Kerry wanderte einige Zeit ziellos durch die weitläufigen Räume und Gänge der alten arnorischen Rüsthalle. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, als Mablung dem Sternenbund dieses Gebäude gezeigt hatte und wie sehr sie damals über die große Anzahl von Waffen und Rüstungen gestaunt hatte. Niemals hätte Kerry sich damals vorstellen können, wie bitter die Bewohner Fornosts den Inhalt der Rüsthalle schon so bald nötig haben würden. Doch nun war eine große Schlacht geschlagen worden, und obwohl viele von einem Sieg sprachen fühlte es sich für Kerry nicht danach an, als hätten sie irgendetwas gewonnen. Der kurze Augenblick der Freude, als sie von Oronêl erfahren hatte, dass ihr Vater noch am Leben war, verblasste bereits unter der Schicht der Trauer, die sich seit den schrecklichen Ereignissen am Turm um Kerry gelegt hatte. Sie fühlte sich einsam.
Ihre Füße trugen sie in Richtung sanfter Stimmen, die aus einer Gruppe von abgelegenen Räumen kamen. Dort hatte man eine Art Lazarett eingerichtet. Obwohl es viel zu wenige von ihnen gab taten die Heiler alles was in ihrer Macht stand, um die vielen Verwundeten zu versorgen. Kerry wusste, dass auch Irwyne dazu gehörte. Als sie in einen der kleineren Räume schaute entdeckte sie zu ihrer Überraschung Halarîn, die sich um die schlafende Adrienne kümmerte. Kerry blieb einen Augenblick im Türrahmen stehen. Sie wollte nicht stören oder gar Halarîns Konzentration brechen. Schließlich jedoch überwand sie ihre Hemmungen und betrat den Raum. Vorsichtig setzte sie sich auf einen kleine Hocker, der neben Adriennes Bett stand, legte die Hände in den Schoß und schaute das verwundete Mädchen mit sorgenvollem Blick an.
Halarîn hörte zwar, dass die Tür aufging, aber sie konnte sich jetzt nicht ablenken lassen. Sie griff nach einer kleinen Flasche, die auf einen Beistelltisch zusammen mit andere Medizin stand. Ihr Blick fiel auf Kerry, die neben dem Bett saß, doch sie war zu sehr im Gedanken um jetzt mit ihr zu sprechen. Sie drückte dem Mädchen die Phiole in die Hand. Sorgsam zog sie die Decke zurück, die den entblößten Körper von Adrienne bedeckte. Halarîn nahm eine glitzernde Salbe und strich sie sehr vorsichtig auf den vernähten Schnitt. Das Gemisch aus heilenden Kristallstaub und anderen Dingen aus ihrer fernen Heimat waren die kostbarsten Dinge die sie mitgenommen hatte. Die Salbe färbte sich sofort rot vom Blut und schien sich langsam in die Wunde einzusickern. Sie wiederholte den Vorgang zweimal und begutachtete den Schnitt, der sich von der Brust, quer über den Torso und den unteren Bauch zog. Mit Bedauern bemerkte die Elbe, dass die weiblichen Züge von Adrienne noch die einer Jugendlichen waren und sie bereits eine große Narbe tragen würde. Zur ihrer Erleichterung begann die Salbe zu wirken und die Wundränder zogen sich leicht zusammen.
Von Kerry war nichts als ein scharfes Einatmen zu vernehmen, offensichtlich versuchte sie, so still wie möglich zu sein um Halarîn nicht zu stören. Ein schneller Blick zur Seite zeigte ihr, dass das blonde Mädchen die Augen mit staunendem Blick auf Adriennes Verletzungen gerichteter hatte und voller Ehrfurcht dabei zusah, wie die Heilung voranschritt.
Nun begann der schwierigste Teil und Halarîn nahm Kerry sanft die Flasche aus der Hand. Die Körperwärme des Mädchen hatte die erwünschte Wirkung: die silberne Medizin in der Flasche nahm einen goldigen Schimmer an.
"Danke Kerrime*.", murmelte sie geistesabwesend und entfernte den Korken.
Der Duft nach Honig erfüllte den Raum und Halarîn hob mit einer Hand den Kopf der Schlafenden an, mit der Anderen führte sie die Flasche an den Mund.
