Narissa, Valion, Thorongil und Aldar mit der Falthaleth vom MeerAm Abend des nächsten Tages lief die Falthaleth sanft in den Hafen von Tol Thelyn ein, und beim Anblick der Insel und des weißen Turms im Abendlicht legte Thorongil Narissa einen Arm um die Schulter.
"Selbst wenn es nicht für lange ist... es ist schön, nach Hause zu kommen." Narissa sah zu ihm auf. "Es ist schön, sie wieder "Zuhause" nennen zu können", meinte sie leise. Thorongil lächelte und drückte sanft ihre Schulter. Er blickte ein wenig zur Seite, wo Valion alleine stand und die zwischen Hafen und Turm wieder aufgebaute kleine Siedlung betrachtete.
"Valion, ich erinnere mich gut an unsere erste Begegnung", sagte Thorongil. Narissa lauschte ihrem Onkel gespannt. Valion hatte ihr erzählt, wie er und seine Schwester Thorongil hier vollkommen zufällig über den Weg gelaufen, doch sie hatte nicht erfahren, wie Thorongil darüber dachte. Überhaupt war er in vielen Dingen noch immer ein Rätsel für sie. "Damals war ich... gebrochen", sprach er weiter. "Ich hatte versagt, mein Volk war vernichtet und in alle Winde zerstreut, von meiner Familie niemand mehr übrig. Ihr habt mich dazu gebracht mich zu erinnern, was es bedeutet einer der Turmherren zu sein, und was meine Pflicht ist."
Valion war, zu Narissas Überraschung, tatsächlich ein wenig errötet, und räusperte sich verlegen. "Viel haben wir eigentlich gar nicht getan."
"Vielleicht nicht", fuhr Thorongil fort. "Aber es war genug. Vermutlich hätte ich mich ohne diese Begegnung in irgendwelchen Spelunken verloren, ein gebrochenes Wrack. Und seht was geschehen ist: Meine Heimat ist wieder aufgebaut, und ich habe meine Familie wiedergefunden." Bei den letzten Worten warf er Narissa einen Blick zu und lächelte.
Die Schiffswand stieß mit einem dumpfen Geräusch gegen das steinerne Kai, und einige gebrüllte Befehle später lag die Falthaleth fest vertäut im Hafen. Narissa und Valion folgten Thorongil die Leitplanke hinunter, und als sie festen Boden unter den Füßen hatte blieb Narissa kurz stehen und atmete tief durch. Natürlich würden sie nicht lange hier bleiben, und trotzdem war es schön, nach Hause zu kommen. Aus der kleinen Menschenmenge, die sich versammelt hatte um ihren Fürsten zu begrüßen, löste sich Hallatan, und verneigte sich respektvoll.
"Willkommen zu Hause, mein Fürst", sagte er förmlich, aber voller Wärme. Er zwinkerte Narissa zu. "Und natürlich ist es immer eine Freude, dich zu sehen, Narissa." Narissa lächelte. Sie hatte Hallatan schon in ihrer Jugend hier auf Tol Thelyn immer gemocht, und er war immer freundlich zu ihr gewesen.
"Ich freue mich, nach Hause zu kommen", erwiderte Thorongil laut, und fügte leiser an Hallatan gewandt hinzu: "Versammle den Rat so schnell es geht - es gibt viele Neuigkeiten aus Gondor die besprochen werden müssen." Hallatan nickte, und eilte mit langen Schritten davon. Thorongil wandte sich zu Narissa, Valion und Aldar, der ebenfalls das Schiff verlassen hatte, um. "Narissa, ich schlage vor du triffst alle Vorbereitungen für die Reise, die du für nötig hältst. Vielleicht wird Valion dich begleiten?" Valion wechselte einen Blick mit Narissa, und beide nickten. "Kapitän Aldar, ich danke euch für die Reise. Ihr und eure Mannschaft seid und für heute Abend willkommen, auch wenn ich fürchte, dass wir euch kein Quartier für die Nacht anbieten können."
"Das macht überhaupt nichts", erwiderte Aldar, der sich neugierig umsah. "Meine ganze Mannschaft ist es gewohnt, auch im Hafen an Bord zu schlafen. Frisches Wasser und Proviant wären allerdings höchst willkommen."
Thorongil nickte knapp. "Für beides wird gesorgt werden. Ich fürchte, ich muss mich nun allerdings entschuldigen, es gibt vieles zu besprechen."
Nachdem Thorongil in Richtung des Turms davongeeilt war, schlenderten Narissa und Valion ein wenig langsamer die Straße durch die Siedlung entlang hinterher in die selbe Richtung.
