Narissa und Aerien aus der StadtAls Aerien und Narissa am frühen Abend zum Palast von Kerma zurückkehrten, wartete eine Überraschung auf sie. Prinzessin Asáta stand vor der Tür zu ihrem Zimmer, mit gutgelaunter Miene und in Begleitung mehrerer Palastdiener.
"Ich habe mit meinem Vater gesprochen," sagte sie und nickte selbstzufrieden. "Er möchte heute beim Abendessen mit euch beiden über die Angelegenheit sprechen. Das ist ein gutes Zeichen, wie ich finde. Es beginnt in einer Stunde - kommt nicht zu spät!"
Narissa warf Aerien einen entschlossenen Blick zu. "Jetzt werden wir endgültig Schluss mit König Músabs Heiratsplänen machen."
"Hoffen wir, dass er auf die Alternative eingeht, die ihm seine Tochter vorgeschlagen hat," meinte Aerien, die sich mit Optimismus noch ein wenig zurückhielt.
"Das wird schon werden, Sternchen," erwiderte Narissa aufmunternd. "Du wirst es sehen."
Exakt eine Stunde später führte ein Palastwächter sie beide in einen der kleineren Räume im Palast, wo sie bereits von König Músab, seiner Tochter Asáta und seinem ältesten Sohn Tamal erwartet wurden, die gemäß der Sitte in Harad von ihren Stühlen am Tisch aufstanden und den Besuchern freundlich zunickten. Aerien stellte erfreut fest, dass neben zwei weiteren Kermern, die sie nicht kannte, auch Kani anwesend war, und ihr aufgeregt und fröhlich zuwinkte. Neben Kani waren zwei Plätze frei, und dort nahmen Narissa und Aerien rasch Platz, nachdem sie die Grußgeste vor dem König erwidert hatten - Narissa mit einer angedeuteten Verbeugung, Aerien mit einem angemessenen Knicks. Sie trug das schwarzsilberne Kleid, das Sahír ihr in Aín Séfra geschenkt hatte, während Narissa wieder die Tracht von Tol Thelyn trug, denn sie war der Meinung gewesen, dass dies an jenem Abend angemessen war - immerhin würde sich heute entscheiden, ob ein Bündnis zwischen Kerma und der Weißen Insel entstehen würde.
"Ich grüße euch, Narissa vom Turm, Enkelin des Hador Dúnadan, und Aerien von Haus Bereneth aus dem fernen Gondor," sagte der König. "Wie schön, dass ihr pünktlich hier seid."
"Vielen Dank für die Einladung, Qore Músab bin Kernabes von Kerma," antwortete Aerien.
"Ja, vielen Dank," fügte Narissa nach einer kleinen Pause hinzu.
Músab stellte die beiden anderen Kermer als Akhraten und Aspelta vor und gab dann seinen Dienern, die wartend in etwas Abstand zum großen Tisch gestanden hatten, ein Zeichen. Rasch begannen sie, das reichhaltige Essen aufzutragen. Der Raum, in dem sie saßen, schien eine direkte Verbindung zu den Küchen des Palastes zu besitzen. Der Tisch stand beinahe genau in der Mitte des Raumes. Músab, der am Kopfende des Tisches auf einem erhöhten Sitz saß, nickte seinen Gästen auffordernd zu, und sie begannen, zu essen.
Während der Mahlzeit tauschte Aerien sich mit Kani über ihren Besuch auf den Märkten aus, wenn sie nicht gerade mit Narissa auf Sindarin sprach. In der Elbensprache konnten sie ungestört darüber reden, ob ihnen das Essen schmeckte, was sie von den Gästen hielten und ob sich ihre Erwartungen an den Abend bislang erfüllt hatten.
Viele Trophäen der Jagd hingen an den Wänden des Raumes, und hinter Músab ragte eine große, gemauerte Feuerstelle samt Kamin auf. Die Wand, die Aerien und Narissa gegenüber lag, war von großen Fenstern eingenommen, die nun, da es draußen dunkel geworden war, von schweren, tiefroten Vorhängen bedeckt waren.
"Hinter dir hängen die Stoßzähne eines der mächtigen Mûmakîl, Aerien," sagte Kani stolz. Aerien drehte den Kopf herum und staunte nicht schlecht über die Größe der gekreuzt an der Wand hängenden Trophäen, die bis an die hohe Decke des Raumes ragten und geradezu unheilvoll hoch über ihrem Kopf in scharfen Spitzen endeten.
Als alle ihre Mahlzeit beendet hatten, klatschte Músab in die Hände, und die Diener räumten den Tisch ab. Einen der Bediensteten nahm Músab beiseite, raunte ihm einige Anweisungen zu und übergab dem Kermer einen versiegelten Brief. Rasch eilte der Mann damit hinaus. Dann wandte sich der König wieder seinen Gästen zu.
"Ihr alle seid heute Abend hier, weil es wichtige Angelegenheiten zu besprechen gibt," sagte er mit einem strengen Unterton. "Ihr wisst, wovon ich spreche: Die Frage, ob das Königreich von Kerma ein Bündnis mit den Turmherren von Tol Thelyn eingehen soll, und welche Bedingungen wir dafür einfordern."
Prinzessin Asáta nahm das Wort. "Ich habe nach einem Gespräch mit Aerien und Narissa lange über diesen Vorschlag nachgedacht und bin der Meinung, dass nur eine Heirat zwischen unseren beiden Häusern beiden Seiten genug Sicherheit und Vertrauen verschafft, um dieses Bündnis einzugehen."
