoffte innerlich, dass sich das alles nur als Missverständnis herausstellen und die Klinge einem der Thelynrim gehörte. Doch sie wusste, dass diese Hoffnung trügerisch war. Sie wusste, wer hinter ihr stand. Es konnte niemand anderes sein als...
"Hallo, Azruphel," wisperte Karnuzîrs Stimme unangenehm nah an Aeriens linkem Ohr. "Du hast es mir ja wirklich einfach gemacht, dich zu finden. Fast schon zu einfach. Ich muss schon sagen; ich hätte mehr von dir erwartet. Deine Spur führte auf geradem Weg zur Insel der Turmherren... gerade in dem Moment wo Gerüchte über die Rückkehr der Dúnedain der Weißen Insel auftauchten. Wirklich vorhersehbar."
Aerien wagte nicht zu antworten. Wenn ihr Vetter hier war, musste das bedeuten, dass die versteckten Wachposten am Ufer tot oder abgelenkt waren. Sie fragte sich, ob er alleine war, als sich seine Hand unter ihre Schulter schob und Aerien anhob und auf die Beine stellte, ohne dass Karnuzîr den Dolch von ihrem Hals nahm.
"Vorwärts," befahl er und stieß sie in Richtung der dichter werdenden Bäume südlich der Straße. "Es wird Zeit, meinen Freunden meine zukünftige Frau vorzustellen."
Aerien setzte einen Fuß vor den anderen und unterdrückte den Würgereiz, der ihren Hals hinauf kroch. Sie hatte eine ziemlich gute Vorstellung von dem Leben, das sie als Karnuzîrs Frau erwarten würde. Um Liebe würde es dabei niemals gehen. Sie wusste, dass sie sich momentan keine falsche Bewegung leisten konnte. Karnuzîr wollte sie zwar eigentlich unversehrt nach Mordor zurückbringen, aber Aerien wusste, dass er dennoch nicht zögern würde, sie zu töten wenn sie es wagen würde, Widerstand zu leisten.

Sie kamen auf eine kleine Lichtung, auf der sie von drei Gestalten erwartet wurden: einem Mann, einer Frau, und einer dritten Person, die gefesselt war und einen Sack über dem Kopf hatte, sodass Aerien nicht erkennen konnte, um wen es sich dabei handelte. Die anderen beiden kamen ihr erst bekannt vor, als diese Karnuzîrs Anlkunft bemerkten. An ihren Stimmen erkannte Aerien die beiden geheimnisvollen Personen wieder, die sie in Qafsah belauscht hatte, kurz bevor sie den Ringgeist getroffen hatte.
"Sieht so aus als schuldest du mir drei Rationen, Rae," sagte der Mann selbstzufrieden. Er trug eine feste, rötliche Lederrüstung mit großen eisernen Schulterschützern. Sein Haar und Bart waren schwarz, lang und lockig. Als er aufstand sah Aerien, dass er mit zwei gezackten Schwertern bewaffnet war, die links und rechts an seinem Gürtel hingen.
"Die Kleine ist ihm also wirklich in die Falle gegangen," meinte die Frau, die offenbar Rae hieß. "Also gut, Breyyad, du hattest Recht." Sie trug ein Kettenhemd, das teilweise von dem langen blauen Halstuch verdeckt war, das um ihren Oberkörper geschlungen war. Ihre Haare waren schulterlang, hellbraun, und wurden von einem gestreiften Stirnband im Zaum gehalten. Ihre Augen waren dunkel.
Breyyad - der schwarzhaarige Mann - lachte und baute sich vor Aerien auf, die noch immer von Karnuzîrs Dolch in Schach gehalten wurde. "Hm," macht er und stupste sie mit seiner schweren Hand unsanft gegen die Brust. "Etwas zu dürr für meinen Geschmack, aber dass Gesicht ist ein echter Hingucker. Aber sowas kriegt man gegen genügend Bezahlung eigentlich in jeder größeren Stadt, Karnuzîr. Ich kann den Aufwand nicht so recht nachvollziehen."
"Wenn du dich an die Anweisungen des Sultans erinnern würdest, du riesiger Idiot, dann wüsstest du, dass wir nicht nur wegen dem Mädchen hier sind," zischte Rae. "Die Gerüchte sind wahr: diese lästigen Turmherren und ihr Volk haben überlebt und sind zurückgekehrt. Zu schade, dass Suladan momentan keine Zeit hat, um der Insel einen ordentlichen Besuch abzustatten..."
"Also gut," brummte Breyyad. "Dann lasst uns die Kleine verschnüren und einpacken, und dann nichts wie weg hier. Ich mag das Meer sowieso nicht - mochte es noch nie. In dieser Gegend gibt's auch so schon zu wenig Wasser, da muss es doch nicht auch noch versalzen sein."
"Ich hatte dich vorm Trinken gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören," warf Rae ein.
"Genug davon," unterbrach Karnuzîr. "Wir sind hier noch nicht fertig. Azruphel hat noch eine Aufgabe zu erfüllen."
Als Aerien das hörte, stieg ein schrecklicher Verdacht in ihr auf. Und dieser wurde beinahe augenblicklich bestätigt als ihr Vetter seinen Gefährten ein Zeichen gab, und Breyyad den Sack von Kopf der zweiten Gefangenen zog. Darunter kam Serelloth hervor, geknebelt, und mit einer Mischung aus Wut und Furcht in den Augen.
"Jetzt hör mir ganz genau zu, wenn du nicht willst, dass deiner kleinen Freundin etwas zustößt," raunte Karnuzîr Aerien ins Ohr. Seine Stimme hatte einen zutiefst bösen Klang angenommen. "Du wirst folgendes tun..."

Es waren die schwersten Schritte, die Aerien in ihrem gesamten bisherigen Leben getan hatte. Sie dachte an Serelloth und zwang sich dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen, obwohl sich jede Faser ihres Körpers dagegen sträubte. Die Straße zum Turn zurück kam ihr kurz vor - viel zu kurz. Und schon stand sie vor dem Eingang, schwer atmend, und kurz davor, sich schreiend auf den Boden zu werfen. Doch Karnuzîrs Anweisungen waren eindeutig gewesen. Unter Aufbietung ihres gesamten Willens betrat Aerien den Turm und zwang sich die Stufen hinauf, bis zu Narissas Zimmer. Sie begegnete weder Minûlîth noch Thorongil, die sie vielleicht aufgehalten hätten, und auch die Tür zu Edrahils Raum war verschlossen. Und so stand sie schließlich im offenen Durchgang und sagte zu Narissa: "Es gibt da etwas, das ich dir zeigen muss..."
Jeder Teil von ihr schrie danach, ihrer Freundin zu offenbaren, was gerade geschah, doch Karnuzîrs Drohung, Serelloth unvorstellbare Dinge anzutun hielt Aerien davon ab und brachte sie dazu, die Fassade gerade so aufrecht zu erhalten, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte.
"Was möchtest du mir zeigen?" fragte Narissa neugierig, kam zu ihr herüber und hauchte Aerien einen Kuss auf die Wange, was die Sache für sie umso unerträglicher machte. "Was ist mir dir? Stimmt etwas nicht?" fragte Narissa, ehe Aerien antwortete.
"Nein, alles in Ordnung," log sie mit blutendem Herzen und ergriff Narissas Hand. "Komm! Es ist nicht weit. Du wirst es sehen wenn wir dort sind."
"Eine Überraschung also," antwortete Narissa. "Also gut. Dann geh' voran!"

Aerien blieb still, während sie Narissa zu der Stelle führte, die Karnuzîr ihr beschrieben hatte. Und wie angewiesen hatte Aerien dafür gesorgt, dass ihre Freundin unbewaffnet war. Ihr eigenes Schwert hatte sie ebenfalls im Turm gelassen. Und so lief Narissa, wie Aerien vor ihr, ahnungslos in die Falle. Auf der kleinen Lichtung standen Karnuzîr und Breyyad, die die gefesselte Serelloth zwischen sich hatten und sie am Boden hielten.
"Was -" setzte Narissa zutiefst erschrocken hervor, riss die Augen auf und fuhr mit zur Abwehr erhobenen Händen herum, doch selbst für ihre schnellen Reflexe war sie diesmal zu langsam. Rae tauchte hinter ihr auf und trat ihr die Beine weg, sodass Narissa keuchend in die Knie brach. Zwei Dolche zeigten auf ihre Kehle.
Narissas Blick fiel auf Aerien, die tatenlos daneben stand. Als Aerien sah, wie sich Narissas Gesichtsausdruck von Überraschung zu Entsetzen und dann zu Wut änderte schüttelte sie heftig den Kopf, wagte aber nicht, etwas zu sagen.
"Willkommen, Turmerbin," sagte Karnuzîr hämisch. "So sieht man sich wieder."
"Du hättest tot bleiben sollen," zischte Narissa und spuckte aus. "Aerien hat dich..."
"Sie hat nichts dergleichen getan," erwiderte Karnuzîr mit einem bösen Lächeln. "Und ihr Name ist auch nicht... ich werde diese schmutzige Elbensprache nicht in den Mund nehmen. Sie ist Azruphel von Aglarêth, eine treue Dienerin Mordors. Und sie hat dich wirklich meisterhaft getäuscht. Einzigartig. Meinen Glückwunsch, Azruphel!"
"Nein, nein, du lügst! Aerien ist meine Freundin! Sie gehört nicht länger zu Mordor,!" schrie Narissa.
"Sie hat nie aufgehört, dem Großen Gebieter zu dienen," sagte Karnuzîr. "Hast du wirklich gedacht, sie würde ihr Volk einfach so verraten? Dachtest du, sie würde tatsächlich etwas für dich empfinden? Wie naiv! Wie tragisch!"
"Sag, dass das nicht wahr ist, Aerien!" rief Narissa, der inzwischen die Tränen über die Wangen strömten. "Sag, dass er lügt!"
Aerien wollte der Aufforderung nachkommen, doch sie wusste, dass sie es nicht tun konnte, ohne Serelloths Leben zu gefährden. Auch wenn es ihr das Herz brach: sie hatte sich innerlich damit abgefunden, ihre Freiheit und ihre Liebe im Austausch dafür zu opfern, dass Serelloth - und Narissa - unversehrt blieben. Also schüttelte sie nur stumm den Kopf und umklammerte das Medaillon Míriels, den Stern von Akallabêth, so fest, dass ihre Hand zu schmerzen begann.
"Nein... das ist eine Lüge," stieß Narissa hervor und sank tiefer auf die Knie. "Es ist nicht wahr!"
"Sieh es ein - du bist getäuscht worden," fuhr Karnuzîr unbarmherzig fort. "Dank Azruphels meisterlicher Infiltration wissen wir nun, dass die Überreste des Silbernen Bogens hierher unterwegs sind und dass die Verantwortlichen für Hasaels Sturz hier auf der Insel sind, die schon bald wieder ein Teil von Suladans Reich sein wird. Dank dir, Turmerbin!" Er stieß Serelloth grob zu Boden und das Mädchen gab einen erstickten Laut von sich. "So unterhaltsam das nun auch war; es wird Zeit, zu gehen." Er zog einen seiner Wurfsterne hervor und schleuderte ihn in Serelloths Richtung. Aerien riss entsetzt die Augen auf als sie sah, dass sich der agân tief in ihre Brust gebohrt hatte und Blut aus dem Schnitt hervorquoll.
"Du solltest besser nach deiner Freundin sehen, ehe sie stirbt," höhnte Karnuzîr. "Viel Zeit bleibt ihr nämlich nicht mehr! Und wir werden in der Zwischenzeit verschwunden sein. Auf dass unser nächstes Treffen ebenso erfreulich sei!"
Er stapfte durch den Wald davon, und Rae und Breyyad folgten ihm. Aerien warf einen letzten Blick auf Narissa, die an Serelloths Seite geeilt war und versuchte, die Blutung zu stoppen. Dann folgte sie ihrem Vetter, und als Narissa ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte, ließ Aerien den Tränen freien Lauf.


Aerien mit Karnuzîrs Gruppe zur Mehu-Wüste
« Letzte Änderung: 4. Mai 2017, 13:36 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #17 am: 13. Feb 2017, 20:07 »
Narissa kniete neben Serelloth, deren Bewusstsein bereits zu schwinden schien, und betrachtete verzweifelt die Verletzung, die Karnuzîr dem Mädchen zugefügt hatte. Der Wurfstern war ein winziges Stück rechts des Brustbeines tief eingedrungen, genau zwischen zwei Rippen hindurch und steckte noch immer tief im Fleisch. Narissa zog leicht an dem kalten Metall, doch der Stern besaß Widerhaken und rührte sich nicht. Stattdessen stöhnte Serelloth dumpf vor Schmerzen auf, und aus der Wunde trat ein Schwall Blut aus und mischte sich mit Narissas Tränen, die die ganze Zeit über auf den Oberkörper des Mädchens tropften.
"Was mache ich nur?", flüsterte Narissa vor sich hin, und sah sich verzweifelt auf der kleinen Lichtung um. Sie verdrängte jeden Gedanken an Aerien - Azruphel - aus ihrem Geist, denn sonst wäre sie hier und jetzt zusammengebrochen. Für den Moment zählte nur Serelloth.
Der Atem des Mädchens ging schnell und flach, doch ansonsten normal und es war kein Blut an ihrem Mund zu sehen - also war die Lunge vermutlich durch ein Wunder (oder Karnuzîrs Wurfkünste) unverletzt geblieben. Narissa ordnete mühsam ihre Gedanken. Wenn die Lunge unverletzt geblieben war, ging die größte Gefahr von der Blutung aus, die die Wunde verursachte. Also riss sie ohne zu zögern ein breites Stück Stoff vom Saum ihres Kleides ab, legte es rund um den Wurfstern herum auf die Wundränder, und drückte vorsichtig leicht darauf, um die Blutung zu stoppen. Serelloth erzitterte leicht, und lag dann wieder still, das Gesicht bleich wie der Tod und die Augen geschlossen.
"Du darfst nicht sterben, hörst du?", flüsterte Narissa. Sie wagte es nicht, um Hilfe zu rufen, denn vielleicht war auch das hier nur eine weitere Falle, um mehr ihrer Freunde in den Tod zu locken. "Es sind nur noch wir beide übrig, und selbst wenn du mich hasst, will ich nicht, dass du stirbst." Weitere Tränen tropften auf Serelloths blutgetränkte Kleidung. ´
In ihrem Kopf jagten die Gedanken umher wie kleine Fische, gefangen in einem Netz. Wie war Serelloth überhaupt in Karnuzîrs Hände gelangt? Was war mit Níthrar geschehen, der sie doch begleitet hatte, hatte sie diesen Freund auch verloren? Azruphel musste Karnuzîr verraten haben, in welche Richtung Níthrar und Serelloth aufgebrochen waren - wie genau, spielte keine Rolle. Und dann... arbeitete Saleme mit Karnuzîr zusammen? Hatte Azruphel - Narissa weigerte sich, von ihre als Aerien zu denken - ihr die Position der Burg des Silbernen Bogens verraten?
"So viel Verrat..."

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als aus Richtung der Straße drei Männer zwischen den Bäumen hervorkamen. Es waren Edrahil, auf seinen Stock gestützt, keuchend und mit Schweißperlen auf der Stirn, ihr Onkel Thorongil, der beinahe so grau im Gesicht war wie Serelloth, und Hírilorn, dem der Schock ebenfalls deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
"Was... ist hier passiert?", stieß Edrahil scharf hervor, während Thorongil neben Serelloth auf die Knie ging, Narissas Hände sanft von der Wunde zog und de Stoff selbst darauf drückte. Über die Schulter sagte er rasch zu Hírilorn: "Hol jemanden, der ihr helfen kann - sofort." Ohne ein Wort verschwand Hallatans Sohn zwischen den Bäumen, und Thorongil wandte sich wieder Narissa zu, die sich nicht gerührt hatte und auf ihre blutigen Hände starrte.
"Wer ist sie?", fragte er, und deutete mit einem Nicken auf Serelloth. "Und wer hat das getan?"
"Se-Serelloth", sagte Narissa mit schwankender, brüchiger Stimme. Sie hatte beiden Männern erzählt, wer Serelloth war, deshalb erklärte sie nicht weiter, sondern fuhr langsam und mühsam fort: "Und das war... Karnuzîr. Er hat... Er hat sie verwundet, damit... damit er entkommen konnte, mit, mit, mit... Azruphel." Ihre Stimme war immer leiser geworden, sodass sie am Ende nur noch ein Flüstern war und schließlich brach.
"Azruphel...", sagte Edrahil langsam, und blickte aus dunklen Augen auf sie hinunter. "Das heißt also..."
"Sie hat mich verraten!", stieß Narissa hervor, kam unbeholfen auf die Füße und taumelte einen Stück zurück. Es auszusprechen war beinahe so schlimm wie es mit anzusehen, zu sehen wie ihre Freundin neben Karnuzîr stand und mit keiner Miene erkennen ließ, dass es Lügen waren, was er sagte. Es auszusprechen bedeutete, es zur Wahrheit zu machen, und das riss Narissas Herz beinahe entzwei.
In Edrahils Augen las sie etwas, was sie dort nicht erwartet hatte, zu sehen: Mitleid, und Bedauern. Doch der Spion äußerte diese Gefühle nicht, sondern sagte leise: "Wir haben ein Warnsignal vom Festland erhalten, dass sich Feinde in der Gegend befinden. Wir waren gerade auf dem Weg zum Hafen, als ich eine kleine geschwärzte Stelle neben der Straße entdeckte, von der Spuren tiefer in den Wald führten - hierher. Du musst mir erzählen, was geschehen ist."
Thorongil, der noch immer auf Serelloths Wunde drückte, blickte zu Edrahil auf und sagte: "Jetzt ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, um..."
Narissa schüttelte den Kopf, und unterbrach ihn. Ihre Tränen waren versiegt, ausgetrocknet, und nur langsam begriff sie die Tragweite des Geschehenen. "Sie hat... mich hierher gelockt", begann sie stockend. "Karnuzîr war hier, und sagte, dass sie immer für ihn gearbeitet hätte, und dass sie nun wüssten... dass der Silberne Bogen hier Zuflucht sucht... dass die Turmherren wieder hier seid... dass ihr aus Umbar hierher geflohen seid... und dass Suladân uns wieder angreifen würde. Nur weil ich so dumm war, und geglaubt habe, sie wäre meine Freundin!" Den letzten Teil schrie sie beinahe, trat gegen einen kleinen Stein der zwischen den Bäumen davon flog, und spürte, wie ihr erneut Tränen über das Gesicht zu strömen begannen. Serelloth zuckte in ihrer Ohnmacht unruhig, und Edrahil betrachtete Narissa aus beinahe schwarz erscheinenden Augen, die jetzt keine Emotion mehr zeigten.
"Vielleicht hast du dich tatsächlich in ihr getäuscht", sagte er ruhig. "Doch vielleicht... es braucht viel, um mich zu täuschen. Und ich habe Aerien geglaubt."
"Niemand ist unfehlbar", gab Narissa bitter zurück. "Vielleicht seid ihr auch nur ein alter Mann, dessen Urteilsvermögen nachlässt."
Edrahil zuckte unmerklich zusammen, ließ sich aber nichts anmerken als er erwiderte: "Mag sein. Dennoch denke ich wird es interessant sein, zu hören was die junge Serelloth zu sagen hat, wenn sie überlebt..."

