Valion, Valirë und Minûlîth von den Straßen UmbarsDie Zwillinge staunten nicht schlecht als sie Minûlîth durch das weitläufige Anwesen folgten. Überall sahen sie Diener, die hin und her eilten und denen ihre Herrin nebenbei Befehle zurief. Obwohl es draußen inzwischen dunkel geworden war war das Innere des Anwesens von den unterschiedlichsten Lampen erhellt und war äußerst prunkvoll eingerichtet. Es war offensichtlich, dass Minûlîth eine Dame von hohem Ansehen und Wohlstand war. Selbst der große Fürstenpalast von Dol Amroth konnte nach Valions Meinung nur gerade eben so mit dem Anwesen von Haus Minluzîr mithalten. Die Herrin des Hauses führte sie in einen der kleineren Speisesäle und befahl den Dienern, das Abendessen vorzubereiten.
"Gewiss habt ihr Hunger," sagte sie geradezu fröhlich. "Stärkt euch und lasst es euch schmecken. Wir unterhalten uns hinterher."
Das ließen sich Valion und Valirë, die noch keine einzige richtige Mahlzeit seit ihrer Ankunft in Umbar gehabt hatten nicht zweimal sagen. Es wurde reichlich aufgetragen und es gab alles, was das Herz begehrte: Braten, Fisch, Früchte, helles Brot und edlen Wein, und viel mehr, zu viel um es alles aufzuzählen. Beinahe eine ganze Stunde lang aßen sie, während Minûlîth nur wenige Bissen zu sich nahm. Offenbar aß sie nur aus Höflichkeit und hatte ihr richtiges Abendessen bereits gehabt.
"Also," ergriff die Hausherrin das Wort nachdem die Diener den Tisch abgedeckt hatten und ihm nahen Kamin ein wärmendes Feuer entfacht worden war. "Sicherlich fragt ihr beiden euch, wo ihr hier nur hineingeraten seid. Ich will es euch gerne erklären. Werft am besten zunächst einen Blick auf die Abbildung hinter mir." Sie deutete auf einen großen Wandteppich, der hinter ihr hing und auf dem ein hochgewachsener Mann zu sehen war, der am Steuer eines großen Schiffes mit schwarzen Segeln stand.
"Dies ist mein Vorfahr, Minluzîr der Entdecker, der ein großer Seefahrer war. Er entstammte einen alten númenorischen Haus, dem Haus Balákar, doch sein älterer Bruder Belzagar erbte Titel und Wohnsitz seiner Vorfahren. Minluzîr machte sich daher einen Namen als Kapitän der
Aglarbalak und als einer der größten Entdecker und Seefahrer des Dritten Zeitalters. Als seine Verwandten nach Aglarêth zogen blieb Minluzîr in Umbar und gründete sein eigenes Haus. Auf seinen Reisen fand er unzählige Schätze und begründete den Reichtum, in dem ich heute das Privileg habe, zu leben. Doch meine Schwester und ich sind die letzten unserer Linie, denn mein Vater starb ohne männlichen Erben, weshalb das Anwesen nun mir gehört."
Valirë hatte ihre Beine auf den Tisch hochgelegt. "Praktisch, so viel Geld zu haben," meinte sie breit lächelnd und erntete einen missbilligenden Blick von Minûlîth.
"Meine Familie gehörte schon vor der Ankunft der Korsaren zum Hochadel Umbars und hat nie großen Hass für Gondor empfunden," fuhr Minûlîth fort. "Wir haben daher auch immer die eher gemäßigte Politik von Haus Erundur unterstützt, der nach dem Ende der Linie Castamírs den Fürstenstuhl bestieg und an seine Nachkommen vererbte. Doch als Fürst Nostoher vor sieben Jahren ohne Sohn verstarb riss sein Schwiegersohn, Hasael, den Titel an sich, und er ließ sofort alle Zeichen auf Krieg mit Gondor setzen. In meinen Augen ist er kein wahrer Fürst Umbars sondern unrechtmäßig an diese Macht gekommen. Arannis, Nostohers Tochter und sein einziges Kind, ist eine gute Freundin von mir, und wurde gegen ihren Willen mit Hasael verheiratet. Nach allem, was man hört, behandelt er sie nicht gut - sie darf nicht einmal den Palast verlassen..."