"Es hat sich einiges verändert seit ich das letzte Mal hier war", meinte Valion, der sich aufmerksam umsah. "Offenbar haben mehr von eurem Volk überlebt als gedacht."
"Viele sind mit den Schiffen geflohen, und einige konnten sich auf der Insel verstecken - Sûladans Truppen waren nicht allzu günstig. Sie dachten, mit dem Tod meines Großvaters wäre die Sache erledigt", erklärte Narissa. Es war nicht leicht an jenen Tag zu denken.
"Hm", machte Valion. "Weißt du, manchmal frage ich mich wie viele der Menschen vom Ethir überlebt haben. Ob überhaupt noch jemand von den Menschen lebt, die ich fast mein ganzes Leben, bevor Mordor kam, gekannt habe. Es ist... hart, daran zu denken." Narissa legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Ich verstehe. Nach meiner Flucht... dachte ich, alle Menschen die ich jemals geliebt hatte, wären tot. Nun ja, die meisten waren das auch, also..." Sie schüttelte den Kopf, ärgerlich über sich selbst. "Was ich sagen will: Ich dachte, ich würde den Rest meines Lebens alleine sein. Aber ich habe neue Freunde gefunden. Neue Familie. Und siehe, meine Heimat gibt es noch - oder eher wieder." Sie blickte Valion, dessen Gesichtsausdruck die schwer deuten konnte, an. "Ach, ich bin nicht gut in aufmunternden Reden. Also... wenn du irgendwann Hilfe brauchst, deine Heimat zurückzubekommen, denk an mich. Du hast ja offenbar dazu beigetragen, dass ich meine zurückbekommen habe, also bin ich dir was schuldig."
Valion schwieg einen Augenblick, bevor er plötzlich lachte. "Du bist besser darin als du selbst glaubst. Ich kann es schon vor mir sehen... Valirë und ich, du und deine Aerien... vielleicht nehmen wir noch Hilgorn mit, wenn er dazu nicht zu vernünftig ist... und gemeinsam erobern wir den Ethir zurück." Er wurde wieder ernst. "Es ist ein schöner Gedanke, und... ich würde mich freuen, wenn ihr an unserer Seite wärt, wenn es soweit ist."
Inzwischen hatten sie den Vorplatz des Turms erreicht, und die Sonne war beinahe vollständig hinter dem westlichen Horizont verschwunden. "Warte hier", sagte Narissa kurzentschlossen, verschwand im Turm und kam kurz darauf mit einer kleinen Laterne in der Hand zurück. "Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?", fragte sie Valion.
"Ich könnte mir bessere Zeiten für eine Besichtigung vorstellen", erwiderte er scherzhaft. "Aber warum nicht?"
Narissa schlug den Weg nach Süden ein, vom Turm weg und schließlich am Hof der Familie Aerdor vorbei, der dunkel und verlassen da lag. Hallatan war noch im Turm bei der Besprechung des Rates und Hírilorn war vermutlich noch mit Edrahil und Langlas bei Qúsays Heer - wenn er es noch nicht geschafft hatte, sich umbringen zu lassen. Narissa hoffte, dass es Hírilorn gut ging, allein schon Hallatans wegen, doch sie hatte ihre Zweifel. Immerhin war er nicht besonders erfahren in solchen Dingen, und sie hatte Aeriens Geschichte, wie durchschaubar sein Versuch gewesen war, über Aerien an sie heranzukommen, nicht vergessen.
Nur ein kurzes Stück hinter dem Hof gelangten sie an den kleinen Bachlauf, der hinunter zur versteckten Bucht am Südende der Insel führte, und folgten ihm bis sie den Strand erreichten.
Valion sah sich im schwachen Dämmerlicht der letzten Sonnenstrahlen aufmerksam um. "Ich verstehe, warum deine Vorfahren sich diesen Ort ausgesucht haben", sagte er schließlich. "Und ich verstehe, warum dieser Ort deine Heimat ist." Narissa nickte stumm, und ging mit langsamen Schritten über den weichen Sand auf den alten Leuchtturm am östlichen Ende des Strands zu. Nach einigen Augenblicken folgte Valion ihr, und kurze Zeit später standen sie am Fuß des Leuchtturms.