Zwei Stunden später kniete Narissa auf ihrem Bett, dass sie vor das Fenster gezogen hatte, und blickte auf das Meer hinaus. Das Wetter war noch schöner als an den vergangenen Tagen, die Sonne strahlte vom wolkenlosen, hellblauen Himmel und glitzerte auf dem Wasser des Meeres, und ein leichter Wind von Westen sorgte dafür, dass es nicht unangenehm heiß war - ein krasser Gegensatz zu dem, wie Narissa sich fühlte.
War alles nur ein Schauspiel gewesen, eine Lüge... wirklich alles? Und war es wirklich nötig gewesen, ihr Liebe vorzugaukeln - oder nur ein grausames Schauspiel, um ein wenig Spaß zu haben? Hatte Azruphel daher gewusst, sie in Ain Salah zu suchen? Aber warum hatte der Nazgûl dann versucht, sie mitzunehmen... nichts ergab mehr Sinn.
Als sie mit der verwundeten Serelloth in den Turm zurückgekehrt waren, hatte Narissa mit niemandem gesprochen - sie war sofort in ihr Zimmer geflüchtet, und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Der Raum duftete noch immer nach ihr und hier zu sein war eine langsame, schmerzhafte Qual - und dennoch wollte Narissa nirgendwo anders sein. Sie hatte gehört, wie sich Thorongil und Edrahil vor der Tür leise berieten - offenbar hatten Karnuzîr und seine Schergen Yinsen und Langlas überrascht und überwältigen können. Yinsen war tot, doch Langlas hatten sie nur für tot gehalten und so war es ihm gelungen, später das Warnsignal zu geben.
Jetzt klopfte es leise an Narissas Tür, und sie hörte Minûlîth fragen: "Narissa?" Narissa antwortete nicht, und rührte sich auch nicht vom Fleck sondern starrte weiter auf das Meer hinaus. Sie wollte mit niemandem reden. Sie wollte nicht denken, nicht fühlen... nicht existieren. Vorhin, auf der Lichtung, hatte sie kurz geglaubt, Azruphel zu hassen. Doch das Gefühl war vorübergegangen, und zurückgeblieben war nur eine gewaltige Leere in ihrem Inneren.
"Ich weiß, dass du allein sein möchtest...", fuhr Minûlîth auf der anderen Seite der Tür fort. "Aber... Serelloth ist aufgewacht, und sie will mit dir reden."
Bei diesen Worten zuckte Narissa zusammen, sprang ruckartig vom Bett auf und eilte zur Tür. Als sie diese entriegelte und aufriss, stand Minûlîth ihr direkt gegenüber, und lächelte traurig.
"Sie ist unten im Erdgeschoss", sagte sie. "Aber wenn du möchtest..."
Weiter kam sie nicht, denn Narissa fiel ihr in die Arme und ließ den Tränen ein weiteres Mal freien Lauf - obwohl sie eigentlich gedacht hatte, keine einzige Träne mehr in sich zu haben. Minûlîth strich ihr sanft über den Rücken, doch sie sagte nichts, und das war gut so. Narissa brauchte niemanden zum Reden, denn sie hatte nichts zu sagen, nur jemanden, der für sie da war.
Schließlich löste sie sich aus der Umarmung, trocknete sich mit einem Ärmel ihres Kleides das Gesicht ab, und rang sich etwas ähnliches wie ein Lächeln ab. "Ich bin bereit."

Serelloth lag in einem Bett, einen dicken Verband quer über der Brust und im Gesicht beinahe so weiß wie die Laken unter ihr. Dennoch, ihre Augen waren offen, und suchten sofort Narissas Gesicht. Hinter Narissa betraten Edrahil und ihr Onkel das Zimmer, und sie schickte sie nicht fort. Die beiden mussten ohnehin erfahren, was Serelloth zu sagen hatte, und das Mädchen schien es nicht zu stören. Als Narissa sich neben dem Bett auf einem Hocker niederließ, tastete Serelloth nach ihrer Hand und ergriff sie. Zu Narissas Erleichterung war sie nicht länger eiskalt, sondern warm.
"Ich scheine euch nur Schwierigkeiten zu machen", flüsterte das Mädchen, und trotz allem spürte Narissa ihre Mundwinkel zucken.
"Ich hoffe, du bist nicht wütend auf mich, weil ich weggelaufen bin?"
Narissa schüttelte langsam den Kopf. Was geschehen war, wäre ohnehin irgendwann geschehen, und Karnuzîr hätte einen anderen Weg gefunden, sie von der Verfolgung abzuhalten.
"Gut", stieß Serelloth mühevoll hervor. "Ich hasse dich nämlich gar nicht. Elendar ist ebenso wie ich freiwillig mitgekommen, und wusste um die Gefahr - Aerien hatte recht."
"Das ist nicht ihr Name", erwiderte Narissa langsam und mit zusammengepressten Kiefern. "Sie heißt Azruphel von Aglarêth, und ist eine treue Dienerin Mordors."
Der Schrecken in Serelloths Augen überraschte sie. "Nein, du... irrst dich", erwiderte Serelloth, und hustete angestrengt. "Sie wollte nur mich... mich..."
Ihre Augenlieder flatterten, und Narissa erkannte, dass das Bewusstsein sie wieder zu verlassen begann. Mit letzter Kraft sagte das Mädchen: "Sie wollte mich... beschützen." Dann fiel ihr Kopf zurück in das Kissen, und ihre Augen schlossen sich in erneuter Bewusstlosigkeit.
Als sie das Zimmer verlassen hatten, sagte Edrahil: "Nun, dass deckte sich mit meinem Eindruck. Vielleicht solltest du..." Narissa wartete nicht ab, was er zu sagen hatte, sondern eilte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ihr Herz klopfte wie wild, und in ihrem Kopf kämpften Unglauben und Hoffnung miteinander. Sie wollte glauben, dass es stimmte, dass sie nicht verraten worden war, dass Ae... Azruphel tatsächlich nur Serelloths Leben retten hatte wollen. Sie wollte es so sehr glauben wie sie nie zuvor etwas gewollt hatte, doch sie konnte es nicht. Erst wenn sie ihrer Freundin in die Augen gesehen hatte und die Wahrheit gehört hatte, würde sie ihr glauben... oder sie töten.
In ihrem Zimmer angekommen riss sie sich das Kleid herunter, und schlüpfte in ihre übliche Reisekleidung: Ein lockeres Hemd aus weißem Stoff, dass genug Platz zum Bewegen ließ, eine Hose aus weichem, hellbraunem Leder und Stiefel, die kurz unter dem Knie endeten. Dann, mit zwei Wurfmessern auf dem Rücken und ihren Dolchen - Ciryatans Dolch und das verbliebene Geschenk König Músabs - an beiden Seiten, eilte sie wieder die Treppe hinunter.
Unten stand Edrahil noch immer vor Serelloths Zimmer, und wirkte kein bisschen begeistert. Der Grund wurde Narissa klar, als ihr Onkel kurz nach ihr die Treppe hinunter kam, ebenfalls in etwas abgetragene Reisekleidung gehüllt, an der rechten Seite ein Schwert und an der linken einen Dolch.
Als er Narissa erblickte, nickte er grimmig. "Ich wusste, dass du gehen würdest", sagte er, und blickte Edrahil an: "Herr des Turmes oder nicht, ich werde jemanden, der meiner Nichte so etwas antut, nicht ungestraft davonkommen lassen."
Der alte Spion seufzte und nickte dann langsam. "Ich schätze, ich könnte euch ohnehin nicht davon abhalten. Aber ihr solltet euch wenigstens von eurer Frau verabschieden..."
Ein seltsames Jagdfieber hatte Narissa erfasst, und den Schmerz über die Geschehnisse in eine tiefe Ecke ihres Geistes verdrängt - er war noch immer spürbar, in jeder Faser ihres Körpers, doch er beherrschte sie nicht mehr. Sie würde Karnuzîr und seine Schergen finden, und sie töten. Und dann würde sie die Wahrheit über Azruphel von Aglarêth herausfinden.

Narissa und Thorongil zur Mehu-Wüste...
« Letzte Änderung: 21. Feb 2017, 09:58 von Fine »

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #18 am: 12. Mär 2017, 11:16 »
Narissa, Aerien, Thorongil und der Silberne Bogen aus der Mehu-Wüste

Obwohl nur eine Woche vergangen war, seit sie Tol Thelyn verlassen hatten, kam es Narissa viel länger vor, als Hallatan die Thoroval in den kleinen Hafen steuerte. Am Kai hatte sich wie zuvor eine kleine Menschenmenge versammelt um die Rückkehr ihres Herrn und die Ankunft der Neuankömmlinge vom Silbernen Bogen zu erleben. Ganz vorne stand erneut Minûlîth mit Túor an der Hand, und neben ihr Edrahil, dessen dunklen Augen nichts zu entgehen schien. Als erstes trat Thorongil vor seine Frau, und Narissa und Aerien neben ihm.
"Nun, anscheinend hattet ihr Erfolg", sagte Edrahil trocken, während Thorongil Minûlîth in eine Umarmung zog. Edrahil verzog keine Miene, das Lächeln beschränkte sich auf seine Augen. Narissa musste an das Gespräch denken, dass sie auf der Reise über Edrahil geführt hatten, und stieß Aerien grinsend den Ellbogen in die Seite. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, fand sie sich in Minûlîths Umarmung wieder, die danach auch die ein wenig verdutzte Aerien in ihre Arme zog.
"Ich bin froh, dass ihr beide wieder hier seid, und dass es euch gut geht", sagte Minûlîth schließlich. "Und ihr müsst mir unbedingt erzählen, was geschehen ist."
"Natürlich", sagte Narissa nickend, wobei sie mit Aerien einen wortlosen Blick tauschte, der Vielleicht aber nicht alles besagte. "Ich freue mich auch, wieder hier zu sein... zuhause." Ihr Blick fiel auf Túor, und sie stupste ihren jungen Vetter spielerisch gegen die Schulter. "Und du? Bist du schon bereit für eine weitere Lektion?"
Túors Mundwinkel zuckten und ein schelmisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht, das dem seines Vaters so ähnlich war, aus. "Solange du nicht wieder diesen Trick mit deinem Fuß machst..." Narissa musste ebenfalls lächeln. Beim letzten Mal, als sie Túor "ein paar Tricks" beibringen wollte, hatte sie ihm einmal mit dem Fuß beide Beine weggezogen, und der Junge war unsanft auf dem Rücken gelandet.
Sie wandte sich wieder Minûlîth zu: "Was ist mit Serelloth? Wir sollten vielleicht mit ihr sprechen." "Geht es ihr gut?", fügte Aerien, offensichtlich besorgt, hinzu. "Ist sie..."
"Es geht ihr den Umständen entsprechend gut", erklärte Minûlîth beruhigend. "Wir haben für sie getan was wir konnten, und sie befindet sich auf dem Weg der Besserung. Ihr könnt später zu ihr gehen, wenn wir mit den Begrüßungen fertig sind."
Erst jetzt bemerkte Narissa, dass Ta-er und Eayan zu ihnen getreten waren. Edrahil neigte Ta-er gegenüber leicht den Kopf, und sie erwiderte das Nicken beinahe unmerklich, während Eayan sagte: "Ich bin Eayan al-Tayir vom Silbernen Bogen. Der Herr des Turmes war so freundlich, uns für einige Zeit Zuflucht vor unseren Feinden zu gewähren."
Edrahil zog die Augenbrauen zusammen, und erwiderte: "Noch mehr Feinde sind eigentlich nicht das, was wir gebrauchen könnten."
"Gerade diese Feinde sind schon lange ebenso die euren wie die unseren", warf Ta-er ein. "Seit Umbar, um genau zu sein."
"Saleme", schloss Edrahil sofort. "Nun, in diesem Fall habe ich keine Einwände gegen eure Anwesenheit hier, nachdem sie mir in Umbar so eindrucksvoll die Feindschaft erklärt hat."
Eayan lächelte leicht, und antwortete: "Sie scheint ein Talent dafür zu haben, sich mächtige und kluge Feinde zu schaffen. Ich glaube nicht, dass sie uns schlagen kann, wenn wir zusammenarbeiten - nicht einmal mit der Hilfe ihres geheimnisvollen Meisters."
Bei diesen Worten schien Edrahil aufzumerken, und auch Narissa lauschte aufmerksam. Zwar hatte Aerien ihr erzählt, was Saleme beim Angriff auf die Burg des Silbernen Bogens gesagt hatte, aber sie fragte sich, was Eayan selbst zu dem Thema zu sagen hatte.
"Ihres Meisters?", fragte Edrahil scharf. "Nach der Formulierung vermute ich, dass ihr nicht von Mordor sprecht? Ihre Taten sprechen ohnehin nicht dafür..."
Eayan schüttelte den Kopf. "Nein, sie dient nicht Mordor - aber ich weiß nicht, wer ihr Herr jetzt ist. Wir sollten vielleicht später darüber sprechen, an einem anderen Ort." Edrahil nickte langsam, ohne den Blick von dem Schattenfalken zu wenden. Für einen Augenblick herrschte Schweigen, bis Thorongil sich räusperte und sagte: "Wir haben noch jemanden mitgebracht... einen Gefangenen."
Auf sein Stichwort hin führten zwei Krieger des Silbernen Bogens den gefesselten und geknebelten Karnuzîr nach vorne, dessen Blick trübe und stur auf den Boden vor ihm gerichtet war. Bei seinem Anblick spürte Narissa einen Stich des Hasses - und ein Gefühl der Befriedigung, als ihr Blick auf seine fehlenden Finger und die an mehreren Stellen blutige Kleidung fiel. Sie ergriff unauffällig Aeriens Hand, während Edrahil Karnuzîr aufmerksam musterte und schließlich fragte: "Karnuzîr, nehme ich an?"
"Das ist mein geliebter Vetter Karnuzîr Wüstenklinge - auch wenn er seine Klinge verloren zu haben scheint, und auch sonst in einem erbärmlichen Zustand ist", sagte Aerien, und ihre Augen blitzten. Narissa drückte ihre Hand ein wenig fester, als sie fortfuhr: "Ich bin mir sicher, er würde sich äußerst gerne mit euch unterhalten."
"Wir werden sehen, wie gerne", sagte Edrahil leise und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Ihm mussten ebenfalls die Spuren der Folter auf Karnuzîrs Körper aufgefallen sein, und er tauschte einen Blick mit Thorongil und Eayan. "Ich denke, wir haben vieles zu besprechen."
"Das haben wir", stimmte Thorongil zu. "Eayan, ich fürchte eure Leute müssen noch einige Zeit im Freien lagern - wir werden weitere Häuser in Stand setzen, aber das wird Zeit brauchen."
Eayan verbeugte sich leicht mit einem Lächeln. "Sie sind daran gewöhnt, und die Sicherheit eurer Gastfreundschaft wiegt alle anderen Unannehmlichkeiten auf."
Edrahil, Thorongil und Eayan entfernten sich ein Stück, während sie leise weiter sprachen, und Narissa blickte ihnen ein wenig enttäuscht hinterher. Sie hatte eigentlich erwartet, in was auch immer für Pläne die drei Männer schmiedeten, eingeweiht zu werden. Dass das nicht der Fall war, und offenbar keiner der drei überhaupt daran dachte, sie und Aerien einzubeziehen, machte sie wütend.
Minûlîth schien ihren Stimmungswandel bemerkt zu haben, denn sie sagte mit einem wissenden Lächeln: "Lasst sie erst einmal ihre Ränke schmieden - früher oder später werden wir ebenfalls davon erfahren und dann werden wir weiter sehen. Hab Geduld, Nichte."
Narissa stieß ungeduldig die Luft durch die Nase aus, und Minûlîth lachte. "Und außerdem... wolltet ihr nicht nach Serelloth sehen? Sie würde sich sicherlich freuen, euch zu sehen. Als ich ihr gesagt habe, dass ihr beide zurückkommt, schien sie viel gesünder zu werden."
"Das werden wir sofort tun", erwiderte Aerien, und zog Narissa an der Hand in Richtung des Turmes. "Danke, Minûlîth."

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Was Serelloth zustieß
« Antwort #19 am: 13. Mär 2017, 10:48 »
Man hatte Serelloth ein kleines Zimmer im unteren Drittel des Turms gegeben. Als Aerien und Narissa herein kamen stießen sie auf Laedris, die junge Bedienstete, die gerade Serelloths Verbände wechselte. Aerien konnte sehen, dass die Wunde kurz unterhalb ihres Halses begann und sich ein gutes Stück senkrecht nach unten zog. Auch wenn alles danach aussah, dass der Schnitt gut verheilte, würde er dennoch eine große Narbe hinterlassen. Serelloth war noch immer etwas bleicher als gewöhnlich, aber in ihren Augen leuchtete bereits wieder ihre gewohnte ungestüme Freude auf, als sie Aerien und Narissa entdeckte.
"Da seid ihr ja endlich," rief sie als die beiden an ihr Bett traten. "Ihr habt mich ja ganz schön lange warten lassen."
"Serelloth," stieß Aerien erleichtert aus und nahm die Hand des Mädchens. "Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Es... es tut mir so Leid, was mit dir passiert ist. Das war alles meine Schuld!"
"Unsinn, 'Rien," meinte Serelloth gut gelaunt. "Du hattest ja keine Wahl. Der Fehler lag bei mir. Ich bin nach der Sache in Qafsah in meiner kindischen Wut unvorsichtig geworden und habe mich schnappen lassen. Zum Glück hat Narissa alles wieder ins Reine gebracht."
"Nun, ich hatte etwas Hilfe," gab Narissa bescheiden zu. "Erzähl uns, was geschehen ist nachdem du mit Níthrar nach Norden geritten bist. Wo ist er eigentlich?"
"Eines nach dem Anderen," beschwichtigte Serelloth und begann, von ihrer Reise zu erzählen. "Ich ritt geradewegs nordwärts, auf schnellstem Wege zurück in Richtung Ithilien. Am Ufer des Harduins holte mich dein elbischer Freund schließlich ein und bot mir an, mich zu begleiten. Eigentlich wollte ich ablehnen, weil er... nun, weil er mich an dich erinnerte, Narissa. Tut mir Leid. Aber ich habe damals einfach nicht klar denken können, wollte einfach nur weg und den Schmerz über Elendars Tod loswerden. Ich weiß jetzt, dass das dumm von mir war. Ich hatte hier einige Zeit zum Nachdenken."
"Ist schon gut, Serelloth. Erzähl weiter," sagte Narissa freundlich.
"Níthrar führte mich zu einer nahgelegenen Furt, und wir ritten hindurch und weiter nach Norden durch das umstrittene Gebiet zwischen Qafsah und Ain Séfra. Dabei kamen wir eines Tages durch eine Schlucht, und dort lauerten sie uns auf, Karnuzîr und seine Leute. Mich haben sie geschnapt, aber nicht ehe ich zwei von ihnen mit meinen Pfeilen erwischt habe. Das hat mir eine ziemliche Tracht Prügel eingebracht. Níthrar hingegen ist entkommen; er durchbrach die Absperrung am Nordende der Schlucht auf dem Rücken seines Pferdes. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört."
"Er sagte, er habe Gerüchte über sein Volk gehört und wollte sich selbst ein Bild der Lage machen," erinnerte sich Narissa. "Aber dennoch passt es nicht so recht zu ihm, dass er nicht einmal versucht hat, dich zu befreien."
"Das wäre ihm wahrscheinlich sowieso nicht gelungen," meinte Serelloth. "Die Gruppe, die mich bis ans Ufer des Meeres brachte, war viel zu groß um von einem einzelnen Mann besiegt zu werden. Erst als sie das Boot bestiegen waren Karnuzîr und seine Leute nur noch zu dritt. Der Rest ritt wieder zurück in die Wüste - wohin weiß ich nicht."
"Ich bin froh, dass am Ende alles gut gegangen ist," sagte Aerien und setzte sich auf die Bettkante. "Hast du noch Schmerzen? Verheilt deine Wunde gut?"
"Kann mich nicht beschweren," meinte die Waldläuferin. "Das wird natürlich eine ziemliche Narbe geben, aber das stört mich nicht."
"Was wird dein Vater dazu sagen?" fragte Aerien nachdenklich. Sie hoffte, dass Damrod sie nicht für Serelloths Verletzung verantwortlich machen würde.
"Er wird natürlich ein paar Tage mächtig sauer sein, aber später zugeben, dass er froh ist dass ich überlebt habe," antwortete Serelloth. "Jetzt erzählt mir davon, wie es euch ergangen ist und wie ihr Karnuzîr erwischt habt. Das frage ich mich schon seit Tagen."