"Das ist ja alles sehr interessant," warf Valirë ein.
"Doch was hat das mit uns zu tun?" ergänzte Valion, der genau wusste was seine Schwester sagen wollte, es jedoch ein bisschen höflicher formulierte.
"Ihr plant offensichtlich Hasaels Sturz, gemeinsam mit Edrahil von Belfalas," sagte Minûlîth ohne eine Miene zu verziehen. Als sie sah, wie den Zwillingen die Gesichtszüge entglitten, schlich sich ein kleines Lächeln in ihre Mundwinkel. "Oh, bitte, nun tut nicht so überrascht. Dachtet ihr, euer kleiner Raubzug in der Taverne am Palast wäre unbemerkt geblieben? Einer meiner Diener hat euch gesehen, wie ihr den Rauschmeißer außer Gefecht gesetzt habt und ist euch nach drinnen gefolgt. Habt ihr den Schlüssel zur Bibliothek noch?"
Völlig überrumpelt zog Valion den Schlüssel hervor und zeigte ihn Minûlîth, die zufrieden nickte. "Behalte ihn. Gewiss habt ihr ihn im Auftrag Edrahils beschaffen sollen? Ah, er ist ein gerissener Mann, dieser Edrahil, doch selbst er kann sich nicht immer allen Augen entziehen. Als er vor einiger Zeit im Kerker Hasaels saß gelang es mir, einige wichtige Dinge über ihn herauszufinden."
"Was wisst Ihr?" stieß Valirë aufgeregt hervor.
"Oh, genug um zu wissen, dass ich ihn gewähren lassen sollte," sagte Minûlîth. "Wie ich bereits sagte liegt Hasaels Sturz sehr in meinem Interesse. Wenn Edrahil dafür sorgen kann, werde ich dem nicht im Weg stehen."
Die Hausherrin machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort: "Nun sagt, wie lange steht ihr schon in seinen Diensten? Weshalb kamt ihr nach Umbar?"
Valion überlegte einen Augenblick. Vielleicht wusste diese Frau etwas über Lothíriel und würde ihnen bei der Befreiung der Prinzessin behilfich sein, wenn er ihr Vertrauen gewinnen könnte? Also sagte er die Wahrheit. "Wir kamen heute frühmorgens auf dem Seeweg nach Umbar, im Auftrag Prinz Imrahils von Dol Amroth. Seine Tochter Lothíriel wurde vor zwei Wochen hierher entführt. Habt Ihr vielleicht etwas darüber gehört?"
Doch Minûlîth schüttelte betroffen den Kopf. "Nein, so gerne ich euch helfen würde, doch leider ist mir darüber noch nichts zu Ohren gekommen. Doch würde es mich freuen, wenn ihr mir von eurer Seefahrt erzählen könntet, die euch von Dol Amroth so weit nach Süden getragen hat. Ich selbst bin oft zu Schiff unterwegs gewesen und kenne die Gewässer nahe Umbars gut, denn das Schiff meines Vorfahren, die
Aglarbalak, ist noch immer erhalten und befindet sich in meinem Besitz. Im Moment jedoch habe ich sie an... einen guten Freund verliehen."
Und so erzählte Valion von ihrem Aufbruch aus Dol Amroth und der Durchquerung der Flaute in der Bucht von Belfalas. Als er davon sprach, wie sie die Insel Tol Thelyn gesichtet hatten, schien es ihm als würde Minûlîths Interesse um ein Vielfaches zunehmen.