"Súce-, -yes indóme n- mára an tye. Súce, Adrienne.", flüsterte Halarîn.
Es geschah eine Weile lang nichts, bis Adriennes Augen flatterten. Sie stöhnte leise.
"Shhh, Lóre. Lóre", sprach die Elbe sanft und einfühlsam, bis Adrienne sich wieder beruhigte, " -yes na- okaime, sí súce."
Tatsächlich öffnete Adrienne noch immer schlafend die Lippen und Halarîn ließ die nun goldene Flüssigkeit in ihren Mund laufen. Artig schluckte sie die Medizin herunter ohne aufzuwachen oder sich zu verschlucken.
"Tye careyes ehtelë", sagte die Elbe erleichtert und strich Adrienne über den Kopf.
Sie stellte die halbvolle Flasche beiseite und streichelte der Verletzten mit der Rechten über den Kopf. Halarîn erinnerte sich an das, was ihre Großmutter immer wieder gesagt hatte, dass man immer etwas wartet, bis die Medizin im Magen war. Behutsam legte sie beide Hände auf die nackte Brust von Adrienne. Ihre Haut war kühl und geschmeidig, aber auch irgendwie vertraut. Halarîn runzelte die Stirn, schüttelte aber den Kopf und legte die rechte Hand auf den Kopf der Verletzten; ihre Linke, die Herzhand legte sie genau dort auf, wo Adriennes Herz schlug. Sie konzentrierte sich und schloss die Augen. Dann stieg die gewohnte Wärme in ihre Hände und sie hatte das Gefühl, dass irgendwo ein Meeresrauschen zu hören war. Halarîn blendete alles aus und nahm nur noch den schwachen Herzschlag der Verletzten war, doch ihre Gedanken waren erfüllt von Meeresrauschen. Es schwoll weiter an und füllte sie nun voll aus. Tief aus ihren Erinnerungen sprach sie alte Worte, die sie von ihrer Großmutter gelernt hatte:
Larmime óma, atsayes ve i kal
I lú ana lóre navamme sí
I turo elena natulime- tye
Ni am Amandis - ni've túl ana resta- tye. Lar- mime óma. Túl at- ana i kal.
Die Wärme in ihren Händen verblasste, als sie endete. Das Meeresrauschen ebbte ab und was blieb war der nun kräftigere Herzschlag von Adrienne. Halarîn öffnete die Augen, atmete schwer aus und rieb sich ihre kühlen Hände, eine Geste, die sie niemals tat. Die Haut Adriennes hingegen hatte nun seine gesunde, leicht rötliche Färbung zurück. Sie begutachtete die Wunden und stellte fest, dass die Wundränder nur durch die dünnen Elbenfäden sichtbar waren. Zufrieden deckte sie die Verletzte zu und gewährte ihr damit wieder ihre Privatsphäre. Die Elbe setzte sich gegenüber von Kerry und schöpfte wieder Kraft, sie hatte unterschätzt wie anstrengend ist solche Wunden zu versorgen. Sie blickte zu Adrienne, die nun mit einem deutlich zufriedeneren Ausdruck im Gesicht selig schlief und dann zu Kerry.
"Halla... du hast es geschafft!" hauchte diese mit großer Bewunderung in der Stimme. "Die Verletzungen sind ganz verblasst - so etwas habe ich noch nie gesehen. Wie... wie hast du das nur gemacht? Ist das eine Art von Elbenzauber?" Sie blickte Halarîn mit einer Mischung aus Neugierde, Ehrfurcht und Zuneigung an, die Kerry wohl selbst nicht recht verstand, und es war offensichtlich, dass das Mädchen viele Fragen im Sinn haben musste. Doch da biss sie sich auf die Unterlippe und blickte verlegen zur Seite. "Ich wollte dich nicht stören, Halla," brachte sie leise hervor. "Ich war einsam und habe nach jemandem zum Reden gesucht. Aber als ich hörte wie du in der Elbensprache gesprochen hast - das war doch elbisch gerade eben, oder? - da hat sich deine Stimme... anders angehört. Voller. Stärker. Irgendwie... richtiger. Ich.. habe das Gefühl, dir nur ständig mit meinen Problemen auf die Nerven zu fallen. Das möchte ich nicht Halla. Ich möchte... dir eine gute Freundin sein, wenn du mich haben willst." Kerry verstummte und hielt den Blick gesenkt. Sie hatte gesagt, was ihr auf dem Herzen lag und saß nun dort auf dem kleinen Hocker, die Hände im Schoß, verletzlich und einsam wirkend.