Narissa und Aerien wechselten sich ab und berichteten von den Ereignissen der vergangenen Woche. Serelloth stellte zwischendurch hin und wieder eine Frage, hörte aufmerksam zu und sagte am Ende: "Ich hoffe, Edrahil lässt deinen widerlichen Vetter noch ein wenig am Leben. Ich würde mich gerne für die Narbe bedanken, die er mir verpasst hat."
"Das lässt sich ganz bestimmt einrichten," sagte Minûlîth, die gerade herein kam. "Mädchen, ihr habt doch bestimmt Hunger, nicht wahr? Laedris, wärst du so lieb und würdest Aerien und Narissa ihr Abendessen bringen?" Die Dienerin nickte und eilte hinaus.
"Danke, Tante," sagte Narissa und schlug die Beine übereinander. Der Stuhl, auf dem sie saß, erlaubte ihr, sowohl die Tür des kleinen Raumes als auch das Bett im Augen zu behalten. Minûlîth setzte sich neben sie und stellte einige Fragen zu ihrer Reise, schien jedoch das meiste bereits zu wissen. "Ihr habt in eurer Abwesenheit nicht allzu viel verpasst," erzählte die Herrin von Tol Thelyn anschließend. "Der Wiederaufbau geht noch immer weiter. Jetzt werden allerdings einige neue Dinge ins Rollen kommen, nun da der Silberne Bogen hier eingetroffen ist. Wisst ihr, früher dachte ich, der Schattenfalke wäre nur eine Legende. Aber wieder einmal zeigt sich, dass alle Gerüchte irgendwo einen wahren Kern besitzen."
"Stimmt," sagte Aerien. "Ich bin froh, dass Herr Thorongil Eayans Leuten erlaubt hat, hier Zuflucht zu finden. Aus diesem Bündnis könnte viel Gutes erwachsen."
"Aber auch neue Gefahren," wandte Narissa ein. "Du hast ja gehört was Saleme gesagt hat. Die Assassinen werden wieder angreifen."
"Nun, lasst das erst einmal die Sorge meines Mannes sein," sagte Minûlîth. "Er hat sich das Ganze gut überlegt und ich vertraue seinem Urteil. Er mag zwar nicht der Sohn sein, den dein Großvater sich einst gewünscht hatte, Narissa, aber nun, da das Schicksal Tol Thelyns in seinen Händen liegt, nimmt er diese große Verantwortung auf seine Art und weise sehr ernst und ist uns ein guter Anführer."
"Er hat mehr von Großvater in ihm, als ihm vielleicht selbst klar ist," meinte Narissa. "Ich bin froh, dass er zurückgekehrt ist."
Minûlîth lächelte verschwörerisch. "Es hat mich viele Jahre der Überzeugung gekostet um ihn endlich dazu zu bringen. Ich habe schon immer davon geträumt, eines Tages eine eigene Insel zu besitzen von der ich mit meinem Schiff jederzeit in Segel stechen und auf große Fahrt gehen könnte."
"So ist das also? Hast du Thorongil nur deswegen geheiratet?" unterbrach Aerien, die nun ebenfalls lachen musste.
"Ganz bestimmt," meinte Narissa grinsend. "Vielleicht sollten wir etwas gegen diese Intrigen unternehmen. Liebste Tante, nimm dich in Acht!"
"Oha, ist das etwa eine Drohung, Narissa?" erwiderte Minûlîth zwinkernd.
"Und wie," bestätigte Narissa. "Sieh dich also vor!"

Sie beendeten das Abendessen und Minûlîth wandte sich gerade zum Gehen als Aerien ein wichtiger Gedanke kam. "Herrin Minûlîth," hielt sie die Herrin der Insel auf, "hast du jemals von einer Frau namens Taraezaphel Bellakanî gehört?"
Minûlîth blieb im Türrahmen stehen und drehte sich langsam um. "Wo hast du diesen Namen gehört?"
"Von Thorongil, der ihn aus Karnuzîr herausbekommen hat. Diese Frau war bei Serelloths Entführung dabei und ist eine von Karnuzîrs und Sûladans wichtigsten Verbündeten."
"Rae ist also wieder aufgetaucht," murmelte Minûlîth und ihr war die Überraschung anzumerken. Sie trat ans Fenster neben Serelloths Bett und blickte hinaus. "Sie ist meine Cousine zweiten Grades, und es gab eine Zeit, in der ich sie als meine beste Freundin bezeichnet hätte. Rae lebte ein Jahr unter meinem Dach, in Umbar, ehe sie nach Süden ging um sich in ihrer Heimat einen Namen zu machen. Vielleicht habt ihr schon von der Jungfrau von Arzayân gehört. Aber nachdem es vor vier Jahren still um sie wurde, dachte ich, sie wäre endgültig verschwunden."
"Sie ist wieder da, und steht mit unseren Feinden im Bunde," stellte Narissa klar. "Und sie weiß von der Insel und von deinen Taten in Umbar."
"Wirklich? Das sind keine guten Neuigkeiten," sagte Minûlîth und drehte sich zu ihnen um, die Arme vor der Brust verschränkt. "Das könnte uns deutlich mehr Ärger einhandeln als es die Bedrohung durch die Assassinen jemals könnte. Jetzt bin ich umso froher, dass der Silberne Bogen hier ist und unsere Küsten überwacht. Ich muss.. darüber nachdenken. Wir sprechen später, Mädchen." Sie durchquerte den Raum und ging hinaus.
"Sie kennen sich also von früher," stellte Narissa fest. "Interessant."
"Und offenbar kannten sie sich ziemlich gut," überlegte Aerien. "ich bin gespannt, was da für eine Geschichte dahintersteckt."
"Und ich erst," meldete sich Serelloth zu Wort. "Ihr müsst mir dringend alles ganz genau erklären. Ich bin wohl noch ein paar Tage an dieses blöde Bett gefesselt und bekomme kaum etwas davon mit, was auf der Insel geschieht."
"Das werden wir," versprach Narissa. "Aber zuerst möchte ich Aerien am Strand etwas zeigen. Kommst du?"
"Bin direkt hinter dir," sagte Aerien und stand auf. Dann folgte sie Narissa durch den Turm nach unten.
« Letzte Änderung: 8. Apr 2017, 13:22 von Eandril »
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #20 am: 14. Mär 2017, 17:25 »
Dieses Mal führte Narissa Aerien nicht zu der Bucht mit dem alten Leuchtturm, sondern an einen anderen kleinen Strand im Nordosten der Insel, der von einer Reihe ins Wasser ragenden Felsen in zwei Teile geteilt wurde. Die Sonne schien warm auf sie hinunter und glitzerte auf den sanft gegen den Strand und die Felsen schlagenden Wellen. Von Norden her wehte ein leichter Wind, der ihnen ein wenig Kühlung verschaffte, sodass es nicht unerträglich warm wurde sondern angenehm blieb.
Narissa kletterte auf den vordersten der Felsen, und streckte Aerien die Hand entgegen. "Komm mit! Von der Spitze hat man einen guten Ausblick auf die Bucht und die Küste."
Sie sprang und kletterte von Stein zu Stein, bis sie etwa in der Mitte der Felsreihe angelangt war, wo sie bereits auf beiden Seiten von Wasser umgeben war. Aerien folgte ihr ein wenig langsamer und vorsichtiger, und als sie auf dem selben flachen Stein angelangt war, sagte sie: "Du hast doch etwas vor." Narissa wandte sich zu ihr um, die Hände in die Seiten gestützt und konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. "Was sollte ich vorhaben?", fragte sie so unschuldig wie möglich. "Ist ein schöner Anblick nicht genug... und ein schöner Ausblick von den Felsen ebenfalls?"
Für einen Augenblick stockte Aerien, bevor sie begriffen hatte, was Narissa gemeint hatte. "Na schön", erwiderte sie mit einem flüchtigen Grinsen. "Du hast recht, der Anblick ist es wert. Aber ich traue dir immer noch nicht, also... geh voran."
Narissa schnaubte, und tat beleidigt als sie sich umwandte, und ihren Weg an die Spitze der Felsen fortsetzte. Der Felsen, der am weitesten draußen in der Bucht lag, ragte beinahe zwei Meter über die Wasseroberfläche hinaus. Sie mussten springen und sich an der Kante des Steines hinaufziehen, um ganz nach oben zu kommen, und oben angelangt brauchte Aerien einen Augenblick um ihr Gleichgewicht wieder zu erlangen und schwankte kurz im Wind. Narissa legte ihr einen Arm um die Hüfte, zog sie an sich und hielt sie fest, und der Wind wirbelte ihre Haare durcheinander und vermischte sie, Schwarz und Weiß.
"Hm", machte Aerien, und berührte Narissas Stirn mit ihrer. "Man könnte meinen, dass das von Anfang an dein Plan war."
"Vielleicht... aber eigentlich brauche ich dafür keine Entschuldigung", gab Narissa zurück, und Aerien lächelte. "Ganz sicher nicht."
Narissa löste sich ein wenig von ihr, sodass sie nebeneinander auf dem Felsen standen und nach Westen auf die Küste von Harad blickten. Entlang des Meeres zog sich ein schmaler Streifen, der an vielen Stellen von dichtem Grün bewachsen war, doch nur kurz danach wurde er von dem gelbbraunen Sand und Staub der Mehu-Wüste abgelöst.  Es war ein karges Land, in dem dennoch einige Stämme der Haradrim lebten, von denen die meisten seit altersher mit den den Dúnedain der Insel befreundet waren.
Nach einiger Zeit brach Narissa das Schweigen, und sagte: "Du weißt, das ich dich liebe, oder?"
Aerien wandte ihr abrupt den Kopf zu, und ihre Augen strahlten. "Wissen tue ich das... aber du hast es mir so noch nicht gesagt." "Mhm..." Narissa legte den Kopf schief. "Dann tue ich es eben nochmal: Ich liebe dich, Aerien." Es so auszusprechen, verursachte ihr ein merkwürdiges, aber gleichzeitig angenehmes Gefühl irgendwo in der Magengrube. Eine feine Röte überzog Aeriens Wangen, und Narissa war sich sicher, dass sie ganz genauso aussah, als Aerien antwortete: "Und ich dich auch, 'Rissa. Ich dich auch."
Nach einem Augenblick unterbrach Narissa den Blickkontakt und räusperte sich ein wenig verlegen. "Und vertraust du mir jetzt?"
Aerien warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu und antwortete langsam: "Eigentlich schon... aber ich fürchte, du hast immer noch irgendetwas vor."
"Mag schon sein...", sagte Narissa vor sich hin, blickte zum strahlend blauen Himmel empor, und versetzte Aerien dann einen plötzlichen Stoß, der sie zur Seite und über den Rand des Felsblocks taumeln ließ. Aerien stieß einen kurzen überraschten Schrei aus, bevor sie mit einem Platschen im Wasser landete. Für einen kurzen Augenblick verschwand sie vollständig unter Wasser, bevor sie wieder auftauchte, nach Luft schnappte und wild mit den Armen um sich schlug.
"Mit den Füßen treten, die Arme gleichmäßig bewegen!", rief Narissa vom Felsen herunter. "Und den Mund zumachen, bevor du dich verschluckst!" Im gleichen Moment schlug eine kleine Welle Aerien gegen das Gesicht, sie verschluckte sich, hustete und spuckte Wasser aus, während sie panisch dagegen ankämpfte, unterzugehen. Narissa seufzte, verdrehte die Augen, und zog ihre Stiefel aus, bevor sie kopfüber vom Felsen ins Wasser sprang. Das Wasser war angenehm kühl, hier in der Bucht aber nicht so kalt wie an der Westküste der Insel, wo es kalte Strömungen vom Meer gab. Sie tauchte um Aerien herum, wobei sie darauf aufpassen musste nicht von Aeriens Armen und Beinen getroffen zu werden.
Hinter Aerien kam sie wieder an die Oberfläche, schlang Aerien einen Arm um den Oberkörper und hielt sie beide mit dem anderen und den Beinen über Wasser. "Ganz ruhig, ich bin da", sagte sie ihrer Freundin ins Ohr, und Aerien entspannte sich augenblicklich spürbar. "Beweg die Arme ganz regelmäßig, vor und zurück - ja, genau so." Es dauerte einen Moment bis Aerien den richtigen Rhythmus gefunden hatte und nicht mehr unterzugehen drohte, und Narissa sie loslassen konnte. "Lass dich einfach treiben und von den Wellen schaukeln. Das Meer tut dir nichts." Aerien antwortete nichts, ganz damit beschäftigt, über Wasser zu bleiben, und Narissa musste lächeln. "Immerhin bist du seine Tochter."

Nach einigen Augenblicken, die sie sich treiben ließen, schlang Narissa ihren Arm wieder um Aerien, und zog sie ein Stück mit sich in Richtung Ufer, bis das Wasser flach genug war, um bequem stehen zu können. Als sie Aerien wieder losgelassen hatte, warf diese ihr mit blitzenden Augen einen Blick zu. "Mach das nie wieder!"
Narissa zuckte ohne jedes Schuldbewusstsein die Schultern, und spritzte wie zufällig ein wenig Wasser in Aeriens Richtung. "Ist jetzt nicht mehr nötig, jetzt kennst du das Wasser ja und gehst nächstes Mal vielleicht freiwillig hinein." Sie grinste über Aeriens strengen Blick, und fügte hinzu: "Und außerdem hätte ich nicht gedacht, dass jemand so schlecht Schwimmen kann."
Aerien spritzte mit der Hand ein wenig Wasser zurück, und protestierte: "Im Gegensatz zu dir bin ich weit weg vom Meer aufgewachsen - und auch von Flüssen oder anderen größeren Gewässern. Wo soll ich da Schwimmen gelernt haben."
"Das musst du wirklich dringend nachholen", stellte Narissa entschlossen fest. Sie hatte beinahe vergessen, dass sie selbst als sie hier angekommen war, ebenfalls nicht Schwimmen gekonnt hatte. Doch über die Jahre hatte sie es gelernt, und inzwischen kam es ihr wie eine Selbstverständlichkeit vor - so wie Laufen oder Klettern. "Ich werde es dir zeigen. Es ist ganz einfach, du wirst schon sehen."
"Aber nicht mehr heute", meinte Aerien. "Diese Lektion hat mir für einen Tag gereicht."
Narissa wich ihrem Blick aus, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen. Gemeinsam kehrten sie an das Ufer aus weichem, feinen Sand zurück, zunächst halb gehend, halb schwimmend, und schließlich durch das flache Wasser watend. Ihre nasse Kleidung klebte eng an der Haut, was es Narissa erschwerte, ihren Blick von Aerien loszureißen. Sobald sie das Ufer erreicht hatten, stürzte Aerien sich mit einem Mal auf sie, riss sie zu Boden und drückte sie in den Sand. "So", knurrte sie. "Jetzt muss ich mir noch eine Strafe für dich ausdenken..." Soweit wollte Narissa es nicht kommen lassen, obwohl sie den Verdacht hatte, dass ihr gefallen könnte was Aerien im Sinn hatte. Sie wälzte sich herum, und versuchte ihrerseits Aerien unter sich zu bringen. Ein paar Augenblicke kämpfen sie im Sand miteinander, der an ihrer nassen Kleidung kleben blieb, doch schließlich kam Narissa wieder unter Aerien zu liegen, die mit den Knien ihre Hüfte umklammerte und mit der rechten Hand ihre Handgelenke über dem Kopf zusammenhielt und auf den Boden drückte.
"Strafe muss sein", sagte sie schwer atmend, und ihr linke Hand wanderte langsam an Narissas Seite hinunter. Als sie das untere Ende der Rippen erreichte und ein wenig darüber hinaus nach unten glitt, konnte Narissa ein Zusammenzucken und leises Quietschen nicht unterdrücken. Aerien hob eine Augenbraue. "Das ist doch nicht die Möglichkeit...", sagte sie leise. "Bist du etwa... kitzlig?" Sie bohrte ihre Finger leicht in Narissas rechte Seite, und Narissa schnappte nach Luft und krümmte sich ein wenig zusammen. Ein Grinsen breitete sich auf Aeriens Gesicht aus, als sie Narissas Handgelenke losließ, und ihr Werk auch mit der rechten Hand begann. Es war zu viel für Narissa, der nichts anderes übrig blieb als sich kichernd und nach Luft schnappend unter Aeriens Fingern hin und her zu winden. "Ich... gebe auf!", brachte sie mühsam hervor, unterbrochen von einem erneuten Kichern. "Es tut... mir Leid!"
"So einfach kommst du mir nicht davon!", antwortete Aerien, ohne das Kitzeln zu unterbrechen. "Es gibt keine Gnade!"
Im selben Moment hörte Narissa, wie jemand ihren und Aeriens Namen rief. Es war eindeutig Laedris' Stimme, die von weiter im Inland kam. Auch Aerien schien es gehört zu haben, denn sie zeigte Gnade, entließ Narissa aus ihrem Griff und rappelte sich auf. Auch Narissa kam mühsam auf die Füße, gerade als Laedris hinter einem Busch hervorkam und auf den Strand trat. "Meister Edrahil würde gerne etwas mit euch besprechen." Dann fiel ihr Blick auf den Zustand der Kleidung der Beiden, und sie stockte kurz. "Allerdings... solltet ihr auch vorher vielleicht umziehen..."
Narissa warf einen Blick zu Aerien, die wiederum sie ansah. In der warmen Sonne hatte ihre Kleidung bereits zu trocknen begonnen und wurde vom salzigen Meerwasser hart und steif, und beide waren über und über mit Sand verklebt. Als ihre Blicke sich trafen, konnte Narissa ein Grinsen und ein Kichern nicht unterdrücken, und steckte damit auch Aerien an.
Mit größter Mühe konnte Narissa ihr Kichern schließlich unterdrücken, und antwortete Laedris, die verständnislos zugesehen hatte und ein wenig errötet war, mit mühsamem Ernst, der hin und wieder vom unkontrollierbaren Zucken ihrer Mundwinkel unterbrochen wurde: "Natürlich, wir werden sobald wie möglich zu ihm kommen... und uns vorher umziehen."
Laedris nickte nur stumm, und eilte dann so schnell wie möglich in Richtung des Turmes davon. Narissa sah Aerien an, der noch immer Wasser aus den Haaren tropfte, und beide brachen erneut in unkontrolliertes Gelächter aus.