"Wir sahen uns auf der Insel um, doch wir fanden nur Zerstörung vor. Gerade als wir umkehren wollten trafen wir jedoch einen Mann namens Thorongil vom Turm, der - "
"Thorongil! Ihr seid ihm begegnet?" rief Minûlîth überrascht aus.
"Ja - kennt Ihr ihn?" fragte Valirë neugierig.
Minûlîth blieb für einen Augenblick still und man sah ihr an, dass ihre Gedanken rasten. "Er ist also nach all den Jahren auf die Insel zurückgekehrt. Dafür also wollte er die
Aglarbalak so dringend ausleihen! Aber weshalb hat er mir das nicht erzählt?" sagte sie mehr zu sich selbst als in den Raum hinein. Als sie kurz darauf die verwunderten Blicke der Zwillinge bemerkte, räusperte sie sich und auf ihren Wangen zeigte sich eine untypische Röte.
"Ich kenne Thorongil, das ist wahr," sagte sie. "Wie ihr wisst ist er der Erbe Hadors vom Turm, doch nach einem Streit verließ er Tol Thelyn für immer. Er legte die Namen Thorongil und Beorn ab und nannte sich Tayyad, und als Tayyad stellte er sich mir bei unserem ersten Treffen vor. Doch je mehr wir uns kennen - und lieben - lernten, desto mehr offenbarte er mir seine wahre Identität. Und aus Liebe unterstützte ich seine Wanderungen und Fahrten mit dem Wohlstand meiner Familie, sodass er nicht auf die Spione und Unterstützung seines Vaters angewiesen war, mit dem er nichts mehr zu tun haben wollte. Doch im Frühling diesen Jahres hörten wir ein Gerücht, dass Suladan die Insel angegriffen haben soll. Und nun ist Thorongil also wirklich dorthin zurückgekehrt..."
"Er sagte, er will von seinem Volk retten, was noch davon übrig ist," sagte Valion.
"Jetzt da sein Vater tot ist ist er der rechtmäßige Turmherr," murmelte Minûlîth. "Er übernimmt also nun diese Verantwortung. Würde ich mir nicht so große Sorgen um ihn machen, wäre ich gerade sehr stolz auf ihn."
"Es ging ihm gut als wir die Insel verließen," warf Valirë ein. "Und er machte auf mich den Eindruck als wäre er jemand, der auf sich aufpassen kann."
Minûlîth nickte, scheinbar für den Augenblick beschwichtigt. "Danke, dass ihr diese wichtigen Informationen mit mir geteilt habt. Ich hätte euch dank unseres gemeinsamen Interesses am Sturz Hasaels sowieso geholfen, doch nun bin ich um so mehr davon überzeugt, dass ihr beiden das Herz am rechten Fleck tragt. Also werde ich euch auch dabei helfen, aus dem Gedächtnis der Stadtwache zu verschwinden. Ihr werdet für zwei Tage untertauchen und in dieser Zeit werde ich meine Diener zum Kommandanten der Stadtwache entsenden und ihn davon überzeugen, euch freie Hand in Umbar zu lassen. Edrahil wird sich sicherlich Sorgen um euch machen - oder auch nicht, wer weiß - doch ich denke, er wird es überstehen wenn er zwei Tage nichts von euch hört."
"Aber - " setzte Valion an.
"Keine Widerrede!" schnitt ihm Minûlîth das Wort ab. "Ihr werdet mir vertrauen müssen, wenn ihr jemals wieder auf die Straßen Umbars treten wollt ohne euch alle fünf Schritte nach Verfolgern umsehen zu müssen."
"Also gut, wir bleiben hier," sagte Valirë und nahm die Füße vom Tisch.
"Und als Erstes werdet ihr euch den Schmutz der Straße abwaschen gehen," befahl die Hausherrin in strengem Ton. "Waschzuber mit heißen Wasser stehen nebenan schon bereit und ich werde euch frische Kleidung bringen lassen."
Sie stand auf und klatschte zweimal. Eine Dienerin eilte herein und löschte das Feuer im Kamin. Dann verließ Minûlîth den Raum und ließ die Zwillinge stehen.