"Als junges Mädchen bin ich hin und wieder hier her geflüchtet, wenn mein Großvater oder einer meiner Lehrer zu streng zu mir gewesen war", erzählte sie, während sie die ausgetretenen und von Salz und Wind zerfressenen Stufen hinauf stieg. "Naja, oder wenn ich irgendetwas ausgefressen hatte und mich für ein paar Stunden verstecken musste." Sie zog die alte Tür mit ein wenig Mühe auf und warf Valion einen großen Stein zu. "Leg ihn in die Tür, damit sie nicht zu fällt", erklärte sie auf seinen fragenden Gesichtsausdruck hin. "Wenn das passiert bekommt man sie von innen so gut wie gar nicht mehr auf. Ich musste einmal als Kind aus einem der Fenster klettern und wäre beinahe abgestürzt, und Aerien hat sich hier versehentlich eingeschlossen, als wir das erste Mal hier waren." Bei der Erinnerung musste Narissa lächeln. Sie strich nachdenklich mit der Hand über die alten Decken und Kissen, die noch immer hier lagen. Sie rochen schwach nach Salz, und waren ziemlich staubig. "Das habe ich hier her geschmuggelt, nachdem ich diesen Ort entdeckt hatte", erklärte sie, während sie an das nächste Fenster trat und hinausblickte. Die Sonne war vollends hinter dem Horizont versunken, und aufgehende Mond malte eine silberne Straße auf das ruhige Wasser. Der Abend war beinahe vollkommen windstill.
"Und dein Großvater wusste nichts von diesem Ort?", fragte Valion, der bislang schweigend zugehört hatte. Er klang skeptisch, und Narissa musste lachen. "Natürlich wusste er davon. Er... hat nur so getan, als würde niemand außer mir wissen, das der Leuchtturm noch steht. Das hat er mir erklärt als ich... siebzehn war, glaube ich. Wir hatten einen ziemlich üblen Streit gehabt. Ich weiß nicht mal mehr, worum es ging." Sie lehnte sich auf die staubige Fensterbank und blickte hinaus auf die silberne Straße auf dem Meer. "Mein Großvater hatte kein solches Temperament wie ich, doch manchmal konnte er mir durchaus das Wasser reichen. Ich weiß noch, dass ich einen ganzen Tag alleine hier gewesen bin, länger als je zuvor. Ich habe sogar hier geschlafen. Am nächsten Morgen kam er den Strand entlangspaziert, brachte mir Frühstück und ist wieder gegangen. Irgendwann später habe ich ihn danach gefragt, und er hat mir erklärt, dass er mir diesen Ort lassen wollte, aber schließlich nicht zulassen konnte, dass ich verhungere." Sie schniefte und wischte sich über die Wangen, die zu ihrer eigenen Überraschung nass waren.
Valion war neben sie getreten, und blickte ebenfalls aus dem Fenster. Nach einiger Zeit sagte er leise: "Dein Großvater klingt als wäre er ein guter Mann gewesen."
Narissa wischte sich erneut über die Augen und sagte leise: "Ein guter Mann und ein ziemlicher Mistkerl. Er war für Jahre alles was ich an Familie hatte, und alles was ich brauchte. Als Sûladans Männer ihn getötet haben brach meine gesamte Welt zusammen, und dafür werde ich ihn töten."
Halb erwartete sie, dass Valion versuchen würde, sie davon abzubringen, ihr erzählen würde, dass Rache niemals der richtige Weg war. Stattdessen nickte er nur, und sagte: "Ich verstehe." Das war zu viel für Narissa, und mit einer plötzlichen Bewegung schlang sie die Arme um ihn, presste das Gesicht an seine Schulter und weinte. Zum ersten Mal seit Jahren löste sich der grauenvolle Klumpen, den sie immer in ihrem Bauch verspürte, wenn sie an jene Nacht dachte, ein wenig. Valion strich ihr ein wenig unbeholfen über den Rücken, und als sie sich schließlich beruhigt hatte und sich von ihm löste, räusperte er sich verlegen und fragte: "Hast du... hast du auch mit Aerien darüber gesprochen, als ihr hier wart?"
Narissa wischte sich die letzten Tränen aus den Augen, und musste lächeln. "Nein. Wir hatten... anderes zu tun."
Valion hob die Augenbrauen, und blickte sich in dem runden, dunklen Raum um. "Ein sehr... romantischer Ort für ein Stelldichein." Er warf ihr einen etwas misstrauischen Blick zu. "Ich hoffe, du dachtest nicht..."
Narissa verdrehte die Augen, und ließ ihn nicht ausreden. "Sei nicht blöd. Erstens, bilde dir nicht zu viel auf deine Anziehungskraft ein. Zweitens bin ich vergeben - genau wie du übrigens. Drittens, glaubst du ich schleppe dich hier hin und heule dich voll um dich zu verführen?"