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Rückkehr zum Turm
« Antwort #21 am: 15. Mär 2017, 12:55 »
"Du hast deine Schuhe auf dem Felsen vergessen," erinnerte Aerien Narissa, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten. Während sie versuchte, das Wasser aus ihren schwarz glänzenden Haaren herauszuwringen suchte Narissa ihre Habseligkeiten zusammen. Narissas Haare waren ein gutes Stück kürzer, weshalb sie schneller trocknen würden. Aerien sah zu, wie Hadors Enkelin gewandt über die in der Mitte des Strands ins Meer hineinragenden Felsen kletterte und dabei nicht ein einziges Mal ins Straucheln geriet. Sie stellte fest, dass ihr dieser Anblick sehr gefiel. Nachdenklich strich sie mit der Hand durch den warmen Sand. Sand war etwas, das sie kannte, aber nicht in Verbindung mit Wasser. Es faszinierte sie, wie weich und formbar der Sand wurde, wenn das Meerwasser darin versickerte.
"Möchtest du eine Sandburg bauen?" fragte Narissa belustigt. Aerien hatte sie nicht zurückkehren sehen und drehte sich überrascht um.
"Eigentlich mag ich Sand nicht," meinte sie. "Hattest du schon einmal welchen im Schuh? Das ist wirklich unangenehm."
"Nun stell' dich nicht so an. Wir gehen einfach barfuß zum Turm zurück."
Sie nahmen ihre Schuhe in die Hände und verließen den Strand. Ein ausgetretener Pfad führte durch grüne Wiesen zurück zum Turm, der vom Licht der untergehenden Sonne rötlich beleuchtet wurde. Es war ein wundersamer Anblick, der in Aerien eine Erinnerung weckte.
"Minas Tirith," murmelte sie leise und vor ihrem inneren Auge erschien die Weiße Stadt, wie sie sie damals zum ersten Mal gesehen hatte: Groß und majestätisch, getaucht in das Licht der Abendsonne. Damals war sie noch Azruphel gewesen und hatte die Stadt in Mordors Namen besucht, auch wenn ihre eigentlichen Ziele andere gewesen waren.
Narissa entging diese Aussage natürlich nicht, denn sie hatte scharfe Ohren. "Was redest du da?" fragte sie und blieb stehen.
"Der Turm erinnert mich an Minas Tirith," erklärte Aerien. "Ich habe dir das noch gar nich erzählt, aber dort habe ich Beregond getroffen. Die Stadt ist vom Herrn der Ringeister besetzt worden und es sind nur noch wenige Menschen dort. Dennoch bietet sie noch immer einen gewaltigen Anblick. Ich würde es dir gerne eines Tages zeigen."
"Unser Weg wird uns bestimmt irgendwann dorthin führen," meinte Narissa.
"Nein, ich möchte nicht einfach so dorthin, Rissa. Die Stadt in den Händen der Orks zu sehen hat mich mit Trauer und Schmerz erfüllt. Wenn ich nach Minas Tirith zurückkehre, will ich ihr die Freiheit bringen."
"Dafür bräuchten wir eine Armee, und Gondors Unterstützung," wandte Narissa ein. "Du hast doch gehört, was Edrahil gesagt hat: solange der König Gondors ein Gefangener Saurons ist, sind dem Truchsessen die Hände gebunden."
"Aber was ist mit Damrod und seinen Leuten? Sie sind gut ausgerüstet und sie sind viele - könnten sie nicht...?"
"Das musst du Serelloth fragen. Ich kenne mich in Gondor noch weniger aus als du. Komm, wir sollten hier nicht rumstehen. Du wirst dir noch eine Erkältung holen wenn wir deine Haare nicht bald trocken kriegen."
"Oooh, machst du dir Sorgen um mich?" stichelte Aerien.
"Eher um mich selbst," gab Narissa amüsiert zurück. "Wenn wir nicht pünktlich bei Edrahil auftauchen werde ich den ganzen Abend lang seine miese Laune ertragen müssen."
"Du meinst, er kann noch mieser gelaunt sein als er sowieso schon ist?"
"O ja, kann er. Du hast noch gar nichts gesehen," sagte Narissa unheilvoll. "Also los. Bis zum Turm ist es nicht mehr weit."

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich bereit für das Gespräch mit Edrahil gemacht hatten. Aerien bestand darauf, sich mit sauberem Wasser abzuwaschen und saß in einem gut gefüllten Badezuber, den Minûlîth irgenwo aufgetrieben hatte. "Ich wusste nicht, dass Meerwasser so unangenehm auf der Haut klebt und juckt, nachdem sie schon getrocknet ist," beschwerte sie sich während Narissa ihr den Rücken abtupfte.
"Die Tochter des Meeres jammert über Meerwasser," sagte Narissa gelassen. "Welche Ironie."
"Ich hab' mir den Namen nicht ausgesucht, sondern ihn nur übersetzt," antwortete Aerien und band sich ein Handtuch um.
"Aber er passt zu dir. Eines Tages wirst du bestimmt eine große Seefahrerin werden. Tante Melíril leiht dir bestimmt ihr Schiff."
"Hmm," machte Aerien. "Solange ich dabei nicht nass werde..."
Sie beschloss, eines der Kleider anzuprobieren, die Minûlîths Schwester gehört hatten. Ihre Wahl fiel auf ein dunkelrotes Kleid mit goldenen Stickereien an Armen und Saum. Der Stoff erinnerte Aerien an Durthang. Sie fand sogar, er roch ein wenig nach ihrer Mutter. Ihre Gedanken schweiften ab und sie fragte sich, wie es ihrer Familie wohl gerade ging. Azruphels Mutter war die Einzige, die ihre wahren Absichten kannte. Alle anderen mussten wohl glauben, sie sei in Ithilien ein Opfer der Überfälle der Partisanen geworden. Andererseits hatte der Nazgûl in Qafsah offenbar sehr genau über Aeriens Flucht Bescheid gewusst...
Aeriens Überlegungen blieben bei ihrem Vater hängen. Er war nach Dol Guldur beordert worden. Ob er wohl noch immer dort ist? Ich frage mich, wie es ihm geht, und ob er von meinem Verrat gehört hat... Ihr fiel ein, was Varakhôr am Tag vor seiner Abreise zu ihr gesagt hatte, als sie einen der seltenen Momente erlebt hatten in denen sie wirklich etwas Zeit hatten um miteinander zu sprechen.
"Wenn ich zurückkehre werde ich einen Mann für dich finden," hatte ihr Vater gesagt. "Es wird Zeit für dich, deine Pflicht gegenüber der Familie zu erfüllen."
"Was, wenn ich ihn nicht mag, Vater?" hatte Azruphel eingewandt.
"Er wird dich gut behandeln, dafür sorge ich. Ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter in die falschen Hände gerät. Mache dir keine Sorgen, Kind. Es wird jemand sein, der sich meinen Respekt verdient hat."
Ihr war damals niemand eingefallen, den sie sich gewünscht hatte. Unter den schwarzen Númenorern von Durthang, deren Stand hoch genug gewesen wäre um für eine Vermählung in Frage zu kommen, war niemand gewesen, der Azruphel gefallen hätte. Und auch sonst gab es im Tal von Aglarêth nur wenige, die sie überhaupt attraktiv fand. Es wäre zwar möglich, jemanden von niedrigerem Gesellschaftsstand in Betracht zu ziehen, dies würde allerdings am Hof für viel Gerede sorgen. Es war bereits vorgekommen dass die Fürsten von Durthang ihre Töchter an Krieger verheiratet hatten, die sich im Kampf einen Namen gemacht hatten, doch solche Ereignisse waren eine Seltenheit. Und außerdem gefiel Azruphel die Vorstellung überhaupt nicht, als eine Art Preis betrachtet zu werden.

"He, Meerestochter, träumst du?" Narissas Stimme riss Aerien aus den Gedanken. Die Turmerbin hatte sich inzwischen ebenfalls trockene Sachen angezogen und trug nun einen festen Wappenrock mit dem Abzeichen des Reiches von Tol Thelyn auf der Brust: Ein hoch aufragender stilisierter Turm in Weiß, auf einem orangefarbenen Segel, dazu eine kleine silberne Blüte im Zentrum, die für die Vorfahren Ciryatans in Númenor stand. Narissa trug hohe Stiefel und hatte ihre Dolche umgegürtet. Sie wirkte auf Aerien kampfbereit und entschlossen.
"Ich habe nur nachgedacht," antwortete Aerien. "Du siehst gut aus in der Tracht der Insel," fügte sie hinzu.
"Und du in den Kleidern von Melírils Schwester," gab Narissa lächelnd zurück. "Die, die nach Dol Amroth gegangen ist."
"Dort möchte ich auch eines Tages hin, und die berühmten Schwanenritter sehen," schwärmte Aerien. "Sie haben den Ansturm Mordors zweimal abgewehrt obwohl sie weit in der Unterzahl waren, wusstest du das?"
"Es wird bestimmt mal die Gelegenheit geben, Dol Amroth zu besuchen," meinte Narissa und nahm Aeriens Hand. "Aber zuerst sollten wir vielleicht dem Abgesandten Dol Amroths unsere Aufwartung machen. Du weißt schon, Meister Edrahil. Seine Geduld ist bestimmt schon lange zu Ende gegangen."
Hastig band Aerien ihre Haare zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammen und stand auf. "Also gut. Gehen wir zu ihm."

Sie verließen Narissas Zimmer und trafen unterwegs erneut auf Laedris. "Da seid ihr beiden ja," rief die junge Frau ihnen zu als sie sich auf der Treppe begegneten. "Herr Edrahil schickt mich um, und ich zitiere, nachzusehen ob diese beiden unverantwortlichen Mädchen sich auf dem komplizierten Weg den Turm hinab zu meinem Zimmer verlaufen haben." Sie zwinkerte ihnen zu und fuhr fort: "Es wird Zeit, dass ihr ihn aufsucht. Die Sonne ist schon untergegangen und es wird spät."
"Das machen wir, Laedris," sagte Narissa.
"Der Abend hat ja gerade erst begonnen," meinte Aerien. "Bleibt also noch mehr als genug Zeit, um sich anzuhören, was Meister Edrahil uns zu sagen hat."
Laedris nickte. "Sollte man meinen, ja. Aber dieser alte Kerl gibt einem ständig das Gefühl, dass ihm alles viel zu langsam geht."
"Mach dir um ihn keine Sorgen. Wir kommen schon mit ihm zurecht," gab sich Narissa zuversichtlich.
Sie stiegen die Treppe hinab und kamen schließlich vor Edrahils Zimmer an. Vorsichtig klopfte Aerien dagegen, doch die Tür schwang bereits auf...
« Letzte Änderung: 29. Mär 2017, 10:06 von Fine »
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #22 am: 28. Mär 2017, 21:29 »
Edrahil ließ sich auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch nieder, und Thorongil und Eayan setzten sich einander gegenüber an die Kopfenden des Tisches. Obwohl ihm mehrere Fragen unter den Nägeln brannten und er es kaum erwarten konnte die Ideen, die ihm in der Zwischenzeit gekommen waren, zur Diskussion zu stellen, schwieg Edrahil zunächst und wartete ab, dass Thorongil das Wort ergriff. Immerhin war er der Herr von Tol Thelyn, und Edrahil und Eayan waren nur Gäste und Verbündete.
Thorongil faltete die Hände auf dem Tisch, und begann zu erzählen: "Wie Edrahil bereits weiß, kam vor einigen Tagen Karnuzîr, ein Vetter Aeriens und im Gegensatz zu ihr ein treuer Diener des Feindes, mit zwei Gefährten auf die Insel. Er hatte das Mädchen Serelloth in seiner Gewalt, eine Freundin von Narissa und Aerien, und zwang Aerien mit ihrem Leben dazu, Narissa anscheinend zu verraten und nach Mordor zurückzukehren."
Er fuhr fort zu erzählen, wie er und Narissa Karnuzîr verfolgt, zur Strecke gebracht und seine Ränke aufgedeckt hatten. Als er schließlich zum Ende kam, sagte Eayan: "Ich bin froh, dass sich alles aufgeklärt hat, denn sowohl Narissa als auch Aerien könnten wertvolle Waffen im Kampf gegen den Schatten sein."
Angesichts der Wortwahl verzog Thorongil ein wenig das Gesicht, doch Edrahil gab dem Schattenfalken mit einem unmerklichen Nicken zu verstehen, dass er diese Meinung teilte. Auch wenn er selbst den jungen Frauen ebenfalls Sympathie entgegenbrachte, würde er doch nicht zögern, sie auch in größte Gefahr zu schicken, sollte es ihrem Kampf gegen Mordor nützen - denn der Krieg war größer als jeder einzelne von ihnen, und Opfer mussten gebracht werden.
Er stand auf, die Blicke der beiden anderen Männer ignorierend, ging zur Tür und blickte nach draußen. Zu seinem Glück kam gerade eine junge Frau die Treppe aus den oberen Ebenen des Turmes hinunter, und er sagte: "Laedris, würdest du bitte Narissa und Aerien finden und zu mir schicken?" Laedris wirkte nicht sonderlich begeistert, doch sie nickte und erwiderte: "Natürlich."
Zurück im Zimmer setzte Edrahil sich erneut und erklärte: "Ich denke, es wäre sinnvoll die beiden bei dem, was ich gerne besprechen möchte, dabei zu haben, denn es betrifft sie sehr stark."
Thorongil und Eayan nickten zustimmend, und Edrahil fuhr fort: "Ich habe allerdings zuerst eine Frage an euch, Eayan, über denjenigen, dem Saleme zu dienen scheint."
"Es ist nicht Mordor, in diesem Punkt bin ich mir sicher - auch wenn derjenige keineswegs unser Freund zu sein scheint", sagte Eayan, ohne dass sich eine Regung in seinem Gesicht zeigte. "Und nach dem wenigen was ich herausfinden konnte, kommt er nicht aus Harad oder noch südlich davon, und vermutlich ebenfalls nicht aus dem Osten."
"Damit bleibt nur der Norden", meinte Edrahil, und rieb sich die Stirn. "Er kommt nicht aus Gondor, davon wüsste ich - wenn nicht, müsste ich den Beruf wechseln." Er überlegte. In Rohan gab es niemanden mit ausreichender Macht um Saleme kontrollieren zu können, und die Elben schienen sich nicht für die Länder südlich von Gondor zu interessieren... bis vor einiger Zeit ja nicht einmal für Gondor selbst. Außerdem glaubte er nicht, dass sie sich so offensichtlich gegen andere Feinde Mordors stellen würden, auch wenn die Elben ihm immer ein gewisses Rätsel gewesen waren. Edrahil zog die Augenbrauen zusammen, als ihm ein Verdacht kam.
"Wir müssen einen Boten nach Dol Amroth schicken", sagte er. "Vielleicht kann Amrodin herausfinden, ob..."
Thorongil seufzte. "Wir sind alle auf einer Seite, Edrahil. Ihr müsst eure Verdacht nicht verschweigen."
Edrahil zögerte noch einen Augenblick, denn er sprach ungern über Vermutungen, für die er keine Beweise hatte. Doch Thorongil hatte Recht, sowohl er als auch Eayan hatten das Recht es zu hören. "Habt ihr von Saruman gehört, dem Zauberer und ehemaligen Herrn von Isengart?", fragte er. Thorongil nickte, doch Eayan schüttelte den Kopf und meinte: "Diese Namen sagen mir nichts. Ich habe zwar Gerüchte von den Zauberern gehört, doch nichts gesichertes."
"Ich selbst weiß von dreien", erklärte Edrahil. "Ob es noch mehr gibt, weiß ich nicht, doch Saruman wäre der einzige, der als Salemes Meister in Frage kommt. Früher stand er auf unserer Seite, doch dann wandte er sich gegen unsere Verbündeten. Soweit ich weiß führt er nun Krieg gegen Sauron, denn er hasst Mordor und die Freien Völker gleichermaßen."
Eayan strich sich langsam über das Kinn, während er nachdachte. "Diese Haltung würde auch zu Saleme passen, denn sie arbeitet sowohl gegen Mordor als auch gegen uns. Eure Vermutung könnte sich als richtig erweisen, Edrahil, doch es bleibt die Frage, was das für uns bedeutet."
"Für den Augenblick nicht viel", erwiderte Edrahil. "Saruman ist außerhalb unserer Reichweite, doch immerhin wüssten wir, mit wem wir es zu tun haben."
"Ihr solltet einen Vogel mit der Botschaft nach Dol Amroth schicken", beschloss Thorongil, dem Edrahil als Herr des Turmes in diesen Dingen mindestens ein Mitspracherecht einräumte. "Lasst eure Leute dort nach einer Verbindung zwischen Saruman und Saleme suchen."

Edrahil machte sich eine kurze Notiz auf einem Fetzen Papier, und sagte dann: "Ihr habt Karnuzîr trotz allem am Leben gelassen. Ich nehme an, ihr seht noch einen Verwendungszweck für ihn?"
"Ich habe ihm bereits viele hilfreiche Informationen entlockt", antwortete Thorongil. "Aber ich denke, dass er uns noch mehr Wissen bieten könnte, vielleicht sogar über seine Verwandte in Mordor."
"Unwahrscheinlich, dass er uns mehr erzählen kann als Aerien", warf Eayan ein. "Soweit ich weiß, ist er nicht in Mordor geboren worden, und ist eher ein Diener Suladâns als einer von Mordor."
"Das denke ich ebenfalls", stimmte Edrahil ihm zu. "Deswegen glaube ich, dass er uns einiges über Suladâns Hof erzählen könnte. Und außerdem... ihr habt all seine Begleiter getötet, also weiß niemand außer uns, dass er sich in unserer Gewalt befindet. Das könnten wir vielleicht zu unserem Vorteil nutzen, und ihn für unsere Zwecke benutzen."
Thorongil hatte sich ein Stück vorgebeugt, und auch Eayan lauschte offensichtlich interessiert.
"Wenn wir ihn dazu bringen uns zu helfen, auf die eine oder andere Art, könnte er uns an Suladâns Hof bringen - vielleicht sogar nach Durthang oder in den Dunklen Turm selbst."
Thorongil verzog das Gesicht. "Und wie wollt ihr ihn dazu bringen? Ich glaube nicht, dass er im Augenblick sonderlich geneigt ist die Seiten zu wechseln, nicht nach den... Gesprächen, die ich mit ihm geführt habe."
"Mit Schmerzen werden wir diesbezüglich sicherlich nicht weit kommen. Er könnte zum Schein tun was wir wollen, und uns im entscheidenden Moment verraten", meinte Edrahil nachdenklich. Karnuzîr für ihre Zwecke zu benutzen bot gewaltige Möglichkeiten - aber auch mindestens ebenso große Risiken. "Wir müssen ihm einen Grund geben, uns nicht zu verraten. Zum Beispiel Aeriens Hand, die er ja anscheinend anstrebt."
"Das würde Narissa niemals zulassen", widersprach Eayan. "Und Aerien selbst ebenso wenig."
"Was wir damit erreichen könnten, ist ein paar verletzte Gefühle wert", gab Edrahil emotionslos zurück. "Wir können uns es nicht leisten, uns von einer Laune zweier junger Mädchen ablenken zu lassen."
Thorongil hatte sich erneut vorgebeugt, und die Hände auf den Tisch gelegt. "Vorsicht, Edrahil. Schließt nicht von euch selbst auf andere, nicht jeder ist in der Lage solche Entscheidungen zu treffen und damit zu leben", sagte er leise, und seine Augen funkelten gefährlich. "Und außerdem sprechen wir hier von meiner Nichte, und ich werde nicht verantworten dass sie und Aerien auseinander gerissen werden müssen um unsere Ziele zu erreichen."
"Jeder von uns muss Opfer bringen, um...", begann Edrahil, doch Thorongil unterbrach ihn. "Sie bringen genug Opfer, wenn wir sie tatsächlich nach Mordor schicken. Nein, Edrahil, wir werden einen anderen Weg finden."
Edrahil hob abwehrend die Hände. Er würde seinen Plan nicht aufgeben, doch jetzt darauf zu bestehen schien ihm der falsche Weg zu sein. "Also gut, wir werden sehen", sagte er, stand auf und ging erneut zur Tür.
Er hatte kaum Laedris' Namen gerufen, als das Mädchen bereits vor ihm stand. "Wenigstens auf die kann man sich verlassen", sagte er mit einem Seufzen. "Würdest zu bitte nachsehen, ob diese beiden unverantwortlichen Mädchen sich auf dem komplizierten Weg den Turm hinab zu meinem Zimmer verlaufen haben?"
Laedris nickte und antwortete: "Sofort, Meister. Sie werden wohl einige Zeit zum Umziehen gebraucht haben..."
Edrahil verdrehte die Augen, und schloss die Tür wieder. Er wollte gar nicht so genau wissen, warum Narissa und Aerien sich umziehen mussten.