Zwei weitere Bedienstete griffen Valion und Valirë an den Armen und bugsierten sie in separate Badezimmer. Valion konnte durch die dünne Wand den Protest seiner Schwester hören, doch er selbst genoss das heiße Bad. Eine Stunde verbrachte er in dem wohltuenden Becken bis er schließlich die für ihn bereitgelegte Kleidung - eine Hose und ein einfacher Wappenrock in Silber und Rot - anzog und in den Raum zurückkehrte, in dem sie zuvor gegessen hatten. Dort fand er Valirë vor, die ihm einen leidenden Blick zuwarf. Er musste lachen, denn seine Schwester sah sogar noch mehr herausgeputzt als bei ihrer eigenen Verlobung aus: Die Haare waren zu einer komplizierten Hochsteckfrisur aufgetürmt und das rote Kleid das sie trug war geradezu einer Königin würdig. Valirës Augen verengten sich zu Schlitzen als sie das Grinsen im Gesicht ihres Bruders sah, doch sie sagte nichts. Erst jetzt bemerkte er die zweite Frau, die auf einem großen Sessel in der Nähe des nun wieder brennenden Kaminfeuers saß. Erst dachte er, es wäre Minûlîth, doch dann fiel ihm auf, dass sie einige Jahre jünger war, ungefähr in seinem eigenen Alter.
"Dies also sind die Zwillinge vom Ethir", grüßte sie lächelnd. "Ich bin Minûlîths Schwester, Lóminîth. Schön, euch kennenzulernen!"
Valion fühlte sich seltsam. Er hatte schon viele Frauen geliebt oder geglaubt sie zu lieben, doch diesmal fühlte es sich anders an. Er bemerkte mit einem Mal, dass er Lóminîth offen anstarrte. Valirë gab ihm einen heftigen Schubs und er blickte entschuldigend zu Boden. Doch bevor jemand etwas sagen konnte ging die Tür auf und ein Junge von ungefähr acht Jahren kam hereingerannt. Er baute sich vor Lóminîth auf und blickte sie kritisch an.
"Du bist zu spät, Tante!" sagte der Junge.
"Túor, es sind Gäste hier," erwiderte Lóminîth.
"Die, die meinen Vater getroffen haben?" strahlte Túor. "Was hat er gemacht? Ist er wirklich auf die Insel seiner Vorfahren zurückgekehrt? Sah er mutig aus? Bestimmt!"
Valion blinzelte. "Moment mal - du bist doch nicht etwa der Sohn von Tho -"
Lóminîth unterbrach ihn als sie Túor streng anblickte und sagte: "Hast du etwa wieder gelauscht, Tuór? Wir hatten doch darüber geredet. Deine Mutter hat viele Geheimnisse, und sie teilt sie erst mit dir, wenn du bereit bist!"
Túro grinste und war offenbar äußerst zufrieden mit sich selbst. "Wenn du mich bestrafen willst, wirst du mich erstmal erwischen müssen!" Damit rannte er davon. Lóminîth winkte einem Diener zu, der sogleich die Verfolgung aufnahm. Dann wandte sie sich wieder an die Zwillinge.
"Er hätte nicht lauschen dürfen. Thorongil weiß nichts von seinem Sohn. Warum sie ihm nicht davon erzählt hat weiß ich nicht - in die Angelegenheiten meiner Schwester mische ich mich nicht gerne ein."
"Also, das war interessant," sagte Valirë. Sie machte einen Schritt vorwärts und stolperte über den Saum ihres Kleides. Als Valion Lóminîths helles Lachen hörte war es ihm als hörte er die silbernen Glocken von Dol Amroth schlagen, ein Klang, der ihn in Erstaunen versetzte.
Das ist... neu, dachte er.
Darüber muss ich nachdenken. Er fürchtete, dass er und seine Schwester in eine kompliziertere Situation geraten waren als sie ahnten...