Mablung und Kerry aus der StadtAm späten Nachmittag erreichten die beiden die Rüstkammer. Drinnen fand Kerry die Waldläuferin Mírlinn vor, die gemeinsam mit Finnabair nach Fornost gekommen war.
"Ich habe eine Frage," sagte sie geradeheraus und setzte sich gegenüber von Mírlinn an den Tisch.
Die Dúnadan blickte sie freundlich an. "Was willst du wissen, Rohíril?"
"Rothaar. Was stimmt nicht mit ihr? Sie hatte vorhin einen ziemlich heftigen Zornesausbruch," erzählte Kerry. "Sie sagte, sie würde ins Land der Schatten gehen. Was steckt da dahinter?"
Mírlinn blickte sie verwundert an. "Darüber weiß ich nichts. Ich kenne Finnabair nur flüchtig. Ich verstehe nicht, wieso sie nach Mordor gehen will."
"Aber ich verstehe es," sagte eine raue Stimme hinter ihr. Es war Belen. "Denn ich bin dort gewesen."
Kerry blickte den Anführer des Sternenbundes fragend an. Dieser setzte sich langsam neben sie auf die hölzerne Bank und seufzte leise.
"In der entscheidenden Schlacht am Morannon kämpften wir - die Graue Schar, dreißig Dúnedain, unsere besten Krieger - mit Aragorn, unserem Stammesführer. Viele starben einen heldenhaften Tod, doch einige wenige von uns ergriff man lebendig. Darunter waren auch mein Vetter Halmir und ich. Viele dunkle Tage verbrachten wir in den Kerkern der Türme der Zähne und mussten endlose Folter über uns ergehen lassen. Als sich die Gelegenheit zur Flucht bot ergriffen wir sie beim Schopf. Zu zweit flüchteten wir über die verfluchten Ebenen vor dem Schwarzen Tor, doch wurde unser Entkommen bald entdeckt. Um mir die Flucht zu ermöglichen, stellte sich Halmir unseren Verfolgern. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist."
"Was hat das alles mit Finnabair zu tun?" fragte Kerry leise obwohl sie bereits eine Ahnung hatte wohin Belens Erklärung führen würde.
"Sie ist Halmirs Verlobte," antwortete er. "Er rettete sie eins vor zwei wilden Wargen, die sie in den Wäldern Rhudaurs überfielen. Und er gewann ihr Herz und ihre Liebe. Seitdem steht sie treu zu unserer Sache weil auch ich treu zu
ihrer stehe: Wir werden Halmir retten. Wenn die Zeit gekommen ist werden wir ihn aus den Schatten Mordors befreien."
Kerry war nun klar, wovon Finnabair gesprochen hatte.
Die Bestien und das Schattenland. Natürlich.Am späten Abend kehrte Rilmir zurück, doch mochte er nicht erzählen, wer der geheimnisvolle Fremde gewesen war, den er am Marktplatz getroffen hatte. Kerry nahm es ihm nicht übel.
Jeder von uns hat wohl seine Geheimnisse. Vielleicht werde ich schon bald auch so erfahren, mit wem er dort gesprochen hat. Sie nahm sich vor, ihre Gefühle genau zu prüfen und sicherzugehen, dass sie den Dúnadan wirklich liebte. Finnabairs Worte hatten Wirkung hinterlassen.
Kerry saß noch bis spät in die Nacht auf dem Dach, tief in Gedanken versunken. Die Beine über der Kante des flachen Daches baumeln lassend beobachtete sie mit abwesendem Blick die wachsende Dunkelheit über Fornost und sah zu, wie die Lichter der Fackeln und Laternen nach und nach verlöschten. Ihre Gedanken waren bei den Ereignissen des Tages und bei Rilmir, doch sie bemerkte auch, wie die ständige Aktivität der Stadt langsam nachließ. Am großen Tor jedoch, das von ihrer Position aus gut sichtbar war obwohl es beinahe am anderen Ende der Stadt lag, wurden die Fackeln nicht gelöscht. Die Wachen der Weißen Hand dort blieben aufmerksam auf ihrem Posten.