Glücklicherweise mussten sie nicht lange warten. Eayan und Thorongil  unterhielten sich  leise über irgendetwas, während Edrahil ungeduldig am Fenster stehen geblieben war und hinausblickte. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die ersten Sterne schienen am Himmel und spiegelten sich auf der in dieser Nacht beinahe spiegelglatten Oberfläche des Meeres. Der Anblick ließ Edrahil zurückdenken an eine Zeit vor über vierzig Jahren, an seine Jugend an der Küste von Belfalas. Damals hatte er an solchen Abenden lange am Strand gesessen und auf das Meer hinausgeblickt, auch wenn er früh am nächsten Morgen wieder mit seinem Vater zum Fischen hinausfahren musste. Er hatte sich ausgemalt, welche Abenteuer er später, wenn er erwachsen war, draußen auf dem Meer erleben und welche exotischen Länder er besuchen würde. Nichts von dem, was er sich damals erträumt hatte war eingetreten, und inzwischen war er zu alt für solche Träumereien.
Edrahil wurde aus seinen Gedanken gerissen, als es beinahe zaghaft an der Tür klopfte. Offenbar hatte Eayan die Schritte auf der Treppe gehört, denn er war bereits dort und öffnete die Tür. Nacheinander traten Aerien und Narissa ein, wobei Aerien Thorongils Nichte leise zuflüsterte: "Ich bekomme den Geschmack von dem Wasser einfach nicht aus dem Mund... ich hätte nicht gedacht, dass es so salzig sein kann."
Edrahil verschränkte die Arme vor der Brust und sagte kühl: "Ich bin sicher, das Meer hält noch viele faszinierende Erkenntnisse für euch bereit. Doch für den Moment solltet ihr andere Sorgen haben."
Aerien schwieg, senkte den Blick aber nicht und errötete auch nicht. Narissa erwiderte seinen Blick ebenfalls standhaft und mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen, und erwiderte: "Der Krieg wird schon nicht weglaufen - und die Welt wird nicht untergehen, weil wir versuchen nebenher ein wenig zu leben."
"Zum Leben ist genug Zeit, wenn Sauron besiegt ist", entgegnete Edrahil ohne sich zu rühren. Für euch zumindest. "Ihr seid alt genug und solltet genug erlebt haben, um das zu verstehen."
"Wir haben wahrscheinlich mehr erlebt als ihr", gab Narissa zurück, ohne ihren Blick auch nur einen Fingerbreit zu senken. "Vielleicht solltet ihr mal losziehen in die Welt, anstatt nur hier oder in Umbar herumzusitzen und Ränke zu schmieden."
Edrahil konnte seinen Zorn nur mühsam zurückhalten, doch gleichzeitig beeindruckte ihn ihre Sturheit irgendwie. In der Zeit die er brauchte, um sich eine Antwort zu überlegen - was nicht oft so lange dauerte - schritt Thorongil ein. "Genug", sagte er scharf. "Narissa, du wirst dir anhören was Edrahil zu sagen hat. Und ihr werdet demnächst pünktlicher kommen, wenn er oder ich nach euch rufen lassen."
Narissa erwiderte den Blick ihres Onkels mit rebellischer Mine, sagte jedoch nichts nachdem Aerien unauffällig ihre Hand ergriffen und gedrückt hatte.
"Also schön", sagte Edrahil. Er hatte sich nicht von seiner Position am Fenster wegbewegt, und alle wandten sich ihm zu. "Aerien, wie gut kennst du dich in Mordor aus?"
Aerien, offensichtlich von seiner direkten Frage überrumpelt, rührte sich ein wenig unbehaglich. "Nun, ich... ich selbst war bislang nur im Norden unterwegs, zwischen Durthang und... Minas Morgul. Aber ich habe viel über den Rest des Landes gehört und gelesen, und auf Karten gesehen. Also... recht gut, denke ich." Es war offensichtlich, dass das Thema ihr unangenehm war, doch sie hatte ohne großes Zögern und präzise geantwortet, und das ließ Edrahil hoffen.
Er sah ihr fest in die grauen, beinahe silbrigen Augen, und fragte: "Würdest du jemals dorthin zurückgehen?" Augenblicklich erbleichte Aerien, und bewegte nur stumm die Lippen anstatt zu antworten. Allein der Gedanke schien ihr schwer zuzusetzen, und Edrahil verfluchte Karnuzîr stumm dafür. Ohne seine Einmischung wäre es wohl deutlich einfacher gewesen, Aerien dazu zu überreden. Narissa legte Aerien einen Arm um die Schultern und sagte mit deutlichem Vorwurf in der Stimme: "Das war nicht sonderlich taktvoll, Edrahil."
"Taktvoll zu sein ist im Augenblick nicht meine größte Sorge... und es war ohnehin nie eine meiner Stärken", gab er zurück. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass seine Frage Aerien einen Schock versetzen könnte, doch es musste sein. "Aerien, du weißt wen Sauron in Barad-Dûr gefangen hält." Jedes einzelne dieser Worte schien Aerien wie ein Hammerschlag zu treffen, doch als Edrahil ausgesprochen hatte, nickte sie langsam.
"Aragorn. Ich bin... nur seinetwegen bin ich hier. Er hat mir den Mut gegeben, Mordor und... meine Familie zu verraten."
"Den Mut den er dir gegeben hat, könnte er einem ganzen Volk geben", erklärte Edrahil ruhig. Er hätte es lieber gesehen, wenn der Erbe von Gondor am Schwarzen Tor gefallen und das Haus Dol Amroth die Macht über den Rest von Gondor erlangt hatte, doch solange Elessar am Leben war, würde er der rechtmäßige König sein, und Imrahil würde sich niemals gegen ihn stellen. Und außerdem hatte Edrahil erkannt, wie sehr Isildurs Erbe die Männer Gondors ermutigen konnte, und genau das war es, was sie brauchten um Mordors Streitkräften weiterhin zu widerstehen. Er sprach weiter: "Und außerdem, solange der rechtmäßige König von Gondor sich in Saurons Gewalt befindet, hat er ein mächtiges Unterpfand gegen Gondor in der Hand. Selbst wenn es an anderen Fronten nicht gut für ihn läuft, kann er sich mit dem Leben Elessars unser Stillhalten erkaufen, und ohne die Macht Gondors und Rohans wird es keinen Sieg gegen Mordor geben."
"Und ihr wollt, dass ich nach Mordor gehe und ihn befreie." Aerien fragte nicht, es war eine Feststellung.
"Das ist die Idee", bestätigte Thorongil, obwohl ihm sichtlich unwohl bei der Sache war.
"Ich muss... darüber nachdenken", meinte Aerien, und Edrahil nickte, nachdem er einen Blick mit Eayan und Thorongil gewechselt hatte. "Das ist dein Recht", sagte er. "Denke sorgfältig darüber nach, doch nicht zu lange."
"Augenblick mal", mischte Narissa sich ein. "Ihr wollt sie doch nicht allein wegschicken? Nach Mordor?"
Edrahil lächelte, denn ihre Reaktion kam gänzlich erwartet. "Natürlich nicht", erwiderte er. "Du wirst sie begleiten."
"Ich werde...", begann Narissa, brach dann aber ab als ihr klar wurde, was Edrahil gesagt hatte. Sie warf einen unsicheren Blick zu Thorongil, der nur hilflos die Hände ausbreitete und sagte: "Es gefällt mir nicht, dich einer solchen Gefahr auszusetzen - oder Aerien. Aber Aerien ist die einzige von uns, die sich in Mordor auskennt, und du bist die einzige hier, die noch die volle Ausbildung meines Vaters genossen hat."
"Außer dir", meinte Narissa, und Thorongil nickte. "Außer mir, und ich habe mit Sicherheit mehr Erfahrung als du. Und dennoch... ich kann nicht gehen, du aber schon. Und außerdem..." Er lächelte schwach. "Ich glaube nicht, dass irgendjemand dich davon abhalten könnte, sollte Aerien sich entscheiden zu gehen."
Narissa verschränkte die Arme, schob die Unterlippe vor und erwiderte: "Natürlich nicht." Der Blick, denn Aerien ihr zuwarf war eindeutig verliebt, und für einen winzigen Moment verspürte Edrahil einen Stich seines Gewissens, dass er diese Verbindung so schamlos ausnutzte. Doch der Moment ging schnell vorbei, und er sagte: "Denkt darüber nach. Und wenn wir eure Antwort haben, werden wir Pläne machen."
Als weder Narissa noch Aerien sich rührten, seufzte er und fügte mit einem unwirschen Wink hinzu: "Nun geht schon, ich bin sicher ihr habt noch irgendwelche Dummheiten vor, bevor ihr euch ernsthafte Gedanken machen könnt..."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Reiseziel Mordor?
« Antwort #23 am: 6. Apr 2017, 14:56 »
Während Edrahil, Thorongil und Eayan im Raum blieben (um offenbar weitere Pläne zu schmieden) kehrten Narissa und Aerien in das Dachzimmer zurück, welches sie seit ihrer Rückkehr nach Tol Thelyn gemeinsam bewohnten.
"Also," sagte Narissa und ließ sich auf das Bett fallen. "Was hältst du davon?"
Aerien war ans Fenster getreten und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Über der stillen See war der Mond aufgegangen, der mit jeder Nacht voller wurde. "Ich weiß nicht recht," sagte sie schließlich. "Hättest du mich in Qafsah gefragt, ehe wir Karnuzîr und dem Nazgûl begegnet waren, hätte ich gesagt: Ich würde dir überall hin folgen, selbst in die Schatten Mordors. Und ich wünschte, es wäre noch immer so. Aber..."
"Es ist seitdem viel passiert," wandte Narissa leise ein. "Es gab da.... einige... schöne Augenblicke... du weißt, was ich meine." Aerien konnte aus ihrer Stimme heraushören, dass Narissa gerade etwas rötlich im Gesicht sein müsste. "Aber ich weiß auch, was du meinst. Die Sache mit Karnuzîr war... übel. Ich kann noch immer nicht recht glauben, dass du tatsächlich in Betracht gezogen hast, seine Frau zu werden."
Aerien wandte den Blick von den Weiten Belegaers ab und drehte sich um, einen ernsten Ausdruck im Gesicht. "Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben. Das war ein Fehler, das weiß ich jetzt."
"Und ob das ein Fehler war. Du hättest wissen sollen, dass ich dich nicht aufgeben würde," warf Narissa hastig ein. "Niemals."
"Ja, ich hätte nicht daran zweifeln dürfen. Aber in der Lage, in der ich mich befand, habe ich versucht, das Beste daraus zu machen. Eine Flucht wäre sinnlos gewesen - ich war unbewaffnet und umgeben von Karnuzîrs Wächtern. Also musste ich mich der Tatsache stellen, dass er mich nach Mordor bringen würde. Um Serelloths Leben zu retten befolgte ich seine Anweisungen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich von ihm erdulden musste.... er hat mich angefasst, Rissa, er hat..." sie brach ab als die Erinnerungen zu schmerzhaft wurden und unterdrückte die Tränen, die ihre Augen zu füllen drohten.
Sofort war Narissa aufgesprungen und war bei ihr. "Du bist jetzt in Sicherheit. Was auch immer dieser Bastard getan hat - wir werden es ihm heimzahlen." Sie schloss Aerien in eine enge Umarmung. "Wenn er dich auch nur einmal unsittlich berührt hat, werde ich ihm seine Hände persönlich abhacken. Ich verspreche es dir."
"Das wird die Erinnerungen nicht auslöschen," stellte Aerien leise klar. Sie kam sich in diesem Moment unendlich schwach und verletzlich vor, und hasste sich dafür. Sie wollte vor Narissa keine Schwäche zeigen - und Tränen schon gar nicht.
"Vielleicht nicht - aber es wird sich gut anfühlen," meinte Narissa grimmig. "Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus möchtest. Dank Karnuzîr bist du dir jetzt nicht mehr sicher, ob du es wirklich ertragen könntest, nach Mordor zurückzukehren."
Aerien nickte langsam und setzte sich auf die Bettkante. Narissa sank neben ihr auf die Matratze und legte die Decke um Aeriens Schultern. "Ich habe immer gedacht, ich wäre stark und mich könnte nichts erschüttern. Ich hatte nie Angst vor irgendetwas, verstehst du? Mein ganzes Leben habe ich gelernt, den Anschein aufrecht zu erhalten und nach außen hart und unnahbar zu wirken. Unerschrocken. Durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Das hat mir mein Vater oft genug gesagt. Halte deine Augen stets offen! hat er gesagt. Bewahre die Ruhe! Aber wie kann ich die Ruhe bewahren, wenn da all diese Gefühle sind, die ich nie gekannt habe? Ich will sie nicht einfach unterdrücken oder verbergen. Ich will dir zeigen, was in mir steckt, Rissa. Und ich will stark für dich sein. Ich will mit dir nach Mordor gehen... auch wenn mir dafür noch die Kraft fehlt."
Anstatt einer Antwort drückte Narissa Aeriens Hand und zog sie an sich. "Du bist stark genug für mich - schon immer," sagte sie dann leise. "Etwas Ruhe wird dir für's Erste ganz gut tun, schätze ich. Morgen ist ein neuer Tag, hm? Und denk dran: du besitzt eine Stärke, die du dir selbst nicht zugestehst. Nutze sie."
"Wo war diese Stärke, als der Nazgûl mich in seinem stählernen Griff hatte? Wo war sie, als Karnuzîr mich gefangennahm?" erwiderte Aerien traurig. "Du hast nicht gesehen, was ich in den grausamen Augen sah, die mich aus der Leere unter der Kapuze dieser... Kreatur aus anstarrten." Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken, ehe sie weitersprach. "Tod und Verderben, Rissa. Mordor wird unser Tod sein, wenn wir nicht darauf vorbereitet sind."
"Das ist eine gute Idee," entgegnete Narissa. "Wir werden uns so gut vorbereiten, wie sich noch niemand in Mittelerde vorbereitet hat. Koste es was es wolle. Wir werden bereit sein, hörst du? Wir werden es schaffen."
Aerien schwieg für einen Augenblick. In ihr regte sich etwas, aufgeweckt durch Narissas Optimismus. "Versprichst du es mir?" fragte sie leise.
"Mordor wird nicht unser Ende sein. Das verspreche ich dir," sagte Narissa feierlich. "Schlaf' jetzt. Morgen beginnen wir mit den Vorbereitungen."
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #24 am: 8. Apr 2017, 15:51 »
Nachdem auch Thorongil und Eayan den Raum verlassen hatten, blieb Edrahil noch einen Augenblick am offenen Fenster stehen und blickte auf das nächtliche Meer hinaus. Dann wandte er sich ein wenig widerwillig ab, und ging ebenfalls zur Tür. Er stieg langsam die Treppe ein Stockwerk hinunter, und betrat dort das kleine Zimmer, dass im Augenblick Serelloth bewohnte. Das junge Mädchen war noch wach, saß halb aufgerichtet im Bett und las im Licht einer kleinen Lampe in einem ein wenig staubigen Buch. Als sie Edrahil hereinkommen hörte, ließ sie das Buch sinken und sagte lächelnd: "Edrahil! Diese Geschichten sind wirklich spannend, ich hätte nie gedacht, dass Bücher so interessant sein können."
Edrahil erwiderte das Lächeln, und setzte sich auf den hölzernen Stuhl neben Serelloths Bett. Nachdem ihre Wunde einigermaßen verheilt war, hatte das Mädchen begonnen, sich zu langweilen und sich mit Sorgen um Aerien und Narissa zu quälen. Also hatte Edrahil sie hin und wieder besucht, um sich mit ihr zu unterhalten und sie ein wenig abzulenken - und, auch wenn er sich das nur ungern eingestand, sich selbst auch. Bei diesen Gelegenheiten hatte er einiges über Serelloth erfahren, über ihr Leben in Ithilien unter den Waldläufern, den Auftrag, der sie nach Harad geführt hatte, und über alles was sie mit Aerien und Narissa erlebt hatte. Er selbst hatte sich hin und wieder dabei ertappt, dass er, von Serelloths Offenheit angesteckt, mehr über sich preisgegeben hatte als er eigentlich wollte. So war sie die bislang einzige, der er verraten hatte, dass er die Hoffnung, in Harad eine Spur seines Sohnes zu finden, noch immer nicht aufgegeben hatte.
Er konnte jedoch nicht den ganzen Tag bei Serelloth sein und mit ihr sprechen, also war er zu Bayyin in den Keller hinunter gestiegen, und hatte sich von ihm eine Sammlung von Geschichten und Legenden aus Harad und Gondor, die irgendein gelehrter Turmherr vor langer Zeit gesammelt hatte, geben lassen. Als er Serelloth das Buch gebracht hatte, hatte diese es zunächst misstrauisch beäugt, und war nicht wirklich begeistert gewesen. Bücher und Geschichten hatten in ihrem kurzen Leben bislang keine Rolle gespielt, sondern waren etwas für Gelehrte wie Bayyin gewesen. Doch offensichtlich hatten die Geschichten Serelloth doch noch für sich einnehmen können, denn bei seinen Besuchen fand Edrahil sie oft lesend vor - wie auch jetzt.
"Nun, ich habe es doch gesagt", erwiderte Edrahil. "Meistens lohnt es sich, auf mich zu hören." Serelloth schnaubte. "Jaja, ihr habt immer Recht."
"Leider nicht immer", meinte Edrahil. "Wenn ich immer Recht hätte, wäre Hasael jetzt nicht mehr Fürst von Umbar, aber... lass uns über etwas anderes reden. Was für eine Geschichte ließt du?"
"Eine Legende aus dem Osten", begann Serelloth. "Darin kommt ein Drache aus dem Norden in das Reich Kush, und verwüstet das Land. Jetzt gerade kommt Anlam, ein großer Krieger, in die Hauptstadt, und bietet an den Drachen zu töten, wenn er danach die Tochter des Königs zur Frau bekommt, und zu seinem Nachfolger ernannt wird."
"Ich kann mir denken, wie es ausgeht", sagte Edrahil, doch Serelloth hob die Hand. "Nein, erzählt es mir nicht", bat sie. "Ich will es selbst lesen."
Edrahil zog eine Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts mehr dazu. Stattdessen wechselte er das Thema. "Was würdest du davon halten, nach Hause zu gehen - nach Ithilien, zu deinem Vater?"
"Ich..." Serelloth stockte, und blickte ihn misstrauisch an. "Ihr wollt mich loswerden? Sobald ich kräftig genug zum Reisen bin?"
"Sobald du kräftig genug zum Reisen bist, ja", bestätigte Edrahil, fügte aber hinzu: "Und es hat nichts damit zu tun, dass ich dich loswerden möchte - oder sonst jemand auf dieser Insel." Ganz im Gegenteil, hätte er beinahe hinzugefügt. Serelloth war, neben Minûlîth, die einzige Person mit der er gerne offen sprach, und Minûlîth wandte zur Zeit viel Zeit für Thorongil und ihren Sohn auf.
"Wir brauchen Kontakte nach Gondor - und nicht nur über Briefe", erklärte er. "Und Dol Amroth muss die Verbindung nach Ithilien wieder aufnehmen, denn alleine wird niemand überleben können. Und da dein Vater der Anführer der Waldläufer dort ist, bist du dazu besser geeignet als sonst jemand."
"Hm... wenn ihr meint...", erwiderte Serelloth, sah allerdings nicht wirklich überzeugt aus. Edrahil seufzte, und nahm ihre Hand, die auf der Bettdecke lag, in seine. "Du möchtest weiterhin mit Aerien und Narissa gehen, nicht wahr?"
"Ihr habt schon wieder Recht", antwortete Serelloth mit einem unglücklichen Nicken. "Das, was passiert ist, ist meine Schuld, und jetzt will ich ihnen helfen. Bei was auch immer sie tun werden."
"Der Weg, den diese beiden gehen werden - vermutlich - ist ein sehr dunkler, und sie müssen ihn alleine gehen", sagte Edrahil ruhig. "Und wenn du nach Ithilien gehst, kannst du uns allen helfen - auch Aerien und Narissa."
Er stand auf, und Serelloth sagte leise: "Also... ich werde darüber nachdenken. Ich vermisse meinen Vater ja auch, und er wird sich schon Sorgen um mich machen, aber..."
"Du hast Angst, dass deine Freundinnen glauben, du würdest sie im Stich lassen wollen?"
"Ja... genau wie damals, nach... Qafsah." Serelloth sprach den Namen der Stadt aus, als würde er ihr Schmerzen bereiten, und Edrahil wusste, warum.
"Sie werden es verstehen, wenn du mit ihnen darüber sprichst. Und ich glaube, sie wissen selbst, dass sie ihren Weg alleine gehen werden müssen." Edrahil wandte sich zum Gehen, doch als er an der Tür war, wandte er sich noch einmal um und sagte: "Serelloth - wenn ich ehrlich sein soll, wäre es mir lieber, wenn du nicht gingst. Aber es muss sein." Er zog sanft die Tür hinter sich zu, und sah sich im dunklen Flur plötzlich Minûlîth gegenüber.