"Manche Frauen tun das..." Valion machte einen Schritt zurück und hob grinsend die Hände. "Schon gut, schon gut, kein Grund mit mit Blicken zu erdolchen. Es war ein Scherz - vielleicht kein besonders guter."
"Wirklich nicht", brummte Narissa, ließ sich auf ein Kissen fallen und begann die mitgebrachte Laterne anzuzünden. "Immerhin gibst du es zu."
"Zeichen meiner geradezu unmenschlichen Bescheidenheit", meinte Valion, und setzte sich ein wenig vorsichtig auf ein zweites Kissen, und wirbelte trotzdem eine beachtliche Staubwolke auf. Er hustete, und sagte: "Und hier habt ihr... Beachtlich." Der warme gelbliche Schein der Lampe erhellte den Raum ein wenig, und Narissa, die wieder die Hände freihatte, versetzte Valion einen leichten Schlag gegen den Arm. "Da gibt es nichts zu lachen. Es war sehr romantisch."
Valion grinste. "Davon bin ich überzeugt. Ich erinnere mich, wie Lóminîth und ich..." Narissa hielt sich demonstrativ die Ohren zu, und Valion lachte.
Es wurde ein langer Abend, und am nächsten Morgen hatte Narissa das Gefühl gerade erst eingeschlafen zu sein, als Thorongil sie unsanft aus dem Bett warf. Nachdem sie sich fertig angezogen hatte, traf sie auf der Treppe auf Valion, der gerade herzhaft gähnte. "Dein Onkel ist ein grauenvoller Mensch", sagte er zwischen zwei Gähnanfällen, während sie die gewundene Treppe hinunterstiegen. "Wie kann man so früh am Morgen so... munter sein?"
"Er hat mehr von seinem Vater als gedacht", erwiderte Narissa, und musste ebenfalls gähnen. "Ich werte das als Kompliment", meinte Thorongil, der sie in der Halle am Fuß der Treppe erwartete. "Die Zeit drängt, und je eher ihr bei Qúsay ankommt, desto besser."
"Ihr?", fragte Narissa nach, und Thorongil nickte. "Es gibt viel zu tun und vieles zu planen. Ich werde später nachkommen, wenn es geht, doch rechnet lieber nicht damit. Ich habe volles Vertrauen in euch."
"
Volles Vertrauen heißt wahrscheinlich: 'Ich hoffe, dass Edrahil euch im Zaum hält'", murmelte Narissa Valion später auf dem Weg zu den Ställen zu, nachdem sie ein kurzes Frühstück zu sich genommen hatten.
Valion schauderte ein wenig. "Diese Hoffnung könnte sich erfüllen. Edrahil ist der einzige Mann auf unserer Seite, der mir manchmal fast Angst macht." Trotz des Dämmerlichts in den Ställen fand Narissa Grauwind schnell, denn es waren hier nicht viele Pferde untergebracht und die graue Stute schnaubte freudig, sobald sie den Stall betreten hatte. Sie kraulte ihrem Pferd sanft die Stirn und flüsterte: "Hast du mich vermisst? Ich habe dich jedenfalls vermisst." Sie wandte sich zu Valion um, der ein wenig verloren im Mittelgang stand und sich umsah.
"Karab", sagte sie, und nickte in Richtung des dunkelbraunen Hengstes, der in der Box neben Grauwind stand. "Er ist Aeriens Pferd. Ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen hätte, wenn du ihn borgst solange wir gemeinsam reisen." Valion trat vorsichtig näher, und Karab betrachtete ihn aufmerksam aus seinen warmen, dunkelbraunen Augen. Schließlich senkte er den Kopf, und ließ sich von Valion den Hals klopfen.
"Ein schönes Tier", meinte Valion anerkennend. "Tatsächlich kommt er aus Gondor", erklärte Narissa. "Aerien hat ihn von den Waldläufern in Ithilien bekommen, wenn ich mich recht erinnere."
"
Karab", wiederholte Valion leise. Der Hengst spitzte die Ohren beim Klang seines Namens, und Valion lächelte. "Ja, ich glaube wir werden uns verstehen."
Nacheinander führten Narissa und Valion ihre Pferde aus dem Stall und zu Hafen. Hallatan würde sie mit der
Thoroval das kurze Stück bis ans Festland bringen, von wo aus sie schließlich den Weg nach Ain Salah einschlagen würden.
Narissa und Valion zur Mehu-Wüste...