Eigentlich hatte Halarîn schon mit diesen Fagen gerechnet und musste lächeln.
"Was du gerade gesehen hast, war die Heilkunst, die unsere Ahnen beherrscht haben. Zumindest konnten sie die natürliche Heilung ein wenig beschleunigen," sie strich sich die Haare zurück und stupste Kerry auf die Nase, "aber die Dunkelheit in den Gedanken vermag selbst die beste Heilkunst nicht zu vertreiben."
Sie zog den Stuhl näher an das Mädchen heran und blickte ihr in die Augen, ehe sie weitersprach: "Denke nicht, dass du immer jeden auf die Nerven gehst. Du kannst jederzeit zu mir kommen und ich bin mir sicher, dass Mathan auch ein offenes Ohr für dich hat. Er wirkt zwar immer etwas abweisend, aber das ist nur eine Maske, die er gerne trägt. Eigentlich ist er recht einfühlsam, sonst hätte ich mit ihm keine Kinder haben wollen," sie kicherte kurz, blickte verlegen zur Seite und zögerte, "Du bist für mich mehr wie eine Tochter, als eine Freundin.", sagte sie leise.
Halarîn lächelte unsicher und wechselte schnell das Thema: "Das was du eben gehört hast... das war Avarin. Die Elben, die hier im Westen leben würden es herablassend "primitive Urpsrache" nennen, aber bei uns ist anders. Weißt du, im Osten weit hinter Mordor gibt es noch etwa fünf andere Elbenstämme. Meine eigentliche Heimat liegt dort."
Die Elbe blinzelte ein paar mal um die gemischten Gefühle herunterzukämpfen, die in ihr aufstiegen. Plötzlich kam ihr eine Idee und ein sanftes Lächeln erhellte ihr Gesicht.
"Morilië,", sagte sie und strich Kerry über die Wange, "So würdest du bei meinem Volk gerufen werden."
Ein bislang ungesehener Glanz trat in Kerrys Augen als sie den Namen leise wiederholte: "Morilië... das hört sich schön an...." Sie drückte Halarîns Hand und warf einen kurzen Blick auf die friedlich schlafende Adrienne bevor sie weitersprach. "Du bist wirklich etwas Besonderes, Halla," sagte sie und neigte den Kopf leicht in Richtung der elbischen Finger, die über ihre Wange strichen. "Adri hat großes Glück, dass du hier bist." Sie räusperte sich etwas verlegen. "...ich habe auch großes Glück, in dieser immer finsterer scheinenden Welt jemanden zu finden, der so liebevoll und einfühlsam wie du ist. Nach der Schlacht dachte ich, ich würde zerbrechen und nie wieder einen frohen Gedanken haben, doch irgendwie hast du es geschafft, dass ich noch ganz bin."
Sie schwieg einen Augenblick und ihre Augen fixierten Halarîns. "Wenn ich dir wirklich nicht auf die Nerven falle, würde ich dir gerne eine Tochter sein," sagte sie mit einem seltsamen Ton in der Stimme. Offenbar wusste sie selbst nicht genau, wie ernst sie den Satz gemeint hatte. "Möchtest du mir erzählen, wo du herkommst? Die Worte, die du in der Elbensprache gesprochen hast und der Name, den du mir gegeben hast... sie lassen in meinen Gedanken Bilder eines fernen, aber glücklichen Landes aufsteigen. Wie ist es dort? Vermisst du es, dort zu sein?"
Halarîn lächelte sanft und ein warmer, angenehmer Schauer rann ihren Rücken herab. Kerrys Blitzen in den Augen blieb ihr nicht verborgen. Ein freudiger Ausdruck schlich sich in das Gesicht der Elbe und sie nahm beide Hände von Kerry.
"Ich wäre gern wie eine Mutter für dich, denn alles in mir sagt, dass du eine warme, leitende Hand brauchst und jemanden, der sich um dich sorgt,", sie streichelte die Hände ein wenig und blickte Kerry in die Augen, "und dieser jemand würde ich sehr gerne sein."