"Der finstere Edrahil hat also doch das ein oder andere Gefühl", sagte sie spöttisch, und bot ihm ihren Arm an. "Geh ein Stück mit mir, ja?" Edrahil ergriff den Arm bereitwillig, und ging mit ihr die Treppe hinunter. "Wenn ich jemals eine Tochter gehabt hätte, hätte ich sie mir wie dieses Mädchen gewünscht", gestand er freimütig. Er war an Minûlîths gelegentlich spöttische Bemerkungen gewöhnt, und sie machten ihm nicht aus. Sie verließen den Turm, und gingen langsam den Weg, der zum Hafen hinunterführte, entlang. "Wie kommt es, dass du Serelloth gegenüber so... anders sein kannst, als gegenüber Narissa, oder Aerien?", fragte Minûlîth schließlich, und Edrahil blickte zum Himmel, an dem der Mond wie eine halbe silberne Münze hing. "Ah", machte er, und blieb stehen. "Darum geht es dir also."
"Darum geht es mir", gab Minûlîth zurück, und befreite ihren Arm. Trotz der Dunkelheit erkannte Edrahil mühelos, dass sie ganz und gar nicht zufrieden mit ihm war. "Du willst sie nach Mordor schicken?"
"Nicht ich", wehrte Edrahil ab. "Wir. Weder Eayan noch Thorongil waren anderer Meinung als ich. Und außerdem haben wir ihnen Gelegenheit gegeben, selbst darüber zu entscheiden."
"Und vorher dafür gesorgt, dass die Entscheidung in deinem Sinne ausfällt?", fragte Minûlîth verächtlich, und Edrahil schüttelte den Kopf. "Ich habe ihnen nur dargelegt, warum es unserer Meinung nach sein muss."
"Und Aerien mit Karnuzîr zu verheiraten, muss das auch sein?" Minûlîths Stimme klang kalt, und Edrahil schwieg einen Augenblick lang. "Thorongil scheint dir wirklich alles erzählt zu haben", sagte er schließlich langsam, und Minûlîth nickte heftig. "Im Gegensatz zu dir scheint er mich nicht vergessen zu haben. In Umbar waren wir Verbündete, Edrahil. Wir haben zusammen gearbeitet, nicht heimlich jeder für sich alleine. Ihr hättet mich wenigstens nach meiner Meinung fragen können!"
Edrahil öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, schloss ihn allerdings wieder ohne etwas zu sagen, was nicht oft vorkam. Weiter im Inneren der Insel stieß ein Nachtvogel klagende Laute aus, während sie schwiegen. Schließlich sagte er: "Das hätten wir tun sollen. Verzeih mir, Minûlîth."
Minûlîth schien einen Moment zu brauchen, um seine Reaktion zu begreifen. "Einfach so?", fragte sie dann. "Du entschuldigst dich und gibst mir Recht? Einfach so?"
Edrahil zuckte mit den Schultern. "Manchmal habe ich Unrecht. Und ganz selten bin ich sogar in der Lage, das einzusehen. Und du hast Recht, es ist nicht richtig gewesen, dich zu übergehen. Immerhin bist du noch immer Minûlîth aus dem Haus Minluzîr und die Herrin von Tol Thelyn."
Ein Grinsen breitete sich auf Minûlîths Gesicht aus, als sie erwiderte: "Wer seid ihr, und was habt ihr mit meinem Freund Edrahil gemacht?"
Mit großer Mühe zwang Edrahil sich dazu, das Grinsen nicht zu erwidern, und sagte stattdessen: "Die Nacht scheint eine gute Zeit für Ehrlichkeit zu sein. Aber warte bis morgen, dann wird der finstere Meister Edrahil zurück sein."
Minûlîth lachte, und fragte dann wieder ernst: "Und was ist nun mit Aerien und Karnuzîr? Ganz davon abgesehen dass es dir niemals gelingen würde, sowohl Aerien als auch Narissa davon zu überzeugen, könnte alleine der Versuch..."
"Es war nur ein Gedanke", unterbrach Edrahil sie. "Kein besonders schöner, und ich denke auch, dass er keinen Sinn hat. Ich werde einen anderen Weg finden müssen."

Während sie zum Turm zurückgingen, kam ihm ein anderer Gedanke. "Kush", sagte er. "Das Reich gibt es nicht mehr, doch heute liegt dort ein anderes Königreich... Kerma?"
"Richtig", meinte Minûlîth. "Aerien und Narissa sind seinem König Músab in Aín Sefra begegnet. Wie kommst du darauf?"
"Serelloth hat eine Geschichte über das alte Kush gelesen", erklärte Edrahil. "Und das brachte mich darauf, dass wir Verbündete brauchen - und in Kerma könnten wir anfangen."
"Das könnte gelingen", erwiderte Minûlîth. "Immerhin ist König Músab mit Aerien verwandt. Die Schwester von Aeriens Großvater, der übrigens die Schwester meines Großvaters geheiratet hatte, ist Músabs Mutter."
"Hm", machte Edrahil, und strich sich nachdenklich über das Kinn. "Vielleicht sollten sie bevor sie nach Mordor gehen, einen Umweg machen..."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Pläne werden geschmiedet
« Antwort #25 am: 10. Apr 2017, 15:04 »
Aerien erwachte früh. Die ersten Sonnenstrahlen drangen gerade erst durch das Fenster und tauchten den Raum in ein geheimnisvolles, bronzefarbenes Licht. Aerien richtete sich im Bett auf - leise und vorsichtig, um Narissa nicht zu wecken, deren Oberkörper sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte. Aerien betrachtete sie einen langen Moment und sah zu, wie die Sonne ihre tastenden Finger langsam über Narissas schlafende Gestalt wandern ließ und ihr weißes Haar einen silbrig-rötlichen Farbton annahm. Dieser Anblick ist definitiv den ganzen Ärger wert, den ich seit der Flucht aus Minas Tirith erdulden musste, dachte Aerien. Ich bin froh, dass mich mein Pfad hierher geführt hat.
Rasch zog sie sich an und wählte eines der leichteren Kleider, die sich in Lóminîths Truhe befunden hatten. Selbst so früh am Morgen drang bereits warme Luft von draußen herein. Die Sommer auf Tol Thelyn waren nur wenig kühler als im Landesinneren Harads und seine Bewohner vertrauten auf die Winde, die vom Meer her über die Insel wehten, um sie ewas abzukühlen. Doch als Aerien vorsichtig eine Hand aus dem Fenster streckte, stellte sie fest, dass sich im Moment kein Lüftchen regte.
Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, Narissa aufzuwecken, doch dann entschied sie sich dagegen. Sie hatte begonnen, ihre Zeit auf Tol Thelyn als eine Art Urlaub zu betrachten, der nicht ewig anhalten würde. Wer weiß, wann wir nach unserem Aufbruch von hier wieder die Gelegenheit haben werden, so richtig auszuschlafen. Also stahl sie sich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer, so dass selbst Narissas geschärftes Gehör nichts davon mitbekam.

Im Eingangsbereich des Turms traf sie auf Minûlîth, die augenscheinlich niemals zu schlafen schien, sondern ständig dieses und jenes organisierte. Sie war wirklich eine äußerst beschäftigte Frau.
"Guten Morgen, Aerien!" rief die Herrin der Insel und umarmte Aerien herzlich, ehe sie dem Mädchen die Hände auf die Schultern legte. "Ich wünschte, meine Schwester könnte dich jetzt gerade sehen. Sie wäre entzückt darüber, wie gut dir ihre Sachen stehen! Weißt du, sie hat sich nur sehr schweren Herzens von diesen Kleidern getrennt. Aber es war nicht zu ändern; das Schiff, dass sie und ihren Verlobten nach Gondor trug, war bis zum Rand vollgestopft. Außerdem haben die meisten der Kleider, die sie hier gelassen hat, einen Schnitt und Muster, die zu sehr nach Umbar und den Südlanden aussehen. Das würde am Hofe von Dol Amroth nicht gut ankommen, wenn du verstehst was ich meine."
Und Aerien verstand. Am Hofe des Fürsten von Durthang war es nicht anders gewesen. Sitten und Moden zu befolgen war ein essentieller Teil davon gewesen, sich dort zu behaupten. Sie war jedoch der Meinung, dass es in Dol Amroth sicherlich nicht ganz so schlimm wie in der Festung der Schwarzen Númenorer zugehen musste. Also nickte sie.
"Ich bin froh darüber, hier einige Sachen zum Wechseln zu haben," sagte sie höflich. "Wenn ich ehrlich bin, hat es mich schon gestört, den ganzen Weg von Mordor bis Ain Séfra immer dieselbe Kleidung zu tragen."
"Das kann ich dir nicht verdenken," meinte Minûlîth. "Wo wir gerade davon sprechen: deine Rüstung habe ich Gardír, dem Schmied gegeben. Du kannst sie dir später bei ihm abholen. Ich habe ihm gesagt, er soll die Siegel Mordors entfernen und die Beulen heraushauen. Er sorgt dafür, dass du im Kampf einen weniger düsteren Eindruck machst; jetzt, wo du nicht mehr für den Schatten kämpfst."
"Ich danke dir, Herrin," antwortete Aerien und wollte respektvoll das Haupt senken, aber Minûlîth hielt sie zurück.
"Nicht so förmlich, meine Liebe, du gehörst doch zur Familie!" rief sie belustigt und versetzte Aerien einen geradezu spielerischen Stups gegen den Oberarm. "Du wirst mich Melíril oder Tante nennen, hörst du?"
"Wie du wünschst, Melíril," sagte Aerien mit einem kleinen Lächeln.
Minûlîth erwiderte das Lächeln. "Du könntest meine Tochter sein, wir sehen uns sogar ein wenig ähnlich - kein Wunder bei unserer Verwandschaft. Weißt du, ich habe mir schon immer ein Mädchen gewünscht - doch dann kam Túor."
"Er ist ein guter Junge," versuchte Aerien dagegenzuhalten.
"Nein, er ist ein Wirbelwind," seufzte Minûlîth. "Und sein Vater stachelt ihn umso mehr auf, mit seinen Geschichten vom Reich der Turmherren und seinen Abenteuern im Süden. Du bist die Einzige, die hier noch etwas Vernunft zeigt, ganz im Gegensatz zu meiner anderen Ersatztochter. Sag' Narissa, dass sie aufhören soll, Túor ihre gefährlichen Kampftricks beizubringen, ja? Er ist noch nicht alt genug für diesen Unsinn... und wenn er es ist, wird sein Vater seine Ausbildung übernehmen. Er hat mehr Erfahrung in solchen Dingen."
"Ich werde es ihr ausrichten," versprach Aerien, auch wenn sie nicht daran glaubte, dass Narissa sich an Minûlîths Anordnung halten würde.
Minûlîth nickte zufrieden. "Wenn du mir noch weiter behilflich sein möchtest, könntest du Serelloth ihr Früstück bringen. Es müsste gleich fertig sein. Würdest du das für mich tun, Aerien?"
"Ich wollte Serelloth sowieso bald besuchen," antwortete Aerien. "Ich gehe sofort. Bis später, Melíril."
Die Herrin der Insel strich Aerien zum Abschied quer über den Kopf und eilte dann geschäftig davon.

Aerien stieß die Tür zu Serelloths Zimmer mit dem linken Fuß auf, denn ihre Hände waren damit beschäftigt, das schwer beladene Tablett zu tragen. Serelloth bekam ein reichhaltiges Frühstück seitdem sie Minûlîth gegenüber erwähnt hatte, dass sie nach dem Aufstehen den größten Hunger des Tages hatte und sich dafür mittags und abends beim Essen eher zurückhielt. Serelloth war bereits wach und war so sehr in ein altes Buch vertieft, dass sie nicht einmal aufblickte sondern nur sagte: "Stell es auf den kleinen Tisch neben mir und dann lass' mich in Ruhe - es ist gerade zu spannend um des Frühstücks wegen mittendrin aufzuhören."
Offensichtlich hatte sie nicht erwartet, dass Aerien diejenige sein würde, die ihr das Frühstück brachte, sondern eine der Bediensteten Minûlîths, weshalb Aerien ihr diese Begrüßung nicht übel nahm. Sie stellte das Tablett wie angeordnet neben Serelloths Bett ab und erwog, ihrer gondorischen Freundin das Buch einfach aus der Hand zu schnappen. Und dabei fiel ihr auf, dass das genau das wäre, was Narissa getan hatte. Sie färbt wohl auf mich ab, dachte Aerien lächelnd und setzte sich auf die Bettkante um abzuwarten.
"Was ist denn noch?" fragte Serelloth, wandte ihr jedoch noch immer nicht den Blick zu.
"Muss wohl wirklich fesselnd sein was du da liest," sagte Aerien schmunzelnd. "Worum geht es denn?"
"Um die Legenden von... Moment mal, Aerien? Du bist das? Oh, ich hatte ja keine Ahnung..."
"Hättest du mich wenigstens eines kurzen Blickes gewürdigt würde dein Gesicht jetzt nicht roter als die Schlange Sûladans werden," neckte Aerien als Serelloth das Buch endlich sinken ließ.
Serelloth entgegnete nichts, ihr schien es die Sprache verschlagen zu haben - etwas, das nur äußerst selten bei ihr vorkam.
"Ich hätte von einer erfahrenen Waldläuferin eigentlich erwartet, dass sie sich ihrer Umgebung ständig bewusst ist - schließlich könnte überall Gefahr lauern," sagte eine neue Stimme. Es war Edrahil, der im Türrahmen lehnte. "Aber keine Sorge, Serelloth - wenn Aerien nichts verrät, wird niemand je herausfinden, dass du dich in einen Bücherwurm verwandelt hast."
"Guten Morgen Meister Edrahil," sagte Aerien und stand auf. Dem Gondorer gelang es noch immer, dass sie sich etwas unbehaglich unter seinem scharfen Blick fühlte. Obwohl er gerade für seine Verhältnisse gute Laune zu haben schien, gab er Aerien dennoch das Gefühl, dass sie sich seines Vertrauens noch immer als würdig erweisen musste.
"Guten Morgen, Aerien. Ich nehme an, Narissa schläft noch?" fragte der Herr der Spione und ging von der Türe weg, bis er neben Serelloths Bett stand, Aerien gegenüber.
Aerien nickte, und Serelloth sagte: "Das passt zu ihr. Kaum ist sie nach Hause zurückgekehrt, wird sie faul." Das Mädchen grinste - ein Anblick, der Aeriens Seele unendlich gut tat. Sie war froh, dass Serelloth die Begegnung mit Karnuzîr überlebt hatte und schon bald nicht mehr ans Bett gefesselt sein würde.
"Edrahil sagt, ich solle nach Ithilen zurückkehren wenn ich wieder reisen kann," erzählte Serelloth. Das machte Aerien nachdenklich, denn sie hatte sich zwar damit abgefunden, mit Narissa auf Arandirs geheimem Weg nach Mordor zu reisen, hatte sich dabei jedoch noch keine Gedanken darüber gemacht, was dann aus Serelloth werden würde. In ihrer bisherigen Vorstellung hatte sie die Straße nach zum Schattenland mit Narissa alleine eingeschlagen. Sie vermutete, dass Edrahil Serelloth zu Damrod schicken wollte, um Verbündete für Dol Amroth und die Insel zu gewinnen, und stellte dem älteren Mann diese Frage.
"Gut erkannt," bestätigte Edrahil. "Imrahil, der Truchsess Gondors, stand bereits seit der Schlacht um Linhir mit Damrod von Ithilien in Verbindung, doch es war nie ein besonders enges Band. Doch dank der Rückeroberung des Ethirs ergeben sich neue Möglichkeiten für Gondor, eine längerfristige Verbindung aufzubauen. Und auch für Tol Thelyn könnte sich eine Allianz mit den Waldläufern als vorteilhaft erweisen."
"Ich verstehe," sagte Aerien. "Und was hältst du davon, Serelloth?"
Das gondorische Mädchen verzog das Gesicht.. "Edrahil hat recht," sagte sie, klang jedoch unglücklich dabei. "Ich sollte gehen, sobald es mir möglich ist. Aber ein Teil von mir würde alles dafür geben, Narissa und dich dorthin zu begleiten, wo euch euer Weg hinführen wird. Ich will nicht, dass ihr euch von mir im Stich gelassen fühlt."
Aerien setzte sich wieder auf die Bettkante und nahm Serelloths Hand. "Nein, Serelloth. Ich weiß, dass du uns nie im Stich lassen würdest."
"Und was habe ich dann bei Qafsah getan?" brach es aus Serelloth hervor. "Sieh doch nur, welches Leid ich dabei verursacht habe. Du wärst um ein Haar zurück nach Mordor gebracht worden!"
Das erinnerte Aerien an das Gespräch, das sie mit Serelloth nach ihrer Rückkehr auf die Insel gehabt hatte - nur hatte sich damals Aerien die ganze Schuld gegeben. "Das hatten wir doch alles schon," sagte sie daher. "Ich glaube, wir hatten uns darauf geeinigt, dass Karnuzîr an allem schuld ist - und nicht du. Ich glaube, Herr Edrahil hat Recht - du solltest nach Ithilien gehen. Und das sage ich nicht, weil ich dich loswerden möchte, sondern weil ich glaube, dass der Wege, der vor Narissa und mir liegt, zu gefährlich ist, um ihn zu dritt zu beschreiten. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst, verstehst du?"
Das brachte ihr einen wütenden Blick von Serelloth ein. "Du weißt ganz genau dass mich keine Gefahren davon abhalten würden, dir zu helfen," presste sie hervor. "Aber ich will mich nicht streiten. Ich weiß, dass Tol Thelyn Verbündete braucht, und mein Vater wird mir zuhören. Also werde ich gehen - aber nur, wenn du mir versprichst, dass ihr mich nach eurem Abenteuer in Mordor auf dem Weg nach Gondor abholt, ja? Ich werde in Ithilien auf euch warten. Versprich es mir!"
"Ich verspreche es," sagte Aerien, und sie meinte es auch so.