Verträumt spielte sie mit der Spitze ihres Zopfes, der ihr über die rechte Schulter fiel.
Wie stellt man fest, ob ein Gefühl echt ist? Wie kann ich herausfinden, wie wieviel ich für den Dúnadan empfinde?Sie stellte sich vor, dass Rilmir in einer Festung des Bösen gefangen läge und keine Hoffnung auf Flucht für ihn bestünde.
Würde ich losziehen um ihn zu retten, um jeden Preis? Würde ich alles aufgeben und vielleicht bei dem Versuch sterben? Sie wusste es nicht.
Ich bin keine Kämpferin. Ich kann nicht einmal ein Schwert anständig halten. Sogar Pippin ist gefährlicher als ich.Als sie an den Hobbit dachte stahl sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.
Wie es ihm und Merry wohl geht? Ich hoffe, sie haben keine Probleme damit, den Rest von Sarumans Strolchen aus dem Auenland zu werfen. Ihre Meinung über Hobbits hatte sich seit ihren Reisen durch das Auenland deutlich geändert und sie wusste nun, dass man die gutmütigen Halblinge nicht unterschätzen durfte.
Merry und Pippin sind so mutig und entschlossen, dachte sie.
Und ich bin nur ein dummes, verliebtes Mädchen in einer Stadt voller Gefahren. Rothaar hat recht. Ich sollte nicht hier sein.Fornost kam ihr mit einem Mal groß und uneinladend vor.
Was mache ich hier überhaupt noch, dachte sie.
Ich kann dem Sternenbund nicht helfen. Ich bin wegen dem Dúnadan mitgekommen und jetzt komme ich mir wirklich wie ein Kätzchen vor, das ihm nur nachläuft wohin er auch geht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und mit einem Mal war ihr alles zuviel - Traurigkeit stieg in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu. Schluchzend saß sie dort auf dem Dach und ließ den Tränen freien Lauf.
Mehrere Minuten später begann sie langsam, sich wieder etwas zu beruhigen. Ein Bild ihrer Mutter erschien unvermittelt vor ihrem inneren Auge, wie sie vor dem kleinen Haus in Hochborn auf einer Bank saß und die Sommersonne genoss.
Es war eine unschuldigere Zeit gewesen, eine sorgenfreie Zeit. Vor dem Krieg. Bevor die Schatten Hochborn erreicht hatten.
Kerry zwang sich, ihre Vergangenheit auszublenden, doch in die entstandene Lücke drangen wieder Finnabairs Worte.
"Du Heuchlerin! Was verstehst du schon von Liebe..."Kerry wusste, dass die heißblütige Rhudaurerin recht hatte. Doch wusste sie nicht, wie sie damit umzugehen hatte.
Sie seufzte tief und stand mit einem Ruck auf. Es musste bereits Mitternacht sein. Ein kalter Windstoß ließ sie erzittern und sie eilte die Treppe der Rüstkammer hinunter um ins Warme zu gelangen.
Überrascht stellte sie fest, dass noch drei Gestalten wach waren: Belen, Gandalf und ein ihr unbekannter Mann saßen zu dritt an einem der Tische und unterhielten sich leise. Sie blieb im Türrahmen stehen und beobachtete die Gruppe einen Moment lang.
Ist das der geheimnisvolle Mann, den Rilmir heute getroffen hat? Der Waldläufer trug jedoch keine Kapuze. Seine Haare waren schwarz und seine Augen von dunklem Blau.
Gandalf sah auf und kam zu ihr herüber. "Du solltest dich schlafen legen, Kerry," sagte er leise. "Die Gedanken, die dir durch den Kopf schwirren, sind auch morgen noch da."