Neben Aerien regte sich Narissa in ihrem Stuhl, doch es gelang Aerien, ihre Freundin zu beruhigen, indem sie ihr sanft die Hand auf den Unterarm legte. "
Daro," wisperte sie so leise sie konnte in der Elbensprache.
Warte.
Asáta sprach weiter. "Narissa, ich verstehe, dass du darauf nicht eingehen willst. Dass dir der Preis zu hoch ist. Ich verstehe es nur allzu gut, denn auch ich wäre womöglich eines Tages als Besiegelung für ein Bündnis mit einem Fremden verheiratet worden, wenn mein Vater dies nicht von Anfang an ausgeschlossen hätte." Bei diesen Worten warf sie dem König einen raschen, dankbaren Blick zu. "Und deshalb habe ich nach einem Weg gesucht, um dir dieses Schicksal zu ersparen. Ihr wisst bereits, wovon ich spreche, denn ich hatte es vor einigen Tagen kurz angedeutet: Das Königssymbol von Kerma."
Alle anwesenden Kermer bis auf Músab und Asáta selbst sogen scharf die Luft ein, als die Prinzessin diese Worte sprach. Sie erhob die Hand und fuhr fort: "Vor langer Zeit ging das wichtigste Erbstück von Anlamanis Linie verloren, und alle, die seither danach gesucht haben, sind entweder erfolglos geblieben oder haben nichts als den Tod gefunden. Dieses Symbol - geschnitzt aus dem Zahn des Schwarzdrachen Arkhasias - gehört in die Hände des Königs. Wer auch immer es dem Volk präsentiert, besitzt den stärksten Anspruch auf den Thron Kermas. In diesen schwierigen Zeiten, wo erneut Krieg über unsere Heimat zu ziehen droht, wäre dieses Erbstück noch von größerem, unschätzbarerem Wert. Es könnte den Krieg gänzlich abwenden."
"Das Königssymbol ist unauffindbar," warf Tamal, der Erbe von Kerma ein. "Du weißt, wie viele in all den Jahren danach gesucht haben. Die Gesandten von Tol Thelyn werden auf dieser Suche umkommen, und dann haben wir einen Feind mehr."
"Auch ich mache mir Sorgen um eure Sicherheit," warf Músab ein. "Zwar zweifle ich nicht an euren Fähigkeiten, doch um ehrlich zu sein: Es haben schon andere, deutlich erfahrene Abenteurer versucht, den Zahn des Arkhasias zu finden. Ihr beiden seid junge Frauen."
"Was soll das denn heißen?" empörte sich Narissa. "Glaubt Ihr etwa, wir hätten nicht das Zeug dafür?"
Músab hob beschwichtigend die Hände. "Wie mein Sohn korrekt erkannt hat, liegt ein gewisses Risiko für Kerma darin, euch beide auf die Suche nach dem Königssymbol zu entsenden. Was, wenn ihr scheitert und sterbt? Dann müsste ich einen Boten nach Tol Thelyn entsenden, und dem Herrn des Turms erklären, dass seine einzige Nichte durch meine Verantwortung umgekommen ist."
"Wir werden aber nicht scheitern," gab Narissa etwas patzig zurück. "Ihr werdet es sehen."
Aerien hatte einen Einfall, und sie sagte. "Gehe ich recht in der Annahme, dass all jene, die sich in den vergangenen Jahren auf die Suche nach dem Symbol gemacht haben, Kermer waren?" Als Asáta nickte, fuhr sie fort: "Nun, vielleicht gelingt es uns, die wir beide nicht von hier stammen, Hinweise aufzudecken, die den Kermern bislang entgangen sind."
Músabs Gesichtsausdruck zeugte von Misstrauen und Zurückhaltung, doch als er seine Tochter anblickte, schmolz ein Teil davon dahin. Schließlich seufzte der König leise und sagte dann: "Nun denn. Es sei also. Ich werde das Bündnis anerkennen, wenn ihr mir das Königssymbol Anlamanis bringt. Doch wenn ihr geht, geht ihr auf eigene Verantwortung. Ihr werdet eine Nachricht nach Tol Thelyn entsenden, ehe ihr aufbrecht, und darin die Umstände erklären. Ich werde nicht für euren Tod verantwortlich sein."
Erneut regte sich Narissa, um zu protestieren, doch Aerien hielt sie erneut zurück. "Wir schaffen das," erinnerte sie Narissa an ihre eigenen Worte."
Narissa blickte ihr in die Augen - eine Sekunde, eine weitere, und dann noch eine - ehe sie sich wieder Músab zuwandte. "Wir nehmen das Angebot an. Wir werden dieses Ding finden - verlasst euch drauf."
"Meine Tochter wird euch alle Hinweise zukommen lassen, die sich hier im Palast finden lassen," sagte der König. "Plant eure Reise sorgfältig. Es mag von eurem Erfolg abhängen, ob der Krieg in Kerma abgewendet werden kann."
Aerien und Narissa nickten, ehe sie sich erhoben und zum Abschied angemessen vor Músab verbeugten. Dann eilten sie aus dem Raum, beide mit gemischten Gefühlen. Doch auf Narissas Gesicht sah Aerien Entschlossenheit und Abenteuerlust, und das steckte sie an. Sie ergriff Narissas Hand, während sie sich auf den Rückweg zu ihrem Zimmer machten.
"Wir schaffen das!" rief Narissa.