Edrahil hatte die Auseinandersetzung bislang stumm verfolgt, doch nun sagte er: "Ihr beiden habt da zwei wichtige Punkte angesprochen. Der Weg nach Mordor wird kein Leichter sein, das ist offensichtlich. Und Tol Thelyn braucht Verbündete, das ist ebenso klar. Deswegen schlage ich vor, dass Aerien und Narissa so bald wie möglich aufbrechen sollten - in Richtung des Königreiches von Kerma."
"Kerma?" wiederholte Aerien verwundert. "Das Reich König Músabs?"
"Ganz genau," erwiderte Edrahil. "Wie ich höre, bestanden einst freundschaftliche Beziehung zwischen den Kermern und den Thelynrim. Und König Músab scheint dir wohlgesonnen zu sein, Aerien. Diese Gelegenheit sollten wir nicht verstreichen lassen. Überdies würde diese Reise sicherlich eine gute Übung für euch sein. Ich werde Narissa wecken und es ihr sagen."
"Sie weiß schon Bescheid," sagte Narissa und kam herein. Sie trug die Haare offen und war wie am Vortag in die Tracht Tol Thelyns gekleidet. Und ganz offensichtlich hatte sie an der Türe gelauscht.
Edrahils linke Augenbraue fuhr in die Höhe. "Nun, wenn dem so ist, habe ich mir den Weg zu deinem Zimmer gerade gespart."
"Und ich finde, wir sollten diese Reise machen," erklärte Narissa. "Kerma liegt am östlichen Meer - damit wäre für dich ein Anreiz geschaffen, dem Reich einen Besuch abzustatten," fügte sie in Aeriens Richtung hinzu.
Aerien hingegen war nicht sonderlich begeistert. Sie hatte sich darauf gefreut, mit Narissa nach Gondor zu gehen, nachdem ihr Auftrag in Saurons Land beendet war. Doch Kerma lag in der entgegengesetzten Richtung. Dennoch verstand sie die Argumente, die dafür sprachen. Also atmete sie tief aus und sagte: "Also gut. Statten wir meinem königlichen Verwandten einen Besuch in seiner Heimat ab...."
« Letzte Änderung: 4. Mai 2017, 15:46 von Fine »
RPG:

Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #26 am: 27. Apr 2017, 16:54 »
Die nächsten beiden Tage vergingen rasch. Narissa las alles, was sich im Turm an Informationen über Kerma finden ließ - was leider nicht allzu viel war - und begann sich, wie sie sagte, für die Reise aufzuwärmen. Morgens lief sie im Dauerlauf zu den Felsklippen im Südwesten der Insel, an denen die während ihrer Ausbildung gelernt hatte, kletterte rasch hinauf und wieder hinunter und lief wieder zurück.
Ihr Onkel schüttelte den Kopf über diesen Eifer, und sagte dazu: "Ihr werdet mit König Músab verhandeln, mehr nicht. " Aber er hielt sie nicht ab.
Am Morgen des dritten Tages ließ Narissa sich von Minûlîth die Haare schneiden. Vorher waren sie mehr als schulterlang und entsprechend auffällig gewesen, jetzt reichten nur einige Strähnen, die zu beiden Seiten des Kopfes locker herunterfielen bis auf die Schultern. Die restlichen Haare band Narissa im Nacken zu einem losen Knoten zusammen und machte sich auf die Suche nach Aerien.
"Du siehst... anders aus", sagte diese, nachdem Narissa sie auf dem Hof vor dem Turm gefunden hatte.
"Ich dachte mir, es wird vielleicht Zeit ein wenig unauffälliger zu sein", erklärte Narissa, und biss sich auf die Unterlippe. "Gefällt es dir nicht?" Sie fuhr sich ein wenig unsicher mit der Hand über den freien Nacken. Früher hatte sie nie großen Wert auf ihr Äußeres gelegt und es war ihr egal gewesen, was andere von ihr dachten. Viel hatte sich daran eigentlich nicht geändert, doch jetzt gab es eine Person, deren Meinung für sie zählte.
"Es ist nur ungewohnt", erwiderte Aerien mit einem beruhigenden Lächeln, und lehnte ihr Schwert, dass sie geschärft hatte, an die von der Sonne warme Außenmauer des Turmes. "Ich finde, es steht dir durchaus."
Narissa versetzte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange, fragte aber: "Meinst du wirklich?" "Natürlich", gab Aerien mit gespielten Vorwurf zurück. "Glaubst du, ich würde ich anlügen?"
"Hm. Nein."
"Na also. Aber warum ausgerechnet jetzt? Ich glaube nicht, dass König Músab dich an Suladân verkaufen würde." Narissa zog die Schultern noch. "Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass an dieser Sache mehr dran sein wird, als wir jetzt denken."
"Dann hoffe ich, dass dein Gefühl sich täuscht", meinte Aerien. "Ich würde mich jedenfalls über eine angenehm friedliche Reise, hin und wieder zurück, nicht beschweren - wenn man bedenkt was noch vor uns liegt."
"Mhm." Narissa zog sie am Ärmel mit sich. "Lass uns um die Wette laufen, zu den Felsen im Süden. Wer zuletzt da ist, der... das überlege ich mir noch."
"Ich werde nicht in einem Kleid um die Wette laufen!", protestierte Aerien.
"Dann zieh dich eben um - ich warte solange hier. Oder ich verschaffe mir schon einen kleinen Vorsprung...", erwiderte Narissa mit einem Grinsen, und Aerien drohte ihr mit erhobenem Zeigefinger. "Du bist wirklich unmöglich. Wag es ja nicht!"
Narissa lehnte sich an die waren Steine der Mauer und sagte mit einem frechen Grinsen: "Hast Recht, ich habe es nicht nötig, mir einen Vorsprung zu verschaffen. Also los, lass mich nicht zulange warten!"

Nicht allzu lange Zeit später ließ sie sich unterhalb des Kletterfelsens ins dichte Gras fallen. Ihr Atem ging ein wenig schneller als üblich und auf ihren Schläfen und der Stirn glitzerten feine Schweißtropfen. Trotzdem war sie zufrieden, denn sie war schneller als Aerien gewesen.
Diese ließ sich einige Herzschläge später neben Narissa zu Boden gleiten, atmete allerdings ein wenig ruhiger und wirkte weniger angestrengt. "Das nächste Mal laufen wir in voller Rüstung", schlug sie mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen vor.
"In voller Rüstung? Darin kann man sich ja nicht einmal richtig bewegen!", wehrte Narissa ab, und begann unbewusst mit Aeriens Pferdeschwanz zu spielen, ließ die seidigen schwarzen Haare durch die Finger gleiten. "Du vielleicht nicht", stichelte Aerien. "Ich wette mit dir, in voller Rüstung würdest du doppelt so lange brauchen, und ich wäre genauso schnell wie jetzt."
"Ha! Das ist doch Angeberei", meinte Narissa, aber sie sagte es ohne Schärfe. Auf der Lichtung unterhalb der Felsen war es friedlich und ruhig, und einige Vögel sangen in den Bäumen und vom Meer her waren leise die Schreie der Möwen zu hören. Diesem Geräusch entging man auf der Insel nirgends, und es war für Narissa ein Stück Heimat. "Höchstens ein bisschen", sagte Aerien ein wenig schläfrig. Narissa hatte sich inzwischen aufgesetzt, und Aerien hatte den Kopf auf ihren Oberschenkel gebettet.
Sie blieben einige Zeit schweigend so sitzen, und Narissa wünschte sich beinahe, nie wieder fortgehen zu müssen. Doch irgendwann sagte sie ein wenig wehmütig: "Wir sollten zurückgehen. Sonst kann Serelloth sich nicht von uns verabschieden, und du kannst dir ja vorstellen, was sie davon halten würde."
Aerien seufzte, lächelte aber als sie antwortete: "Ja, das kann ich mir nur allzu lebhaft vorstellen..."

An dem Kai, an dem die Thoroval vor Anker lag, hatten sich eine kleine Menge versammelt, als Aerien und Narissa den Hafen erreichten. Hallatan, der Kapitän der Thoroval verabschiedete sich gerade von seinem Sohn Hírilorn. Ta-er, die Serelloth als Vertreterin des Silbernen Bogens nach Gondor begleiten würde, sprach leise mit Eayan, während Serelloth mit Edrahil, Thorongil und Minûlîth redete. 
Als Narissa und Aerien zu ihnen traten, sagte Serelloth: "Da seid ihr ja. Ich dachte schon, ihr wolltet mich aufbrechen lassen, ohne mich zu verabschieden." Sie sagte es im Scherz, doch es war deutlich zu erkennen, dass ihre Aussage einen wahren Kern hatte. Bei aller äußerlichen Unbeschwertheit schien Serelloths Selbstsicherheit in letzter Zeit ein wenig gelitten zu haben. Narissa hoffte, dass sie in Ithilien zurechtkommen würde - doch mit Ta-er an Serelloths Seite brauchte sie sich vermutlich keine Sorgen zu machen.
"Das würde uns doch nie einfallen", erwiderte Aerien, und schloss das Mädchen fest in die Arme. "Sei vorsichtig und pass auf dich auf. Und grüß deinen Vater von mir, wenn du ihn siehst - und Beregond, falls er dort ist."
"Das mache ich, 'Rien... und ich werde ihm auch erklären, warum du einfach verschwunden bist", sagte Serelloth mit einem Augenzwinkern, und Aerien räusperte sich ein wenig unbehaglich. "Ja bitte, erklär es ihm und sag ihm, dass es mir leid tut ihn einfach alleine gelassen zu haben."
Als nächstes umarmte Serelloth Narissa, und sagte: "Pass gut auf Aerien auf - obwohl, das tust du wahrscheinlich sowieso."
Narissa nickte, und Aerien warf ein: "Und wer passt auf sie auf?" Serelloth lachte. "Dann passt eben aufeinander auf. Bitte."
Verstohlen schob Narissa ihre Finger durch Aeriens, als sie antwortete: "Natürlich. Irgendwann treffen wir uns alle heile in Gondor wieder. Das verspreche ich, Serelloth."
"Man sollte nur Dinge versprechen, die man halten kann", sagte Edrahil leise, und Minûlîth verdrehte die Augen.
"Was ich verspreche, halte ich", gab Narissa entschlossen zurück. Sie würde sich nicht von einem alten Mann ihre Zuversicht nehmen lassen. Edrahil schwieg, doch der Zweifel in seinen Augen war nicht zu übersehen.
Serelloth verabschiedete sich auch von Minûlîth und Thorongil und bedankte sich für ihre Gastfreundschaft, und sagte zuletzt Edrahil Lebwohl. Sie umarmte den Spion kurz, obwohl dieser nicht unbedingt damit einverstanden zu sein schien, und Narissa nahm sich vor, sich seinen verdutzten Gesichtsausdruck zu merken um sich später aufzuheitern.
"Auf dem Schiff wirst du etwas finden, um dir die Zeit auf der Reise zu vertreiben", sagte Edrahil leise. "Jetzt geh, Serelloth."
Nacheinander kletterten Serelloth, Hallatan und Ta-er an Bord der Thoroval. Die Leinen wurden losgemacht, und ein leichter Wind trieb das Schiff langsam aus dem Hafen und in Richtung Norden.
Während das Schiff sich langsam entfernte, fragte Narissa: "Was habt ihr gemeint, Edrahil? Womit soll Serelloth sich die Zeit vertreiben?"
"Ich habe... einige Bücher die ihr gefallen könnten aus der Bibliothek des Turmes entwendet", antwortete der Spion, und Thorongil wandte ihm überrascht den Kopf zu. "Ihr habt was? Ihr hätte auch einfach fragen können, das wisst ihr."
"Durchaus", erwiderte Edrahil. "Aber das hätte die Überraschung verdorben. Ihr hättet es womöglich eurer Frau erzählt und Minûlîth ist, wie wir alle, der Verbreitung von Gerüchten nicht allzu abgeneigt..." Die Angesprochene schnappte empört nach Luft, doch alle anderen lachten - selbst Eayan, der normalerweise nur selten überhaupt lächelte.

Langsam zerstreute sich die Menge, doch Narissa und Aerien blieben noch einige Zeit am Hafen stehen und sahen der Thoroval nach, bis sie am Horizont verschwand. "Ich wünschte, wir hätten mitfahren können", meinte Narissa. "Gemeinsam Gondor erkunden, Dol Amroth und Ithilien sehen..."
"Eines Tages", sagte Aerien leise. "Eines Tages werden wir zusammen nach Gondor gehen, und selbst die Weiße Stadt sehen, frei von Saurons Dienern, wie sie sein sollte. Aber vorher gibt es noch viel zu tun."
"Ich weiß." Narissa seufzte. "Also dann... morgen sind wir an der Reihe."

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"Sternchen"
« Antwort #27 am: 28. Apr 2017, 23:41 »
Aerien saß in Narissas Turmzimmer am Fenster und sah der Sonne dabei zu, wie sie langsam über dem rotgoldenen Ozean Belegaer versank. Auf dem Rückweg zum Turm war Aerien bereits wortkarg gewesen, und nun, da sie für einige Momente alleine war, hatte sie endlich Zeit, ihre durcheinander geratenen Gedanken zu ordnen. Narissa war ihr bislang nicht die Treppe des Turmes hinauf gefolgt, sondern war in Richtung der Küche abgebogen. Wahrscheinlich wollte sie sich dort nach Essen umsehen. Aerien hingegen verspürte kaum Appetit. Serelloths Abschied hatte sie an etwas erinnert. Schemenhafte Bilder aus ihrer Vergangenheit zogen vor ihrem inneren Auge herauf...

~~~

Azruarî Minluzîrith stand neben der dreizehnjährigen Azruphel und hatte die Hand ihrer Enkelin fest ergriffen. Hinter ihnen ragte das düstere große Tor Durthangs in den von dicken Wolken bedeckten Himmel Mordors hinauf und versprach all jenen, die seine Schwelle ohne Erlaubnis überquerten, ein grausames Schicksal. Dies war Azruphels Zuhause... der einzige Ort, den sie kannte. Hier waren ihre Familie und alle, die sie kannte... doch dies änderte sich nun.
"Dies ist eine große Ehre für deinen Vater," sagte Azruphels Mutter Lóminzîl leise. "Er wird zum Dunklen Turm gerufen und vor den Großen Gebieter treten. Dies wird nur den würdigsten Dienern des Auges gewährt." Neben ihr standen zwei schweigsame Gardisten, deren Namen Azruphel nur deshalb kannte, weil ihr Vater seit seiner Ernennung zum Fürsten von Durthang dazu übergegangen war, selbst den niedersten Bediensteten mit vollem Namen anzusprechen; eine Geste des Respekts, die ganz und gar ungewöhnlich für den Bâr n'Adûnâi, den Herrn der Erben Númenors, war. Azruphels Großmutter hatte ihr einmal erklärt, dass ihr Vater Varakhôr einen anderen Ansatz verfolgte als sein Vorgänger, der in Lugbûrz saß und dort als Mund des Großen Gebieters bekannt war. Varakhôr herrschte nicht durch Furcht, sondern durch Respekt. Er war weniger grausam, doch dabei nicht weniger konsequent. Er gab jenen eine Chance, die sich durch ihre Talente hervortaten und stellte selbst die hochgeborensten Söhne und Töchter Durthangs auf die Probe. Und bislang schien diese Methode zu funktionieren. Niemand stellte die Autorität von Azruphels Vaters infrage. Seit seinem Amtsantritt hatte es nicht einen einzigen Attentatsversuch gegeben. Dennoch ließ er seine Familie stets gut bewachen. Die Gardisten - Aglarân und Zaphrakár - waren altgediente Veteranen und erledigten ihre Aufgaben ohne zu murren. Azruphel war das ganz recht, denn so konnte sie die Gegenwart der schwer gepanzerten, furchteinflößenden Gestalten recht gut ausblenden.

Eine Bewegung zu ihrer Rechten erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ihr schwarzsilbernes Kleid flatterte leicht im Wind, der durch das Tal von Durthang glitt und Azruphel ließ die Hände an ihren Seiten hinabgleiten, um den Saum unten zu halten. Als sie wieder aufblickte stand jemand vor ihr. Es war Arnakhôr, Abrazîrs Sohn, gehüllt in dunkelgraue, edle Gewänder. Er war sechs Jahre älter als Azruphel und nach dem Gesetz der Númenorer ein ausgewachsener Mann. Aber Azruphel erinnerte sich noch an den Jungen, der er gewesen war, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. Rasch unterdrückte sie jegliche Anspannung und begegnete seinem Blick mit der für solche Anlässe angebrachte Neutralität. Eine Pause trat ein, während ihr Vater im Hintergrund in den Sattel seines schwarzen Rosses stieg.
"Was gibt es, Arnakhôr?" fragte Azruphel schließlich, nachdem sie innerlich bis siebzig gezählt hatte.
"Wie fühlst du dich?" konterte ihr Gegenüber und brachte Azruphel damit aus dem Konzept. Zwar hatte ihre Mutter bereits damit begonnen, ihr die Feinheiten der Gesprächskunst beizubringen, doch Azruphel war noch immer ein Mädchen, das gerade erst an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand, und hatte die unterschütterliche, ruhige Miene, die ihre Mutter so perfekt beherrschte, noch längst nicht vollständig unter Kontrolle. "Es ist das erste Mal, dass dein Vater Durthang für längere Zeit verlassen wird," fuhr Arnakhôr fort. "Wirst du ihn vermissen?"
Das war eine sonderbare Frage. Natürlich würde Azruphel ihren Vater vermissen. Aber wieso wollte Arnakhôr das wissen? "Es geht mir gut," sagte sie diplomatisch und wiederholte, was ihre Mutter zuvor gesagt hatte: "Ihm wird eine große Ehre zuteil."
Arnakhôr betrachtete sie mit einem seltsamen Blick, unter dem Azruphel sich noch unbehaglicher als zuvor fühlte. Sie fühlte sich nackt und schlang unbewusst die Arme um den Oberkörper.
"Geh deiner Wege, Junge," zischte Azruphels Großmutter Azruarî. "Sie verabschiedet sich von ihrem Vater, und du bist ihr im Weg. Vergiss nicht, wo dein Platz ist."
"Ich kenne meinen Platz, Herrin," gab Arnakhôr zurück. "Ich kenne ihn sehr genau." Damit gab er den Weg frei und verschwand in der Menge.

Azruphel lief rasch auf die andere Seite der Straße, wo sich die Eskorte ihres Vaters um sein Pferd sammelte. Die in graue, düstere Rüstungen gehüllten Krieger bildeten eine Gasse für das Mädchen und sie blieb neben den Vorderbeinen des Pferdes stehen. "Vater," rief Arzuphel und erregte Varakhors Aufmerksamkeit, als er gerade seinen Helm aufsetzte.
"Ich erwarte, dass du deine Studien in meiner Abwesenheit nicht vernachlässigst, Azruphel," erwiderte er und strich ihr über den Kopf.
"Das werde ich nicht, Vater. Ich verspreche es!"
"Wenn ich zurückkehre, werden wir gemeinsam herausfinden, ob du dich für das Erlernen der dunklen Künste eignest," versprach Varakhôr im Gegenzug. "Der Große Gebieter hat einen Auftrag in Khand für mich. Es werden viele Tage vergehen, bis wir uns wiedersehen. Bleibe unerschrocken, und höre auf deine Mutter. Gib immer dein Bestes - für das flammende Auge."
"Für das flammende Auge," wisperte Azruphel andächtig.
Varakhôr gab seinem Pferd die Sporen und preschte davon, gefolgt von seiner Eskorte. Azruphel blieb allein zurück.


~~~

Serelloths Abschied war eine ganz andere Sache als der Aufbruch ihres Vaters gewesen, aber in Aerien hatte er ähnliche Gefühle der Veränderung und des Verlusts ausgelöst. Sie hatte damals natürlich gewusst, dass ihr Vater zurückkehren würde; hatte fest damit gerechnet und war nicht enttäuscht worden. Aber mit Varakhôr war damals ein fester Bestandteil ihres Lebens für eine Zeit lang verschwunden, und hatte Azruphel damit aus ihrem gewohnten Alltag gerissen. Das Gefühl, das sie gehabt hatte als sie der Thoroval nachgesehen hatte, war beinahe exakt dasselbe gewesen, das die dreizehnjährige Azruphel damals empfunden hatte, als sie ihren Vater davonreiten sah. Und damals wie heute blieb sie in der Geheinschaft von Menschen zurück, die sie als ihre Familie bezeichnete. Dennoch würde für einige Zeit jemand fehlen.

Als Aerien an ihre neue Familie dachte kam wie aufs Stichwort Narissa hereingeplatz, voll beladen mit allerlei Köstlichkeiten, die sie später als "das beste Abendessen, das Tol Thelyn je gesehen hat" bezeichnete. Sie stellte kurzerhand alles auf ihr Bett und kam zu Aerien hinüber. "Du kannst ein andermal trübsinnig sein, Sternchen. Heute ist unser letzer Abend auf der Insel. Und den werden wir feiern, hörst du? Ich will keine traurigen Gesichter sehen."
"Wie hast du mich gerade genannt, Rissa?"
Narissa stupste mit ihrem Zeigefinger gegen Aeriens Medaillon, das aus ihrem Ausschnitt hervorragte. "Finde dich damit ab. Es war an der Zeit, dir einen Spitznamen verpassen. Das fand zumindest Túor, und ich stimme ihm voll zu."
"Túor nennt mich..."
"Er ist ein aufgewecktes Kerlchen, findest du nicht?"
"Du hast ihn auch noch ermuntert? Du bist wirklich unmöglich!"
Narissa grinste unverschämt. "Das wusstest du schon bevor du dich mit mir eingelassen hast, und es hat dich nicht davon abgehalten, mir deine..."
"Kein einziges Wort mehr!" unterbrach Aerien ihre Freundin, ehe sie weitersprechen konnte. "Dir werd' ich's zeigen!"
Und damit stürzte sie sich auf Narissa.