Sie beugte sich nach vorn und schloss Kerry in ihre Arme, ein flüchtiger Kuss auf die Wange folgte und Halarîn lachte leise.
"Weiß du, bei uns ist es normal, dass wir die Namen vergeben, die nur die engste Familie kennt. Mein Name ist Amandis, das ist glaube ich weniger kompliziert als Halarin," sie hob gebieterisch den Zeigefinger, "nur du, Mathan und meine Eltern kennen ihn, also behandle ihn wie einen Schatz." sagte sie mit gespielter Strenge und blickte rasch zu Adrienne, die aber weiterhin schlief.
Die Elbe schwieg für einen Moment und dachte an ihre Heimat, über die sie eigentlich kaum sprach. Kerry schien ein gutes Gespür für solche Dinge zu haben. Nach einer längeren Pause begann sie zu erzählen: "Ich vermisse meine Heimat sehr, aber seitdem ich mit Mathan zusammen bin, habe ich kaum noch Heimweh. Natürlich fehlen mir die Strände vom Ostmeer, der Anblick des Mondes über der nächtlichen See und die Rufe der Möwen, "sie zögerte, schüttelte aber dann den Kopf," Verzeih, ich habe gar nicht gesagt wo es liegt. Meine Heimat heißt Gan Lurin und dort wohnt das Volk der Hwenti. Was genau das bedeutet kann ich gar nicht übersetzen. Alles begann damit, dass viel weiter nördlich von Gan Lurin die ersten Elben erwachten; viele von ihnen begannen eine große Wanderung nach Westen. Einige schlossen sich der Wanderung nicht an und blieben dort oder zogen weiter umher, diese Elben werden meist Avari genannt. Meine Großmutter ist sogar eine der Ersten der Avari.", sie machte eine Pause um die Gedanken zu ordnen. Es war lange her, dass sie jemanden die Geschichte erzählt hatte. "Nun, die Elben, die dort blieben hatten nie Kontakt mit dem Rest von Mittelerde, deswegen klingt mein Elbisch so anders, es ist eine Abwandlung des Ur-Elbisch. Wir nennen unserer Sprache Hwenti Aber ich möchte dich nicht mit alten Geschichte langweilen, " lachte Halarîn und kam direkt zum Punkt, " Dort ist es sehr warm, die Elben dort leben in mehreren großen Siedlungen, die aber weit verstreut liegen. Es gibt viele Einsiedler und ständige Wanderer. Ich bin an einem kleinen Dorf nahe der Küste aufgewachsen, um das Dorf herum gibt es riesige Wälder und wenige Menschen, sie trauen sich nicht soweit in den Osten, " sie seufzte leise und strich sie die Haare zurück, "damals bin ich oft mit meiner Großmutter am Strand gewesen, sie ist unglaublich weise und bildhübsch. Sie hat mir immer Ratschläge gegeben und mich auf meinen Weg gleitet. Sie ist es, die ich am meisten vermisse. Sie hat mir auch die Heilkünste beigebracht und sie war es, die mich am meisten positiv beeinflusst hat."
Eine einzelne Träne rollte an ihrer Wange herab und sie wischte sie schnell fort. Halarîn wusste, dass sie einige Dinge ausgelassen hatte, aber sie wollte Kerry nicht mit Informationen überfallen. Die schlechten Dinge ließ sie absichtlich weg und dachte an die beinahe weißen Strände, das dunkelblaue Meer und die blendende Sonne. Viele gute Erinnerungen, die sie ihre Heimat wieder vermissen ließ.
Übersetzungen:
*Kerrime = Kerrys Name falsch bzw schlampig übersetzt ins Quenya mit Avari-Akzent.
*"Trink, es wird gut für dich sein. Trink, Adrienne"
*Shhh, schlaf. Schlaf. [...] Es ist (okay/gut), jetzt trink."
*Das machst du gut."
Höre meiner Stimme, fange sie wie das Licht
Die Zeit zu schlafen ist noch nicht jetzt
Die Kraft der Sterne leitet dich
Ich bin Amandis. Ich bin gekommen um dir zu helfen. Höre meine Stimme. Komm zurück ins Licht