Kerry ging nicht darauf ein. "Wer ist der Neue?" fragte sie und deutete auf den Waldläufer neben Belen.
"Ein Dúnadan aus Belens Sippe," erklärte Gandalf. "Sein Vetter, um genau zu sein. Elrond hat ihn und acht weitere Dúnedain zu unserer Unterstützung hierher geschickt."
"Können wir ihm vertrauen?" wollte sie wissen.
"Belen tut es," antwortete Gandalf. "Er sagt, Ardóneth ist ein erfahrener Krieger. Wir können die Hilfe gut gebrauchen."
Kerry seufzte erneut und senkte den Blick. "Gandalf, ich..."
Der Zauberer hob die Hand und ließ sie verstummen. "Deine Blicke verraten dich," sagte er sanft. "Ich habe gehört, was zwischen dir und Finnabair vorgefallen ist. Denk' jetzt nicht weiter daran. Die Sache wird Zeit brauchen, mein Mädchen. Und du brauchst jetzt Schlaf."
Sie wollte widersprechen doch Gandalf blickte sie unter seinen buschigen Brauen scharf an. Ihre Antwort blieb Kerry im Hals stecken. Also nickte sie nur und ergriff Gandalfs Hand.
"Danke," hauchte sie leise.
So blieben sie einen Moment stehen, dann ließ sie den Zauberer los. Kerry warf einen letzten Blick auf Belen und den Waldläufer namens Ardóneth. Sie bezweifelte, dass sie sich diesen Namen würde merken können.
Dann ging sie zu Bett im Schlafraum der weiblichen Mitglieder des Sternenbundes. Der Schlaf kam gnädigerweise sehr schnell über sie.
Am nächsten Tag war Kerry auf der Suche nach Rilmir, den sie schon den Vormittag über nicht gesehen hatte.
Wo steckt er bloß? fragte sie sich, nachdem sie überall innerhalb der Rüsthalle nachgesehen hatte.
"Hast du den Dúnadan gesehen?" fragte sie Mírlinn, die gerade von einem Auftrag am Haupttor der Stadt zurückkehrte.
"Wen?" antwortete die Waldläuferin verwirrt. "Hier sind viele Dúnedain, Kerry."
"Na den Dúnadan. Du weißt schon." gab Kerry ungeduldig zurück.
"Oh, den Dúnadan," sagte Mírlinn gedehnt. "Das ist sehr aufschlussreich."
"Sie meint Rilmir," äußerte sich Finnabair, die an einer der großen Säulen im Hauptraum der Rüsthalle lehnte und ein finsteres Gesicht machte. "Ihr Gedächtnis für Namen ist schlimmer als ein Sieb."
Kerry versuchte, sich nicht ärgern zu lassen. Sie hatte keine Lust auf eine weitere Ohrfeige. "Weißt du, wo er ist?" fragte sie in Mírlinns Richtung.
"Er sagte, er hat beim Palast etwas zu erledigen. Ganz im Norden der Stadt. Das ist der Teil, in dem sich noch keiner von uns richtig umgesehen hat. Wir wissen nicht, wie die Lage dort ist."
"Ich gehe ihn suchen," verkündete Kerry und setzte sich in Bewegung.
"Natürlich tust du das," klang ihr Finnabairs Stimme nach als sie nach draußen trat.
Mírlinn war ihr gefolgt. "Du solltest nicht alleine unterwegs sein," sagte die Dúnadan leise. "Keiner von uns sollte das. Zwar führen einige von uns während wir hier sprechen einen Schlag gegen die Orks in der Stadt, doch das heißt nicht, dass es für uns in Fornost schon sicher ist. Zu viele Diener Sarumans treiben sich noch herum, und wir haben keine Ahnung, wie es im Palastbezirk aussieht."
"Dann komm' mit," sagte Kerry, die ganz froh war, die Kriegerin dabei zu haben.
Mírlinn und Kerry auf die Straßen Fornosts