Am späten Vormittag des nächsten Tages standen Túor und Thorongil nebeneinander am Kai von Tol Thelyn und sahen zu, wie sich ein Ruderboot vom Festland näherte. Narissa hatte darauf bestanden, keines der großen Schiffe für die Überfahrt zu benutzen, da "kleine Boote viel aufregender sind". Sie hielt Aeriens Hand und wippte aufgeregt mit den Beinen auf- und ab, bis Aerien ihr einen gereizten Klaps auf den Rücken versetzte. "Bei den... silbernen Glocken von Valimar," wisperte sie. "Nächstes mal werde ich den Wein so gut verstecken, dass ihn selbst der beste Meisterdieb Mittelerdes nicht finden kann."
Narissa hingegen grinste breit. "Du wolltest doch wohl nicht gerade Bei den Sternen sagen, hmm?"
"Untersteh' dich," drohte Aerien, und tatsächlich beschränkte sich Narissa darauf, einen Stern mit ihrem Finger in die Luft zu malen. Aerien schlug danach, doch Narissa zog die Hand aus ihrer Reichweite.
"Deine gute Laune ist wohl nicht ganz so ansteckend wie ich dachte," sagte Minûlîth, die das Ganze mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete. "Aerien scheint zumindest völlig immun dagegen zu sein."
"Wenigstens eine, die den Ernst der Lager erkannt hat," sagte Edrahil, der gerade herbeikam. "Vergesst nicht, wie wichtig euer Auftrag ist, Mädchen. Ihr müsst bei König Músab einen guten Eindruck machen und die Insel würdig vertreten. Wir brauchen dieses Bündnis."
"Ich weiß das, Meister Edrahil," sagte Aerien betont. "Und ich gebe Euch mein Wort, dass ich mein Bestes dafür tun werde, dass das Königreich von Kerma ein Bündnis mit Tol Thelyn schließt."
"Ich verlasse mich darauf, Aerien," schärfte Edrahil ihr noch einmal ein. "Und der Herr und die Herrin der Insel tun es ebenso."
Thorongil, der Túor inzwischen auf die Schultern gehoben hatte, meinte: "Sie schaffen das schon, Edrahil. Vergesst nicht, auf eurer Reise auf hin und wieder ein wenig Spaß zu haben! Dass ihr vorsichtig sein und um Sûladans Reich einen weiten Bogen machen solltet wisst ihr ja bereits. Vertrödelt nicht zu viel Zeit in Kerma! Es ist ein faszinierendes Land, das viel zu bieten hat, aber wir brauchen euch bald wieder hier."
"Rissa und Sternchen machen das schon," stellte Túor zuversichtlich klar. "Ich habe euch nämlich nicht erlaubt, zu versagen."
"Na wenn das so ist," lachte Narissa, während Aerien nun doch den Anflug eines Lächelns zeigte. Sie hatte Túor trotz des fürchterlichen Spitznamens, den er ihr verpasst hatte, ins Herz geschlossen.
Endlich erreichte das Boot den Kai und drei Thelynrim sprangen von Bord, während der vierte sitzen blieb und die Vorräte entgegennahm, die man ihm reichte. Aerien und Narissa kletterten an Bord - Aerien vorsichtig und bedacht, Narissa mit einem übermütigen Sprung - und machten es sich im Bug gemütlich.
Jetzt beginnt es also, dachte Aerien.
Thorongil, Túor, Minûlîth und sogar Edrahil winkten ihnen zum Abschied, als das Boot wieder in See stach und sie in Richtung des Festlandes trug.

Aerien und Narissa nach Weit-Harad
« Letzte Änderung: 9. Jun 2017, 15:55 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #28 am: 25. Mai 2017, 13:53 »
Edrahil öffnete die eisenbeschlagene Tür im untersten Keller des Turmes und trat in den dunklen Raum hinein. Seine Fackel bot die einzige Lichtquelle im Raum und enthüllte einen Boden aus nacktem Stein, der nur mit einer dünnen Strohschicht bedeckt war. In einer Ecke kauerte Karnuzîr. Eine recht kurze Kette verband seinen rechten Arm mit der Wand, und schränkte ihn stark in seiner Bewegungsfreiheit ein. Als er das Licht der Fackel bemerkte, hob Aeriens Vetter kurz den Kopf, ließ ihn allerdings sofort wieder sinken als er Edrahil erkannte.
Edrahil befestigte die Fackel in einem Halter an der Wand und ließ sich schweigend auf einem Stuhl nieder, der Karnuzîrs Ecke gegenüberstand - zu weit entfernt als dass Karnuzîr ihn erreichen konnte. Eine notwendige Vorsichtsmaßnahme, denn selbst so gründlich geschlagen wie er war, schätzte Edrahil Karnuzîr noch immer als extrem gefährlich ein.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen, während dem Edrahil den Gefangenen nicht außer Augen ließ. Es war wichtig, dass Karnuzîr den ersten Schritt machte, denn wenn er das Gespräch eröffnete, würde er eher bereit sein, zu reden.

Schließlich hob Karnuzîr den Kopf. Das Fackellicht spiegelte sich flackernd in seinen dunklen Augen, als er fragte: "Was wollt ihr? Mich foltern? Dann nur zu..."
"Nicht foltern", erwiderte Edrahil. Seine Stimme war weich wie Samt, weise und gütig. Er hatte diese Stimme lange geübt, und in Dol Amroth oft eingesetzt um gefangene Kriminelle auf seine Seite zu ziehen. Ehemalige Kriminelle boten oftmals die besten Spione unter dem gemeinen Volk, und viele besaßen äußerst nützliche Kontakte. "Nur reden."
Karnuzîr schnaubte verächtlich. "Reden. Natürlich. Vielleicht wollt ihr mir beim Reden noch den ein oder anderen Finger abnehmen?" Seine Stimme klang bitter, offenbar hatte Thorongils Folter ihn doch stärker getroffen als er zeigen wollte.
Edrahil schüttelte langsam den Kopf. "Nein, das ist nicht wirklich meine Art." Das war nicht die ganze Wahrheit. Er sah durchaus den Sinn darin, gefangene Feinde zu foltern um an Informationen zu kommen. Doch in diesem Fall hatte Thorongil bereits die Vorarbeit geleistet, und nun würde er etwas anders - feinfühliger - vorgehen können. "Sagt mir, Karnuzîr, wisst ihr, wer ich bin?"
Der Gefangene schüttelte den Kopf. "Nein. Nicht die geringste Ahnung - wahrscheinlich seid ihr irgendeiner der Folterknechte dieses Turmherren. Also tut endlich, wozu ihr hergekommen seid." Edrahil seufzte. Offensichtlich hatte Karnuzîr überhaupt keine Ahnung davon, dass es auch in einer solchen Situation noch andere Methoden gab, das zu bekommen was man wollte, als brutale Folter.
"Eher sein Verbündeter", erwiderte er. "Mein Name ist Edrahil - von Linhir, wenn man so will, obwohl ich strenggenommen kein Adeliger bin. Ich bin der Herr der Spione von Dol Amroth."
Zum ersten Mal flackerte ein Hauch von Interesse in Karnuzîrs Augen auf. Damit hatte er offenbar nicht gerechnet. "Ihr seid weit weg von zu Hause, alter Mann."
"Ihr hingegen nicht", gab Edrahil zurück.
"Mordor ist weit weg von hier."
"Oh, ich spreche nicht von Mordor." Edrahil lächelte. Es war immer ein Vorteil, den Schwachpunkt des Gegners zu kennen, und Aeriens Erzählung über Kanuzîr hatte sich in dieser Hinsicht als überaus aufschlussreich erwiesen. "Das große weite Land Harad liegt gleich auf der anderen Seite der Bucht - und ihr seid ja immerhin zur Hälfte haradischer Abstammung, nicht wahr?"
Karnuzîr spuckte verächtlich zur Seite aus. "Mein Vater stammt aus dem Haus der Fürsten von Durthang, den einzig wahren Erben Númenors."
"Das mag sein. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ein solch edles Haus jemanden mit eurer Abstammung zu sich zählen würde..." Karnuzîr schwieg und sah zu Boden. Offenbar hatte Edrahil mit seiner Vermutung goldrichtig gelegen, und seinen wunden Punkt direkt getroffen. "Deswegen wolltet ihr Aerien entführen und als eure Frau nach Durthang führen", fuhr er mit weicher Stimme fort. "Ihr wolltet euch auf diese Weise legitimieren, und endlich wirklich zu ihnen gehören."
"Schweigt", sagte Karnuzîr leise und tonlos, doch Edrahil ließ sich nicht beirren. "Aber ist das wirklich nötig, Karnuzîr? Warum um die Anerkennung von Leuten kämpfen, die euch nie wirklich als einen der ihren anerkennen wollen, egal was ihr tut? Warum nicht jemand anders sein, nicht sein, wer ihr sein könnt? Ich hätte ein Fischer sein sollen, aber das wollte ich nicht - also habe ich einen anderen Weg eingeschlagen. Vielleicht wird es auch für euch Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen."
"Ich... werde nicht... kann nicht..." Unsicherheit flackerte auf Karnuzîrs bleichem Gesicht auf. Edrahil stand auf. Für heute war es genug - es war nicht möglich, jemanden an einem einzigen Tag zu ändern. Er musste Karnuzîr für sich allein nachdenken lassen, und später wiederkommen - so oft es nötig sein würde.
"Denkt über meine Worte nach", sagte er, als er an der Tür war. "Ich lasse euch die Fackel da - noch etwa eine Stunde Licht. Vielleicht beginnt ihr dann, den Wert des Lichts in der Dunkelheit zu begreifen."
Mit diesen Worten verließ er das Verließ, und stieg langsam die Treppe hinauf zurück in das Licht des Tages.

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #29 am: 24. Aug 2017, 18:33 »
Karnuzîr blickte Edrahil mit versteinerter Miene entgegen, offenbar hatte er ihn bereits erwartet. Einige Tage waren seit Edrahils letztem Besuch vergessen, doch die Zeit in der Dunkelheit schien den Gefangenen nicht gebrochen zu haben - noch nicht, zumindest.
"Habt ihr mich vermisst, alter Mann?", fragte Karnuzîr mit einer vor Hohn triefenden Stimme. "Oder warum seit ihr hier?" "Natürlich habe ich euch vermisst", entgegnete Edrahil mit kaum verhülltem Spott, und befestigte die Fackel in der Wandhalterung, von wo sie ein sanft flackerndes Licht über den kleinen, steinernen Raum warf. "Wie könnte ich auch nicht, bei eurer natürlichen Freundlichkeit?"
Karnuzîr schnaubte verächtlich und wandte den Kopf ab. "Fangt schon an. Droht mir damit, meine Mutter oder meinen Vater in eure Gewalt zu bringen und zu foltern, bis ich euch gebe was auch immer ihr von mir wollt. Denkt nicht, ich hätte nicht verstanden, was ihr letztes Mal sagen wolltet, als ihr sie erwähnt habt." Er hob den Kopf wieder und strich sich mit der freien Linken einige verfilzte schwarze Haare aus dem Gesicht. Seine dunklen Augen brannten. "Aber ihr werdet keinen Erfolg haben - sie bedeuten mir nichts. Nichts im Vergleich zu der Sache, der ich diene."
Edrahil schlug ein Bein über das andere und legte die Fingerspitzen zusammen. "Das ist überaus schade, Karnuzîr. Sollte ich Thorongils Männer gänzlich umsonst zu eurer Mutter geschickt haben?" Natürlich hatte er nichts dergleichen getan, aber er hatte das unmerkliche Zittern in Karnuzîrs Stimme bemerkt. So hart und unbeeindruckt Aeriens Vetter auch tun mochte, in seiner Mutter besaß er trotz aller gegenteiligen Beteuerungen einen deutlichen Schwachpunkt. Vielleicht sollte er seine Lüge doch noch zur Wahrheit machen, überlegte Edrahil.
"Aber sprechen wir doch über etwas anderes", wechselte in einem munteren Plauderton das Thema, während Karnuzîr ihn aus seiner dunklen Ecke misstrauisch beobachtete. Nicht ohne Grund fürchtete er sichtlich eine Falle. "Wie wäre es mit Serelloth? Es wird euch sicherlich beruhigen, dass das Mädchen inzwischen vollständig genesen und in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Immerhin wart ihr dafür verantwortlich, dass sie beinahe gestorben ist."
"Das war notwendig", erwiderte Karnuzîr nach kurzem Zögern mit flacher, ausdrucksloser Stimme. "Hätte ich sie nicht verwundet, hätte diese weißhaarige Schlampe und sofort verfolgt."
"Nun nun. Ich würde euch raten, Narissa ein wenig höflicher zu bezeichnen - immerhin hat ihr Onkel sie sehr gern. Und wozu er fähig ist wenn er zornig ist, hast du selbst erlebt." Edrahil deutete mit einem Nicken auf Karnuzîrs verstümmelte und vernarbte linke Hand. Karnuzîr zuckte mit den Schultern. "Die Schmerzen bedeuten mir nichts."
Edrahil nickte langsam, ohne jedoch weiter auf Karnuzîr einzugehen. "Jedenfalls stimme ich die vollkommen zu, in der Situation in die du dich gebracht hattest, war es notwendig, Serelloth zu verwunden. Noch besser wäre es gewesen, Narissa zu töten, aber ich bezweifle, dass euch das ohne Schwierigkeiten gelungen wäre. Oder vielleicht..."
"Sie sollte es sehen", unterbrach Karnuzîr ihn mit nur unzureichend unterdrücktem Zorn. "Sie hatte mir gestohlen was mir zusteht, sie hatte mir Azruphel gestohlen, die mir gehören sollte. Und sie sollte leben und sehen, wie ich sie mir zurückhole."
"Wir sind uns denke ich einig, dass sich das am Ende als Fehler erwiesen hat", meinte Edrahil mit einem Lächeln, und beugte sich ein Stück vor. "Aber das klang beinahe so, als würdest du Aerien... lieben?" Er sagte es leichthin, in verwundertem Tonfall, so, als würde er es für völlig unmöglich halten, und Karnuzîr reagierte wie erwartet.
"Ich begehre sie", höhnte er. "Welcher Mann würde das nicht tun? Selbst in eurem Alter sollte euch aufgefallen sein, dass sie eine schöne Frau ist, oder hat eure Sehkraft bereits soweit nachgelassen? Und außerdem stand sie mir zu." Eine erneute Lüge, dachte Edrahil bei sich.
"Anstatt ihr und Narissa also geplant und überlegt eine Falle zu stellen, sobald die die Insel verlassen hätten, habt ihr und eure Freunde beschlossen euch in die Höhle des Löwen zu wagen - nur wegen eures gekränkten Stolzes." Edrahil lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. "Vergebt mir, aber das klingt nicht die die Diener Mordors, die ich bislang kennengelernt habe. Diese sind kühl und überlegt, und lassen sich nicht von niederen Bedürfnissen dazu hinreißen, ihren waren Zweck zu erfüllen. Oh, natürlich gibt es jene die von Habgier, Eifersucht, und Hass getrieben werden, aber dass sind solche, die euer Herr lieber früher und später seinen Zwecken opfert. Ich hatte euch nicht für einen solchen gehalten, Karnuzîr."
"Das bin ich auch nicht", widersprach der Gefangene heftig. "Ich bin Auge und Ohr des Gebieters in Harad, einer seiner treuesten Diener, und..."
Edrahil lächelte mitleidig. "Ach bitte. Glaubt ihr, Sauron würde einem seiner wichtigsten Diener gestatten, für einen solch unbedeutenden Rachefeldzug sein Leben und das seiner Männer zu riskieren? Und seht nur, was ihr angerichtet habt. Ihr habt eure Männer verloren, habt euch gefangen nehmen lassen, und das Band zwischen zwei von Saurons Widersachern so eng geschmiedet, dass es ihm schwer fallen wird, in Zukunft einen Keil zwischen sie zu treiben. Selbst wenn ihr für Mordor das wart für das ihr euch haltet, diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei."
Einen Moment herrschte Schweigen. Die schmutzigen schwarzen Haare waren Karnuzîr in Strähnen vor das Gesicht gefallen und verbargen seine Augen, doch Edrahil spürte seinen Blick.
Schließlich sagte Aeriens Vetter tonlos: "Dann tötet mich und bringt es zu Ende. Welchen Zweck hat es für euch, mich in diesem Loch zu quälen?"
"Ich kann mir einiges vorstellen", gab Edrahil zurück. "Aber..." Er zog ein kleines rundes Fläschchen aus schwarzem Glas aus der Tasche und schwenkte es sanft im Licht der Fackel. In dem Fläschchen befand sich ein schnell und zuverlässig wirkendes Gift, dass einen Mann innerhalb von Minuten umbringen würde - erst recht, wenn er sich in einem so geschwächten Zustand befand wie Karnuzîr gerade. "Ich habe euch etwas mitgebracht." Minûlîth hatte das Mittel besorgt, und Edrahil hatte nicht gefragt wie und woher.
Karnuzîrs Augen verfolgten das Fläschchen unablässig. Offensichtlich hatte er bereits begriffn, worum es sich dabei handelte. "Und was wollt ihr für diese Gnade von mir haben? Informationen über die Verteidigung von Mordor? Über Saurons Diener in Harad? Über meine erlesene Verwandtschaft in Durthang?" Sein Tonfall war verächtlich, doch Edrahil antwortete: "Das würde mir alles sehr gut gefallen. Aber nein, ich erwarte dafür nur, dass ihr mir noch ein wenig zuhört, bevor ich es euch gebe." Es war ein riskantes Spiel, doch nach allem was Edrahil über Karnuzîr wusste, und nach allem was er gesehen hatte, war er sich beinahe vollständig sicher was den Ausgang anging.
"Sprecht."
"Ich habe es euch beim letzten Mal bereits gesagt", begann Edrahil sanft. "Ihr könntet einen anderen Weg einschlagen - jetzt, da euer Weg in Mordors Diensten unwiederbringlich zu einem Ende gekommen ist. Narissas Weg wird sie nach Mordor führen, und Aerien wird sie begleiten."
"Das wird ihr Ende sein", warf Karnuzîr ausdruckslos ein. "In Mordor ist inzwischen sicherlich Nachricht über Azruphels Verrat eingetroffen."
"Das ist uns bewusst. Aber wird man diesen Nachrichten glauben, wenn sie selbst das Gegenteil behauptet?"
"Bei Verrat wird sich in Mordor nicht lange mit Höflichkeiten und Verhandlungen aufgehalten." Obwohl Karnuzîrs Stimme ausdruckslos blieb, flackerte sein Blick. "Sie werden sterben, langsam und qualvoll, wenn sie nach Mordor gehen, denn Azruphels Treue ist nun zweifelhaft." Diese Befürchtung hegte Edrahil allerdings auch, und nur aus diesem Grund war er überhaupt zu Karnuzîr gekommen.
"Während niemand in Mordor einen Grund hat, an eurer Treue zu zweifeln, nicht wahr?" Edrahil erhob sich, und ließ das Fläschchen über den Boden zu Karnuzîr rollen, der es mit einer schnellen Handbewegung ergriff. "Überlegt euch also gut was ihr tut. Ob ihr lebt oder sterbt könnte auch darüber entscheiden, ob eure Cousine lebt oder stirbt."
Er wandte sich zum Gehen, doch an der Tür angekommen sagte er noch: "Ihr habt bis Morgen früh Zeit, euch zu entscheiden."

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